VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 17.08.2020 - 6 K 686.17 A - asyl.net: M28934
https://www.asyl.net/rsdb/M28934
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Mann aus Pakistan; Verweis auf "diskreten Lebensstil" rechtsfehlerhaft:

1. Homosexuelle Männer bilden in Pakistan eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Homosexuelle Handlungen sind in Pakistan unter Strafe gestellt, und die Strafandrohung wird in Einzelfällen auch vollzogen. Zudem existieren zahlreiche Übergriffe nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG gegen Personen, die ihre Homosexualität offen leben.

2. Es besteht kein interner Schutz. Selbst wenn es Personen aus der oberen pakistanischen Mittelschicht möglich sein sollte, in Großstädten wie Lahore, Karachi oder Islamabad "diskret und unter dem Radar zu leben", kann von Betroffenen nicht verlangt werden, ihre sexuelle Orientierung lediglich in Kreisen auszuleben, die ihre sexuelle Orientierung teilen oder tolerieren.

3. Die Argumentation, bei einer "diskreten Lebensweise" seien homosexuelle Personen in Pakistan nicht bedroht, ist rechtsfehlerhaft und verstößt gegen Entscheidungen des BVerfG und des EuGH (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.01.2020 - 2 BvR 1807/19 - Asylmagazin 3/2020, S. 80 f. - asyl.net: M28078 und EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - C-199/12; C-200/12; C-201/12 X,Y,Z gegen Niederlande (Asylmagazin 12/2013) - asyl.net: M21260).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Pakistan, homosexuell, Strafbarkeit, Diskretion, interner Schutz, unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 3,
Auszüge:

[...]

22 b) Aufgrund seiner Homosexualität gehört er in Pakistan zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Strafrechtliche Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, erlauben die Feststellung, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013 – verb. Rs. C-199/12 bis C-201/12, juris Rn. 49). [...]

24 c) Der Kläger hat bei seiner Rückkehr nach Pakistan aufgrund seiner Homosexualität flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgungsmaßnahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. [...]

26 Dabei stellt der Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher keine Verfolgungshandlung dar. Dagegen ist eine Freiheitsstrafe, mit der homosexuelle Handlungen bedroht sind und die im Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird, als unverhältnismäßige oder bestrafende Bestrafung zu betrachten und stellt somit eine Verfolgungshandlung dar (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013, a.a.O., Rn. 61). [...]

29 aa) Die Erkenntnismittel enthalten Anhaltspunkte für Verfolgungsmaßnahmen seitens des pakistanischen Staates. Pakistan stellt homosexuelle Handlungen, wie dargelegt, unter Strafe. Dies ist nach der genannten Rechtsprechung des EuGH für eine Verfolgung nicht hinreichend. Die Strafandrohung für homosexuelle Handlungen in Pakistan wird indes in Einzelfällen durchaus vollzogen. [...]

34 bb) Die Erkenntnismittel belegen zudem vielfältige und häufige Übergriffe nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG gegen Personen, die ihre Homosexualität offen leben. [...]

39 cc) In Pakistan steht gegen diese Übergriffe kein wirksamer Schutz zur Verfügung (§ 3c Nr. 3 Halbsatz 2 AsylG). Die gesellschaftliche Diskriminierung und Gewalt gegen Homosexuelle wird durch das Verhalten vieler staatlicher Akteure sogar verstärkt, da etwa Polizeibeamte, wie dargelegt, das geltende Strafrecht für Übergriffe gegen Homosexuelle missbrauchen (vgl. Amnesty International, a.a.O., S. 2; Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 15). [...]

41 dd) Für verfolgte Homosexuelle gibt es in Pakistan keinen internen Schutz gegen Verfolgung im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG. [...]

