VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 02.07.2020 - 6 K 2576/17.A - asyl.net: M28960
https://www.asyl.net/rsdb/M28960
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für jungen, gesunden Mann aus Afghanistan wegen Corona-Pandemie:

1. Auch aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie hat sich die humanitäre Lage in Afghanistan deutlich verschlechtert. Insbesondere ist eine Zunahme der Arbeitslosigkeit, eine Erhöhung der Lebenshaltungskosten und ein verstärktes Risiko der Obdachlosigkeit zu beobachten, während zugleich Unterstützungsprogramme für Rückkehrende ausfallen. 

2. Angesichts der prekären wirtschaftlichen Lage kann ohne nähere Anhaltspunkte nicht mehr davon ausgegangen werden, dass noch in Afghanistan lebende Familienangehörige bereit und dazu in der Lage sind, zurückkehrende Angehörige zu unterstützen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, humanitäre Gründe, Familienangehörige, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Arbeitslosigkeit, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Von einem entsprechend hohen Gefährdungsniveau ist im vorliegenden Einzelfall auszugehen. Unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation und der in seinem Heimatland herrschenden Lebensbedingungen müsste der Kläger befürchten, bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer Art. 3 EMRK widersprechenden unmenschlichen Behandlung ausgesetzt zu werden.

Bereits ungeachtet der Folgen der Corona-Pandemie ist festzustellen, dass Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt ist. [...]

Diese ohnehin schwierigen Lebensbedingungen haben sich nach dem Auftreten von Covid-19 in Afghanistan und seinen Nachbarstaaten weiter verschlechtert.

Nach dem Auftreten der ersten Fälle beschloss der afghanische Staat weitgehende Beschränkungen, wie etwa Ausgangsbeschränkungen, die am 2. Mai 2020 nochmals verlängert wurden. Die staatlichen Maßnahmen haben zu einem signifikanten Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt. Das Arbeitsministerium berichtet von zwei Millionen Menschen, die aufgrund der Covid-19-Pandemie arbeitslos geworden sind. Hinzu kommt, dass in Iran über 3,3 Millionen Menschen ihre Arbeitsstellen verloren haben, darunter eine hohe Zahl von Tagelöhnern, von denen wiederum sehr viele Afghanen sind. Für Afghanistan bedeutet dies zum einen, dass Überweisungen der Arbeitsmigranten ausfallen, welche für viele Familien die Lebensgrundlage bilden (vgl. Bundesamt, Briefing Notes vom 27. April 2020 und 29. Juni 2020; United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA), Afghanistan: Covid-19 Multi-Sectoral Response, 3. Juni 2020).

Zum anderen führte die Corona-Pandemie dazu, dass zwischen dem 1. Januar und dem 9. Mai 2020 etwa 278.100 Menschen aus dem Iran nach Afghanistan zurückkehrten (vgl. VG Cottbus, Urteil vom 29. Mai 2020 – 3 K 633/20.A –, Rn. 48, juris, mit weiteren Nachweisen).

Diese drängen im Wesentlichen auf den Tagelöhner-Arbeitsmarkt und stellen insoweit eine zusätzliche Konkurrenz für andere Rückkehrer dar (vgl. UNHCR, "COVID-19: Mehr Unterstützung für Afghanistan und seine Nachbarländer benötigt", www.unhcr.org/dach/de/42159-covid-19-mehr-unterstuetzung-fuerafghanistan-und-seine-nachbarlaender-benoetigt.html).

Rückkehrer aus dem Ausland stehen bei der Arbeitssuche zudem vor einer zusätzlichen besonderen Herausforderung, weil diese als vermeintlich Verantwortliche für die Gefahr durch das Corona-Virus stigmatisiert werden (vgl. Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankungen an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener, 27. März 2020, S. 2).

Dabei können sie nicht im bisherigen Umfang von Rückkehrprogrammen profitieren. So behindern die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus teilweise die Arbeit der Mitarbeiter der UN und von Nichtregierungsorganisationen (vgl. UNOCHA, Afghanistan: Covid-19 Multi-Sectoral Response,3. Juni 2020).

Die Nichtregierungsorganisation ACE, bei der Rückkehrer Unterstützungshilfen nach ERIN beantragen müssen, ist etwa seit dem 28. März 2020 geschlossen (vgl. Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARSCoV-2 und schweren Erkrankungen an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener. 27. März 2020, S. 3).

