VG Schleswig-Holstein

Merkliste
Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 08.07.2020 - 11 B 36/20 - asyl.net: M28962
https://www.asyl.net/rsdb/M28962
Leitsatz:

Wohnsitzauflage bei vollziehbarer Ausreisepflicht kann bereits bei Vorliegen eines konkreten Arbeitsangebots erlöschen:

1. Eine während des Asylverfahrens ergangene Zuweisungsentscheidung erlischt, wenn der betroffenen Person nach Abschluss des Asylverfahrens der Aufenthalt durch Erteilung eines Aufenthaltstitels oder einer Duldung ermöglicht wird.

2. Eine Wohnsitzauflage nach § 61 Abs. 1d AufenthG erlischt von Gesetzes wegen, wenn der Lebensunterhalt der betroffenen Person gesichert ist. Hiervon kann auch schon bei Vorliegen eines konkreten Arbeitsangebots ausgegangen werden. So ist nicht zwingend notwendig, dass die betroffene Person die Erwerbstätigkeit schon aufgenommen hat.

3. Eine mit Art. 6 GG nicht zu vereinbarende vorübergehende Trennung der Familie ist insbesondere bei neugeborenen Kindern anzunehmen. Auch bei einer nur vorübergehenden Trennung, wie sie etwa für die Nachholung des Visumsverfahrens erforderlich wäre, sind negative Auswirkungen auf das Kindeswohl und die Eltern-Kind-Beziehungen zu befürchten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: deutscher Ehegatte, deutsches Kind, Sicherung des Lebensunterhalts, Duldung, Wohnsitzauflage, Zuständigkeit, örtliche Zuständigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, neugeborenes Kind, Kindeswohl, Kleinkind, Kind,
Normen: AufenthG § 61 Abs. 1d, GG Art. 6, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

24 Zuerst hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch auf Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG glaubhaft gemacht.

25 Zunächst ist der Antragsgegner auch zuständig für die Erteilung einer Duldung. Bei der Bestimmung der zuständigen Ausländerbehörde ist zunächst festzustellen, welchem Bundesland die Verbandskompetenz zur Sachentscheidung zusteht. Diese ergibt sich – mangels speziell koordinierten landesrechtlichen Kompetenzregelungen – aus einer entsprechenden Anwendung des § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG. Im zweiten Schritt ist auf der Grundlage des einschlägigen Landesrechts zu ermitteln, welche Behörde innerhalb des Landes örtlich zuständig ist (vgl. Beschluss der Kammer vom 08.03.2019 – 11 B 160/18 – nicht veröffentlicht). [...] Für die Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts ist auf die Legaldefinition des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I zurückzugreifen. Danach kommt es darauf an, wo sich jemand unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Ein gewöhnlicher Aufenthalt wird dadurch begründet, dass sich der Betroffene an dem Ort oder in dem Gebiet "bis auf Weiteres" im Sinne eines "zukunftsoffenen Verbleibs" aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehung hat (vgl. Schleswig-Holsteinisches OVG, Beschluss vom 26.09.2014 – 4 O 49/14 – nicht veröffentlicht). Zu den maßgeblichen Umständen im Sinne des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I gehören jedoch auch ausländerrechtliche Aufenthaltsbeschränkungen. Sofern ein Ausländer danach verpflichtet ist, sich an einem ihm zugewiesenen Aufenthaltsort aufzuhalten, diesen aber ohne Zustimmung der zuständigen Behörde verlässt, ist sein Aufenthalt an einem anderen Ort illegal und zählt – unabhängig davon, seit wann er sich dort in der Absicht, auf Dauer zu bleiben, aufhält – nicht als gewöhnlicher Aufenthalt im dargelegten Sinn (vgl. Zeitler in: HTK-AuslR / § 3 VwVfG / zur Abs. 1 Nr. 3a, Stand: 18.11.2016, Rn. 10, m.w.N.). Der tatsächliche Aufenthalt eines Ausländers kann im Rechtssinne mithin erst dann zum gewöhnlichen Aufenthalt werden, wenn ausländerrechtlich davon auszugehen ist, dass der Ausländer auf unabsehbare Zeit dort bleiben kann (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.08.2008 – 11 S 1443/08 –, juris Rn. 3). Allein der Wille, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten genügt nicht, um den gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen (vgl. Beschluss der Kammer vom 08.03.2019 – 11 B 160/18 – nicht veröffentlicht).

26 Gemessen an diesen Maßstäben ist der Antragsgegner zuständig für die Erteilung einer Duldung.

27 Ursprünglich war der Beigeladene für den Antragsteller zuständig, da dieser im Rahmen der Verfügung vom 01.07.2015 dem Gebiet des Beigeladenen zugewiesen wurde. Diese Zuweisungsentscheidung ist jedoch erloschen. Zwar erlischt eine solche Entscheidung nicht bereits mit dem Abschluss des Asylverfahrens. Allerdings bleibt die Zuweisungsentscheidung nur so lange wirksam, bis die Ausländerbehörde dem Ausländer den Aufenthalt aus asylverfahrensunabhängigen Gründen ermöglicht. Ein solcher Anschlussaufenthalt, der mit dem Betreiben des Asylverfahrens in keinem Zusammenhang steht, kann auch durch eine Duldung bewirkt werden. Durch deren Erteilung wird die Zuweisungsentscheidung gegenstandslos (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.11.2005 - 19 B 2364/03 -, juris Rn. 30, m.w.N.). So liegt es hier. Das Asylverfahren des Antragstellers wurde eingestellt und ihm daraufhin eine Duldung erteilt, welche inhaltlich nicht mit dem Asylverfahren zusammenhängt. [...]