42 Es ist unerheblich, dass es Personen aus der oberen pakistanischen Mittelschicht, den Eliten und den intellektuellen Kreisen mitunter möglich sein soll, in Großstädten wie Lahore, Karachi oder Islamabad innerhalb bestimmter Gruppierungen, die ihre sexuelle Orientierung teilen oder tolerieren, "diskret und unter dem Radar" zu leben (vgl. IRB, a.a.O. [13. Januar 2014], S. 4; SFH, a.a.O., S. 5). Es kann von Homosexuellen bereits nicht verlangt werden, dass sie ihre sexuelle Orientierung lediglich innerhalb solcher Gruppierungen ausleben (vgl. VG Freiburg [Breisgau], Urteil vom 5. Oktober 2017 – A 6 K 4389/16 –, juris Rn. 40; a.A. OVG Sachsen, Beschluss vom 24. September 2019 – 3 A 937/19.A –, juris Rn. 4 und 11). Darüber hinaus existiert in Pakistan keine sich öffentlich bekennende LGBTI-Community, so dass auch in den pakistanischen Großstädten niemand seine sexuelle Orientierung in der Öffentlichkeit ausleben kann, obgleich die Akzeptanz von LGBTI-Personen dort größer ist als in anderen Regionen Pakistans (vgl. IRB, a.a.O. [13. Januar 2014], S. 4; SFH, a.a.O., S. 5). Es genügt auch nicht, dass sich Betroffene von ihren Familien abwenden, da die Verfolgungshandlungen gegen Homosexuelle – wie gezeigt – nicht allein von den Familien ausgehen (a.A. VG München, a.a.O., Rn. 22 f.).

43 ee) Im Hinblick auf diese Erkenntnislage erkennen Teile der Rechtsprechung eine staatliche Verfolgung Homosexueller in Pakistan (vgl. VG Hannover, Urteil vom 14. November 2018 – 11 A 5244/17 –, juris Rn. 34; VG Trier, Urteil vom 23. November 2017 – 2 K 9945/16.TR –, juris Rn. 26; VG Potsdam, Urteil vom 21. März 2017 - VG 11 K 250/15.A -, S. 7 f.; ferner BVwG [Österreich], Entscheidung vom 2. Februar 2015 – L516 1429804-1 –, RIS Ziffer 3.13.2). Gegen eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgung in Gestalt einer diskriminierenden Bestrafung spricht die geringe Anzahl der berichteten Fälle strafrechtlicher Verurteilungen. Dies schließt auch die Annahme einer staatlichen Gruppenverfolgung aller homosexuellen Männer aus (vgl. VG Frankfurt [Oder], Urteil vom 4. Juni 2020 – 2 K 1297/16.A –, juris Rn. 29; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 8. Juli 2020 – 13 A 10174/20 –, juris Rn. 56 ff.).

44 Hinzu treten jedoch die weiteren Rechtsverletzungen seitens des Staats und verbreitete Übergriffe nichtstaatlicher Akteure gegen öffentlich erkennbare Homosexuelle, die über eine soziale Ächtung hinausgehen. Personen, die ihre Homosexualität erkennen lassen, sind in Pakistan häufig, schutzlos und landesweit schwerwiegenden Übergriffen mit Verfolgungsintensität ausgesetzt. In der Gesamtschau staatlicher und privater Übergriffe ist daher eine Verfolgung eines pakistanischen Staatsangehörigen, für den – abhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalls – seine offen gelebte Homosexualität identitätsprägend ist, in Pakistan beachtlich wahrscheinlich (vgl. VG Berlin, Urteil vom 28. Februar 2020 – VG 6 K 867.17 A –, UA S. 13 m.w.N.; VG Frankfurt [Oder], Urteil vom 4. Juni 2020 – 2 K 1297/16.A –, juris Rn. 31; Upper Tribunal, Immigration and Asylum Chamber [UK], Entscheidungen vom 30. September 2019 – UKUT 00353 –, Rn. 61; vom 2. September 2019 – PA/02981/2018 –, Rn. 132-136; vom 30. April 2019 – PA/10466/2018 –, Rn. 48, 57, 60-61; jeweils zitiert nach BAILII; a.A. VG München, a.a.O., Rn. 20 ff.; VG Cottbus, a.a.O., Rn. 32; VG Oldenburg, a.a.O., UA S. 4 f.).

45 Hiergegen führt die Beklagte keine anderen Erkenntnisse an und wendet auch keine individuellen Besonderheiten der Lebensweise des Klägers ein, die im Einzelfall gegen eine Verfolgungsgefahr sprechen könnten. Sie begründet ihre Entscheidung vielmehr im Wesentlichen mit der Erwägung, bei einer diskreten Lebensweise seien Homosexuelle in Pakistan nicht bedroht. Diese Argumentation ist rechtsfehlerhaft (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Januar 2020 – 2 BvR 1807/19 –, juris Rn. 19: "schlechthin unvertretbar"). Die Beklagte verkennt ihre unionsrechtliche Bindung an die Grundsatzentscheidung des EuGH, von einem Asylantragsteller dürfe nicht erwartet werden, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013, a.a.O., Rn. 76). [...]