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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 13.09.2020 - 2 BvR 2082/18 (Asylmagazin 1-2/2021, S. 42 f.) - asyl.net: M28929
https://www.asyl.net/rsdb/M28929
Leitsatz:

Mangelnde Aufklärung zu möglichem Schutzstatus in anderem EU-Staat Verstoß gegen Rechtsschutzgarantie:

1. Der einfachrechtlichen Sachaufklärungspflicht aus § 86 Abs. 1 VwGO kann bezogen auf Asylverfahren  verfassungsrechtliches Gewicht zukommen, wenn hinreichend substanziierte Behauptungen von Schutzsuchenden auf Umstände zielen, die für die Verwirklichung grundrechtlicher Gewährleistungen von Bedeutung sind.

2. In einer solchen Situation kann die fachgerichtliche Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen die aus Art. 19 Abs. 4 GG gebotene Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten Rechte nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht.

3. Im vorliegenden Verfahren hat das Verwaltungsgericht die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung verfehlt, da es die ausreichend substanziierte Behauptung der Beschwerdeführerin zum Vorliegen eines in Italien zuerkannten subsidiären Schutzstatus nicht ausreichend aufgeklärt hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebung, Zielstaat, internationaler Schutz in EU-Staat, Sachaufklärungspflicht, Verfassungsbeschwerde, Abschiebungsandrohung, effektiver Rechtsschutz, Rechtsweggarantie, Liaisonsbeamte, subsidiärer Schutz, Italien,
Normen: GG Art. 19 Abs. 4, VwGO § 86 Abs. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

1. Die Beschwerdeführer haben am 17. September 2018 gegen das Urteil vom 10. August 2018 Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie rügen eine Verletzung ihres Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

a) Das Urteil verstoße gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, weil sich das Verwaltungsgericht nicht mit den im Verfahren vorliegenden Anhaltspunkten für eine Schutzgewährung in Italien auseinandergesetzt habe. Die Beschwerdeführerin zu 1. habe sowohl beim Bundesamt als auch im Klageverfahren angegeben, in Italien subsidiären Schutz erhalten zu haben. In der mündlichen Verhandlung habe sie insbesondere zwei "Titol[i] di Viaggio per Stranieri" (= Reisetitel für Ausländer) für die Beschwerdeführer zu 2. und 3. sowie italienische Krankenversicherungskarten für sich und die Kinder vorgelegt; das Urteil des Verwaltungsgerichts verhalte sich zu diesen Umständen nicht.

Das Bundesverwaltungsgericht habe mit Urteil vom 21. November 2017 (1 C 39.16; juris) festgestellt, dass, wenn in einem Asylverfahren zweifelhaft sei, ob dem Schutzsuchenden bereits in einem anderen EU-Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden sei, das Gericht diesen Sachverhalt aufklären müsse, soweit die Zulässigkeit eines erneuten Schutzantrags von dieser Frage abhänge; dies gelte auch dann, wenn ein an den anderen EU-Mitgliedstaat gerichtetes Aufnahmeersuchen nach den Dublin-Vorschriften unbeantwortet geblieben sei. [...]

1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 10. August 2018 verstößt gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG; das Gericht hätte die Frage, ob den Beschwerdeführern zu 1. bis 3. in Italien bereits der subsidiäre Schutz zuerkannt worden ist, bei der gegebenen Sachlage weiter aufklären müssen.

a) Die Verfahrensgewährleistung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG beschränkt sich nicht auf die Einräumung der Möglichkeit, die Gerichte gegen Akte der öffentlichen Gewalt anzurufen; sie gibt dem Bürger darüber hinaus einen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes verlangt nicht nur, dass jeder potenziell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einer richterlichen Prüfung unterstellt werden kann; vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 67, 43 <58>; 84, 34 <49>; stRspr).

