VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 08.10.2020 - 7 K 438/20.TR - asyl.net: M28921
https://www.asyl.net/rsdb/M28921
Leitsatz:

Keine Ablehnung als unzulässig bei fehlender Übernahmebereitschaft des ersuchten Mitgliedstaats:

1. Ein Asylantrag kann nicht als unzulässig abgelehnt werden, wenn der ursprünglich zuständige Mitgliedstaat sich wegen des Ablaufs der Überstellungsfrist im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie weigert, die betroffene Person noch aufzunehmen.

2. In diesem Fall reicht es nicht aus, nur die Abschiebungsanordnung aufzuheben, da sonst zu keinem Zeitpunkt eine inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens erfolgen würde.

3. In einer solchen Konstellation ist das in Art. 17 der Dublin III-VO vorgesehene Ermessen des ersuchenden Mitgliedstaats bei der Entscheidung über den Selbsteintritt auf Null reduziert.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Zweitantrag, Dublinverfahren, Überstellungsfrist, Zuständigkeit, Ermessensreduzierung auf Null, Selbsteintritt, Zulässigkeit, Corona-Virus, Abschiebungsanordnung, Aussetzung der Vollziehung, Italien,
Normen: VO 604/2013 Art. 17, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

In vorliegendem Einzelfall ist jedoch eine Ermessensreduzierung auf Null des in Art. 17 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung der Bundesrepublik Deutschland eingeräumten Ermessens anzunehmen. Nach Art. 17 Abs. 1 Unterabsatz 1 der Dublin III-Verordnung kann jeder Mitgliedstaat abweichend von Art. 3 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in der Dublin III-Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der übernehmende Mitgliedsstaat wird dann nach Art. 17 Abs. 1 Unterabsatz 2 S. 1 der Dublin III-Verordnung zum zuständigen Mitgliedstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen.

Die Kläger können sich im Hauptsacheverfahren auch auf ein subjektives Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung des Bundesamtes berufen (vgl. BayVGH, Urteil vom 3. Dezember 2015 - 13a B 15.50124 -, juris Rn. 22, 25). Die Ausübung der Befugnis des Art. 17 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung ist hierbei an keine besondere Bedingung geknüpft und soll den Mitgliedstaaten ermöglichen, sich aus politischen, humanitären oder praktischen Erwägungen bereit zu erklären, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn sie hierfür nach den in der Dublin III-Verordnung definierten Kriterien nicht zuständig sind. Angesichts des Umfangs des den Mitgliedstaaten auf diese Weise gewährten Ermessens ist es Sache des betreffenden Mitgliedstaates, die Umstände zu bestimmen, unter denen von der Befugnis Gebrauch gemacht werden soll. Den Mitgliedstaaten wird durch diese fakultative Bestimmung ein sehr weites Ermessen eingeräumt. Damit soll unter anderem das Ziel erreicht werden, die Prärogative des Mitgliedstaates bei der Ausübung des Rechts auf Gewährung internationalen Schutzes zu wahren (vgl. EuGH, Urteil vom 23. Januar 2019 - C-661/17 -, juris Rn. 58 ff. m.w.N.).

Das Ermessen verdichtet sich dann zu einer Pflicht zum Selbsteintritt, wenn jede andere Entscheidung unvertretbar wäre. Dies liegt etwa dann vor, wenn im Falle der Überstellung eine in den persönlichen Umständen des Betroffenen wurzelnde Grundrechtsverletzung gegeben wäre (vgl. BayVGH, a.a.O., juris Rn. 22 m.w.N.). Ein solcher Einzelfall liegt in vorliegendem Verfahren begründet. Die Kammer hat die Beteiligten darauf hingewiesen, aus diversen anderen Asylklageverfahren zum Dublin-Zielstaat Italien Erkenntnisse dazu zu haben, dass Italien die Aussetzungsentscheidung des Bundesamtes nicht anerkennt und Überstellungen nur innerhalb der ursprünglichen Überstellungsfrist akzeptiert. Diese ist in vorliegendem Fall indes abgelaufen. Damit fehlt es an der Übernahmebereitschaft Italiens, mithin an der tatsächlichen Möglichkeit zur Durchführung der Überstellung. Dies führt an sich bereits zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung.

Darüber hinaus ist nach den vorliegenden Einzelfallumständen jedoch auch der weite Ermessensspielraum bezüglich eines Selbsteintrittsrechts der Bundesrepublik Deutschland auf Null reduziert. Denn wenn nur die Abschiebungsanordnung der Aufhebung unterläge, entstünde die Situation, dass die Kläger nicht mehr nach Italien überstellt werden könnten und Italien ihre Asylanträge selbst im Falle einer freiwilligen Ausreise dorthin unter Verweis auf die von Italien angenommene Unzuständigkeit, die sie auf den dort vertretenen Ablauf der Überstellungsfrist stützen, nicht überprüfen würde. Deutschland wiederum würde in Folge der Bestandskraft der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 ebenfalls keine materielle Prüfung der Asylanträge der Kläger durchführen. Hierdurch entstünde die Situation von "refugees in orbit", in der sich kein Mitgliedstaat für die sachliche Prüfung der Asylanträge als zuständig ansieht. Diese würde indes dem zentralen Anliegen des Dublin-Regimes zuwiderlaufen, einen effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden (Erwägungsgrund 5 der Dublin III-Verordnung; vgl. BVerwG, Urteil vom 9. August 2016 - 1 C 6.16 -, BVerwGE 156, 9-19, Rn. 23; zuletzt: BVerwG, Urteil vom 23. Juni 2020 - 1 C 37.19 -, juris). [...]