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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 25.08.2020 - XIII ZB 101/19 - asyl.net: M28943
https://www.asyl.net/rsdb/M28943
Leitsatz:

Rechtswidrige Abschiebungshaft bei unzureichender Klärung der Minderjährigkeit:

"a) Kann nicht zuverlässig ausgeschlossen werden, dass der Betroffene minderjährig ist, darf Abschiebungshaft nur unter den Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 S. 3 AufenthG angeordnet werden.

b) Zweifel an der Volljährigkeit des Betroffenen werde nicht bereits dadurch begründet, dass dieser angibt, minderjährig zu sein. Ist diese Angabe aufgrund der Umstände und nach dem Erscheinungsbild des Betroffenen offenkundig falsch, sind weitere Ermittlungen zum Alter des Betroffenen nicht erforderlich. Liegt eine Volljährigkeit des Betroffenen hingegen nicht klar zutage, ist eine weitere Aufklärung erforderlich. Dabei hat sich der Tatrichter insbesondere auch mit von der eigenen Einschätzung fachkundiger Behörden auseinanderzusetzen. Urkundliche Nachweise sind daraufhin zu überprüfen, ob der beurkundete Sachverhalt und dessen Zuordnung zur Person des Betroffenen eindeutig sind."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, minderjährig, Äthiopien, unbegleitete Minderjährige, Sachaufklärungspflicht, Volljährigkeit, äthiopischer Kalender, Kalender,
Normen: AufenthG § 62 Abs. 1 S. 3, FamFG § 26,
Auszüge:

[...]

2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht einen Verstoß des Haftrichters und des Beschwerdegerichts gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 26 FamFG), weil sie keine ausreichenden Ermittlungen zur Frage der Minderjährigkeit der Betroffenen angestellt haben.

Bestehen Zweifel an der Volljährigkeit des Betroffenen, hat das Gericht gemäß § 26 FamFG den Sachverhalt aufzuklären.

Solche Zweifel werden allerdings nicht bereits dadurch begründet, dass der Betroffene angibt, minderjährig zu sein, oder nur ein Geburtsjahr nennt, aus dem sich auf seine Minderjährigkeit schließen lässt. Ist diese Angabe aufgrund der Umstände und nach dem Erscheinungsbild des Betroffenen offenkundig falsch - was von dem Haftrichter zu begründen ist -, sind weitere Ermittlungen zum Alter des Betroffenen nicht erforderlich (BGH, Beschluss vom 23. Juni 2020 - XIII ZB 33/19, juris Rn. 13). Liegt eine Volljährigkeit des Betroffenen hingegen nicht klar zutage, ist eine weitere Aufklärung erforderlich. Dafür sind die nach § 49 Abs. 3 i.V.m. Abs. 6 AufenthG vorgesehenen Maßnahmen zu ergreifen, wobei hohe Anforderungen an die Ausfüllung des Amtsermittlungsgrundsatzes zu stellen sind. Im Zweifel ist zugunsten des Betroffenen von seiner Minderjährigkeit auszugehen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 12. Februar 2015 - V ZB 185/14, InfAuslR 2015, 238 Rn. 7; Beschluss vom 10. August 2018 - V ZB 123/18, InfAuslR 2019, 26 Rn. 10).

b) Nach diesen Grundsätzen bestanden begründete Zweifel an der Volljährigkeit der Betroffenen zum maßgeblichen Zeitpunkt der Haftanordnung, die durch die Erwägungen des Beschwerdegerichts nicht ausgeräumt werden.

aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs reicht eine Einschätzung des Haftrichters, der Betroffene sei volljährig, in der Regel nicht aus, um ein sicheres Bild zu gewinnen, selbst wenn diese Einschätzung auf ein großes Erfahrungswissen gestützt ist (BGH, InfAuslR 2015, 238 Rn. 7; InfAuslR 2019, 26 Rn. 10). Diese Regel hätte hier umso mehr Gewicht, als das Jugendamt der beteiligten Behörde im April 2017 von der Minderjährigkeit der Betroffenen ausging und auch das Jugendamt Eichstätt nach einer Inaugenscheinnahme der Betroffenen am 7. Dezember 2018 ihre Minderjährigkeit nicht zweifelsfrei ausschließen konnte, sondern eine medizinische Alterseinschätzung befürwortete. Diese Einschätzung des Jugendamts Eichstätt war darauf gestützt, dass es sich bei der Betroffenen nach äußerem Erscheinungsbild und Gesichtshaut um eine zierliche, jugendlich wirkende Person mit einem schlanken, mädchenhaften Körperbau in einer pubertären Entwicklung handele; auch Interaktion und Kommunikation wirkten kindlich-jugendlich.