Die Anwendung des einfachen Rechts und die dazu erforderliche Aufklärung des Sachverhalts sind zwar grundsätzlich Sache der Fachgerichte. Diese unterliegen dabei jedoch einer Kontrolle, ob das Willkürverbot verletzt ist oder Fehler erkennbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; stRspr). Der einfachrechtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) kann – bezogen auf Asylverfahren – besonders dann verfassungsrechtliches Gewicht zukommen, wenn hinreichend substantiierte Behauptungen von Schutzsuchenden oder andere ins Verfahren eingeflossene Erkenntnisse auf Umstände zielen, die, ihr Vorliegen unterstellt, für die Verwirklichung hochrangiger grundrechtlicher Gewährleistungen von ausschlaggebender Bedeutung sind (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Juli 2018 - 2 BvR 714/18 -, Rn. 19 m.w.N., und vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 1380/19 -, Rn. 13 ff. m.w.N.). In einer solchen Situation kann die fachgerichtliche Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen die rechtsstaatlich gebotene Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten materiellen Rechte nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht (vgl. BVerfGE 101, 275 <294 f.>; stRspr).

b) Diesen Vorgaben wird das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 10. August 2018, auf dessen Grundlage die Beschwerdeführer nach Nigeria – und nicht nach Italien – abgeschoben werden sollen, nicht gerecht. Das Verwaltungsgericht hat die Entscheidung des Bundesamts, die Asylanträge der Beschwerdeführer als Erstanträge zu behandeln und eine materielle Asylentscheidung im Hinblick auf das Heimatland der Beschwerdeführer Nigeria zu treffen, als rechtmäßig bestätigt, ohne den entscheidungserheblichen Sachverhalt − die (Vor-) Frage, ob den Beschwerdeführern zu 1. bis 3. in Italien bereits der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) − hinreichend aufzuklären.

aa) Die italienische Liaisonbeamtin hat sich auf die Anfrage des Bundesamts, ob der Beschwerdeführerin zu 1. in Italien bereits der subsidiäre Schutz gewährt worden sei, lediglich "aufgrund der hohen Anzahl von Anfragen" für unzuständig erklärt. Weitere Erkenntnisquellen lagen dem Bundesamt nicht vor. Demgegenüber hat die Beschwerdeführerin zu 1. sowohl im behördlichen als auch im gerichtlichen Verfahren durchgehend angegeben, in Italien bereits subsidiären Schutz erhalten zu haben; dies hat sie getan, obwohl sie nach eigenen Angaben gar nicht nach Italien zurückkehren wollte und sich mit dieser Angabe folglich sogar schaden konnte. Die Beschwerdeführerin zu 1. hat im gerichtlichen Verfahren auch konkrete Anhaltspunkte dafür geliefert, dass ihr beziehungsweise ihren Kindern, den Beschwerdeführern zu 2. und 3., in Italien bereits der subsidiäre Schutz zuerkannt worden ist. [...]

Diese im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bestehende Erkenntnislage zu der Frage, ob den Beschwerdeführern zu 1. bis 3. in Italien bereits der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, ist auf der Grundlage des Beschwerdevortrags nachvollziehbar und für die Verwirklichung des Grundrechts der Beschwerdeführer aus Art. 2 Abs. 2 GG ausschlaggebend. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG bestimmt, dass ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. § 35 AsylG regelt, dass das Bundesamt dem Ausländer in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG die Abschiebung in den Staat androht, in dem er vor Verfolgung sicher war (hier: Italien). § 29 und § 35 AsylG gewähren dem Bundesamt kein Wahlrecht in Bezug auf die Unzulässigkeitsentscheidung: Liegen die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, hat das Bundesamt den Asylantrag des Ausländers als unzulässig abzulehnen und diesem die Abschiebung in den Staat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, anzudrohen (so auch BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 -, juris, Rn. 30). Eine Abschiebung in den Herkunftsstaat ist im Falle einer bereits erfolgten Schutzgewährung durch einen anderen Mitgliedstaat untersagt (vgl. Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 29 Rn. 102; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, § 29 Rn. 6, April 2017). [...]

bb) Bei dieser Ausgangssituation hat das Verwaltungsgericht die aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) erwachsenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung verfehlt und seine richterliche Überzeugung auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage gebildet. Es hätte weitere Nachforschungen zur Frage der Schutzgewährung  durch Italien anstellen müssen, sei es durch eine eigene Anfrage bei den italienischen Behörden – gegebenenfalls unter Einbindung des Auswärtigen Amtes –, sei es durch die Verpflichtung des Bundesamts zur Durchführung weiterer Ermittlungen. Dass ein solches Vorgehen zu keinem weiteren Erkenntnisgewinn geführt hätte, ist weder vom Verwaltungsgericht dargelegt noch sonst ersichtlich. [...]