Zu der schwierigen Situation am Arbeitsmarkt kommt hinzu, dass die Lebenshaltungskosten teilweise deutlich gestiegen sind. Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) stellte Ende Mai einen Preisanstieg von etwa 15% Prozent für Mehl und 24% für Speiseöl in Afghanistan fest. Auch andere Grundnahrungsmittel wie Reis und Zucker sind teurer geworden. Durch die Folgen der Pandemie ist nach Berichten des WFP die Lebensmittelversorgung von mehr als 14 Millionen Menschen in Afghanistan gefährdet (vgl. Tagesschau: "Coronavirus in Afghanistan: Mit dem Virus droht der Hunger", 3. Mai 2020, www.tagesschau.de ausland/afghanistancoronavirus-101.html; WFP, Vulnerability Analysis and Mapping – Afghanistan, 27. Mai 2020; UNOCHA, Afghanistan: Covid-19 Multi-Sectoral Response, 3. Juni 2020).

Rückkehrer stehen angesichts der unzureichenden Versorgungslage zudem vor der Problematik, eine Unterkunft zu finden. Im Hinblick auf die in Großstädten, vor allem Kabul, überwiegend beengten Unterbringungsverhältnisse und "social distancing"-Gebote, bestehen kaum Möglichkeiten, Obdach zu finden. Der Verweis auf eine Unterbringung in sogenannten Teehäusern erscheint auf absehbare Zeit kaum mehr möglich (vgl. Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankungen an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener, 27. März 2020, S. 3).

Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass vor allem die ärmeren Teile Bevölkerung, wie Tagelöhner, auf unabsehbare Zeit mit deutlich erschwerten Verhältnissen konfrontiert sind. Das Gericht ist davon überzeugt, dass diese aufgrund des Auftretens von Covid-19-Fällen veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, in der absehbaren Zukunft andauern werden. Angesichts der weitgehend ausgezehrten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes ist – selbst bei vollständiger Aufhebung der Beschränkungen – nicht damit zu rechnen, dass sich die Wirtschaft kurzfristig erholen und sich die Lebensbedingungen für Rückkehrer rasch wieder entscheidend verbessern werden (vgl. hierzu und zum Ganzen VG Karlsruhe, Urteil vom 15. Mai 2020– A 19 K 16467/17 –, juris; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom5. Mai 2020 – 21 K 19075/17.A –, juris; VG Cottbus, Urteil vom 29. Mai 2020 – 3 K 633/20.A –, juris; jeweils mit weiteren Nachweisen).

Der Kläger, der seit 2015 nicht mehr im Heimatland war und zuvor lediglich begonnen hatte, bei seinem Vater dessen Ingenieurshandwerk zu erlernen, wird unter diesen Umständen nach der Überzeugung des Gerichts nicht in der Lage sein, eigenständig seinen notwendigen Lebensunterhalt, wenn auch nur auf niedrigem Niveau, zu erwirtschaften. Es ist darüber hinaus nicht zu erwarten, dass der Kläger berechtigte Hoffnungen auf eine hinreichende finanzielle Unterstützung durch noch in Afghanistan lebende Familienangehörige hegen könnte. Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan kann ohne nähere Anhaltspunkte nicht davon ausgegangen werden, dass Personen, jedenfalls soweit sie nicht finanziell außerordentlich gut gestellt sind, bereit und dazu noch in der Lage wären, zurückkehrende Angehörige zu unterstützen – zumal eine Besserung der Umstände und damit ein Wegfall der Bedürftigkeit des Rückkehrers derzeit nicht abzusehen ist. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, dass er seit eineinhalb Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Familie gehabt habe. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der Vater nach den Angaben des Klägers überwiegend im Iran gearbeitet hat. Es ist daher naheliegend, dass auch diesem zumindest ein wesentlicher Anteil seiner Einkünfte weggebrochen ist. Dass die Familie des Klägers außergewöhnlich gut situiert wäre, ist unter Berücksichtigung der Schilderungen des Klägers auch im Übrigen nicht zu erkennen, zumal der Kläger nachvollziehbar dargelegt hat, dass die Familie sämtliche Rücklagen für die Finanzierung der Ausreise des Klägers aufgewendet hat. [...]