bb) Allerdings hat der Haftrichter in seinem Nichtabhilfebeschluss vom 21. Dezember 2018 ausgeführt, aufgrund der Anhörung der Betroffenen am 6. Dezember 2018 einen anderen Eindruck gewonnen zu haben. Die Betroffene habe sich nicht schüchtern, sondern sehr fordernd auf ihre angebliche Minderjährigkeit beharrend gezeigt. Ihre profunde Kenntnis der ausländerrechtlichen und gerichtlichen Verfahren passe nicht zu dem von ihr behaupteten Alter von 17 Jahren.

cc) Dies entband das Beschwerdegericht jedoch nicht von der Verpflichtung, das Alter der Betroffenen zu ermitteln. Bei der Bewertung der Ausführungen des Amtsgerichts hätte das Beschwerdegericht außer den abweichenden Beurteilungen durch fachkundige Mitarbeiter der Jugendämter berücksichtigen müssen, dass die Betroffene zum Zeitpunkt ihrer Anhörung durch das Amtsgericht bereits von zwei Rechtsanwälten vertreten worden ist und von diesen oder anderen Unterstützern Informationen zu den ausländerrechtlichen Verfahren erhalten haben konnte. Der Umstand, dass die Betroffene fordernd auf ihrer Minderjährigkeit beharrte, konnte sich auch daraus erklären, dass sie tatsächlich noch minderjährig war. Zudem konnte ein gegenüber in Deutschland lebenden jugendlichen Straftätern abweichendes, reiferes Auftreten der Betroffenen auch auf ihren Lebensumständen und Erfahrungen auf der Flucht sowie während der Inhaftierung beruhen.

c) Die danach an der Volljährigkeit der Betroffenen bestehenden Zweifel durfte das Beschwerdegericht nicht aufgrund der Aktenlage als entkräftet ansehen.[...]

dd) Das Beschwerdegericht hat es als entscheidend angesehen, dass die Betroffene von ihrem Heimatland unter den in ihrem Reisepass ersichtlichen Daten identifiziert werden konnte und deshalb von der äthiopischen Botschaft in Berlin am 5. Juli 2018 für sie ein Passersatzpapier mit den Personalien ... 1992, ausgestellt wurde. Das Beschwerdegericht verweist dazu auch auf ein Schreiben des Bayerischen Landesamts für Asyl und Rückführungen an die beteiligte Behörde vom 12. Oktober 2018, wonach die zuständige Stelle im äthiopischen Innenministerium die Identifizierung der Betroffenen anhand der Passnummer und des Fingerabdruckbogens bestätigt habe.

Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts konnte jedoch auch damit eine Volljährigkeit der Betroffenen nicht belegt werden. Ein Schreiben des äthiopischen Innenministeriums findet sich in den Akten nicht. Die darin befindliche Verbalnote des Außenministeriums lässt nicht erkennen, auf welcher Grundlage die Prüfung der Staatsangehörigkeit durchgeführt worden ist. Im Beschluss des Amtsgerichts heißt es, die Identitätsanfrage an das Außenministerium in Äthiopien sei anhand der ermittelten Reisepassnummer gestellt worden; von Lichtbildern oder Fingerabdrücken ist dort nicht die Rede. Die Verbalnote nimmt nur allgemein Bezug auf eine "Data Base", also offenbar eine Personendatenbank. Dass dabei ein Vergleich mit den der Betroffenen in Deutschland abgenommenen Fingerabdrücken vorgenommen worden ist, ist nicht ersichtlich. Ebenso wenig ist erkennbar, dass vom äthiopischen Außenministerium ein Lichtbildabgleich überhaupt und gerade mit aus Deutschland übersandten Lichtbildern durchgeführt worden ist. Das Beschwerdegericht hätte deshalb in Erwägung ziehen müssen, dass sich die äthiopischen Behörden darauf beschränkt haben könnten, zu überprüfen, ob eine Person mit den Personalien des in Kopie vorgelegten Reisepasses bei ihnen registriert ist.

e) Unter diesen Umständen wären eine weitere Aufklärung und Ermittlungen zum tatsächlichen Alter der Betroffenen geboten. [...]