30 Eine Wohnsitzauflage nach § 61 Abs. 1d Satz 1 AufenthG endet unmittelbar kraft Gesetzes, wenn der Lebensunterhalt (wieder) gesichert ist (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, Stand: Dezember 2015, § 61 Rn. 44). Die Wohnsitzauflage nach § 61 Abs. 1d AufenthG erlischt bereits dann, sobald der Ausländer seinen Lebensunterhalt selbstständig oder mit Hilfe Dritter, z.B. des Ehegatten, sichern kann (vgl. Dollinger in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 61 AufenthG, Rn. 24; Kluth in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 25. Edition, Stand: 01.08.2019, § 61 AufenthG, Rn. 28; Keßler in: Hofman, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 61 AufenthG Rn. 28).

31 Aufgrund der im Präsens formulierten Regelung des § 61 Abs. 1d Satz 1 AufenthG kommt es allein darauf an, ob der Ausländer gegenwärtig, d.h. im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung bzw. im Zeitpunkt einer sich anschließenden gerichtlichen Entscheidung, seinen Lebensunterhalt sichert (vgl. OVG Nordrhein- Westfalen, Beschluss vom 27.07.2017 - 18 B 543/17 -, juris Rn. 28). [...]

33 Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist der Lebensunterhalt des Antragstellers gesichert. Der Antragsteller verfügt ausweislich des vorgelegten Arbeitsvertrages über ein Arbeitsplatzangebot als Steinsetzer und Gartenlandschaftsbauer für eine unbefristete Vollzeitbeschäftigung. [...]

37 Darüber hinaus hat der Antragsteller das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG glaubhaft gemacht. [...] Der Antragsteller beruft sich mit Erfolg auf eine rechtliche Unmöglichkeit wegen der Wahrung der Familieneinheit mit seiner Frau und dem gemeinsamen Kind. Auch wenn Art. 6 GG grundsätzlich keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt gewährt, müssen die Ausländerbehörden bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, berücksichtigen und angemessen in ihren Erwägungen zur Geltung bringen (vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 10.05.2008 - 2 BvR 588/08 -, juris Rn. 11, m.w.N.). Doch nicht jede familiäre Beziehung führt zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung, eine rein formalrechtliche familiäre Bindung löst die Schutzwirkungen des Art. 6 GG nicht aus, wobei stets eine Betrachtung des Einzelfalles geboten ist (vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 10.05.2008 - 2 BvR 588/08 -, juris Rn. 12, m.w.N.). Voraussetzung eines Duldungsanspruches nach Art. 6 Abs. 1 GG ist stets eine schutzwürdige echte familiäre Beziehung; ohne das Bestehen einer Beistandsgemeinschaft entfaltet Art. 6 Abs. 1 GG keine Vorwirkungen im Sinne einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung (vgl. Kluth/Breidenbach in: BeckOK Ausländerrecht, 25. Edition Stand: 01.03.2020, § 60a AufenthG Rn. 18). Entscheidend ist damit die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Betroffenen. Eine solche tatsächliche Verbundenheit ist in der Regel anzunehmen, wenn der Vater mit seinem minderjährigen Kind dauerhaft in einer gemeinsamen Wohnung lebt (vgl. Beschluss der Kammer vom 22.05.2018 - 11 B 74/18 - nicht veröffentlicht; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 25.08.2006 - 2 M 228/06 -, juris Rn. 20). [...]

39 Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe besteht ein Duldungsanspruch aus familiären Gründen. Der Antragsteller hat eine schützenswerte familiäre Beziehung zu seinem Kind sowie der Kindesmutter hinreichend glaubhaft gemacht. Er lebt mit seiner Ehefrau und dem gemeinsamen Kind in einem Haushalt. Seit der Schwangerschaft seiner Ehefrau war der Antragsteller nur mit Unterbrechung eines einzigen Tages an derselben Adresse gemeldet wie seine Ehefrau und seit der Geburt seiner Tochter lebt er mit dieser durchgehend in einem gemeinsamen Haushalt. Der zur Verwaltungsakte gereichte Mietvertrag betrifft eine Vier-Zimmer-Wohnung, was als Familienwohnung für eine dreiköpfige Familie auch geeignet erscheint. Zudem ist zu beachten, dass ausweislich des Mietvertrages das Mietverhältnis zum 01.09.2019 begann, zu ebendiesem Datum meldete sich auch der Antragsteller in dieser Wohnung an. Für die tatsächlich gelebte familiäre bzw. eheliche Gemeinschaft spricht zudem, dass die Eheleute zu diversen Vorsprachen bei verschiedenen Ausländerbehörden gemeinsam erschienen sind und die Ehefrau des Antragstellers darüber hinaus auch die Kommunikation mit den Behörden führt. Dies zeigt, dass die Eheleute einander unterstützen, was wiederum eine tatsächliche Verbundenheit nahelegt. [...]

41 Zwar kann es den Eheleuten durchaus zugemutet werden, die Zeit des Visumsverfahren getrennt voneinander zu verbringen. Anderes gilt jedoch bezüglich der Tochter des Antragstellers. Gerade im Hinblick auf das Alter des Säuglings von etwa viereinhalb Monaten, der in dieser Zeit schnell voranschreitenden Entwicklung sowie dem Aufbau der Beziehung zwischen einem Kind und seinen Eltern ist eine - auch nur vorübergehende - Trennung nicht zumutbar. Im Falle einer Trennung sind negative Auswirkungen auf das Kindeswohl sowie auf die Entwicklung der Vater-Kind-Beziehung zu befürchten, da das Kind den vorläufigen Charakter der räumlichen Trennung noch nicht begreifen kann und damit die in den ersten Lebensmonaten entstandene und noch wachsende Bindung zerstört werden könnte. [...]