VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 10.09.2020 - 11 A 328/18 - asyl.net: M28968
https://www.asyl.net/rsdb/M28968
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Dolmetscher eines Sicherheitsunternehmens aus dem Irak:

1. Dem Kläger ist die Flüchtlingseigenschaft zuzusprechen, da auf ihn als Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma durch die Kata'ib Hisbollah ein Anschlag verübt wurde und nicht davon auszugehen ist, dass die Verfolgungsgefahr durch die Aufgabe seiner Tätigkeit entfallen ist.

2. Für sunnitische Araber wie den Kläger kann nicht zwingend von einer internen Schutzmöglichkeit in der autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak ausgegangen werden. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, nichtstaatliche Verfolgung, Dolmetscher, Sunniten, interne Fluchtalternative, Hisbollah, Nordirak, politische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3e, AsylG § 3b Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Der Bescheid des Bundesamtes vom 17.07.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten; er hat zum gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, § 113 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 1 Satz 1 VwGO (1.). Insoweit ist der Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger diesen Status zuzuerkennen. [...]

Entgegen der Annahme des Bundesamts liegt jedoch eine Verfolgungshandlung vor. Der gezielte Anschlag stellt eine Form physischer Gewalt (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) dar, die sich gegen das nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. Art. 15 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 EMRK geschützte Rechtsgut Leben richtet. Insofern kann nicht lediglich auf die Reaktion des Klägers auf die Briefe abgestellt werden. Dass es sich bei dem Anschlag um ein einmaliges Ereignis handelt, schließt eine Verfolgungshandlung nicht aus. Der Angriff auf das Leben bedarf keiner Kumulation um eine Verfolgungsintensität zu begründen.

Die Verfolgungshandlung knüpft auch an einen Verfolgungsgrund im Sinne des§ 3b AsylG an. [...] Dabei ist gemäߧ 3b Abs. 2 AsylG ausreichend, dass ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Die Tätigkeit des Klägers erfüllt diese Voraussetzungen. Durch seine Arbeit für die ... in dem Bereich der Ölbranche und insbesondere die Zusammenarbeit mit ausländischen, vor allem US-amerikanischen und britischen Firmen, wurde der Kläger als Kollaborateur angesehen. Dies begründet aus Sicht schiitischer Milizen eine ihrer Überzeugung entgegenstehende politische Überzeugung (vgl. auch EASO, Country Guidance: Iraq, Juni 2019, S. 61 ). Eine Verknüpfung nach § 3a Abs. 3 AsylG ist demnach gegeben.

Die Verfolgung droht durch einen Akteur im Sinne des § 3c AsylG, wobei unerheblich ist, ob die Handlungen der (wohl regierungsnahen) Miliz wegen des förmlichen Status innerhalb des irakischen Sicherheitsapparats bereits dem Staat zuzurechnen sind oder ob nichtstaatlicher Akteur vorliegt, da oftmals kein hinreichender staatlicher Schutz erreichbar ist (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: März 2020), S. 16). Insbesondere kann in der Regel kein wirksamer staatlicher Schutz erlangt werden, wenn auf Seite des Verfolgungsakteurs eine der PMU zugehörige Gruppe - wie hier wohl die Kata'ib Hisbollah - steht (EASO, Country Guidance: Iraq, Juni 2019, S. 31). [...]

Gemessen daran ist der Kläger vorverfolgt ausgereist.

Die Ausreise des Klägers verbunden mit der dadurch zwangsläufigen Beendigung seiner Tätigkeit bei der BSOC ist in diesem konkreten Fall kein stichhaltiger Grund, der gegen eine erneute Verfolgung spricht. Nach dem knapp gescheiterten Anschlag auf den Kläger kann nicht - ohne das weitere Hinzutreten neuer Umstände - davon ausgegangen werden, dass sich die ganze Angelegenheit damit erledigt hat. Jedenfalls entspricht diese Einschätzung nicht der eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Klägers.

Der Kläger kann auch nicht auf eine interne Schutzalternative verwiesen werden (§ 3e AsylG). Danach wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwarten kann, dass er sich dort niederlässt. Vorliegend geht das Gericht davon aus, dass der Kläger allenfalls in der Region Kurdistan-Irak vor der drohenden Verfolgung sicher wäre, da sich der Einflussbereich der schiitischen Milizen und der irakischen Zentralregierung nicht hierauf erstreckt. Diesbezüglich bestehen jedoch erhebliche Unsicherheiten der Möglichkeit der Einreise und langfristigen Niederlassung für arabischstämmige Iraker sunnitischer Konfession in der Region. Zwar zeichnet sich ab, dass die Voraussetzungen für eine Einreise, Niederlassung und Arbeitsaufnahme sukzessive gelockert werden, dennoch hängt die Möglichkeit weiterhin von Umständen wie Volkszugehörigkeit und Herkunftsregion ab (vgl. dazu: EASO CO! Information Report: Iraq Internal mobility, Februar 2019, S. 34 ff.; Danish Immigration Service, Northern Iraq: Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq, S. 35 ff.). Im konkreten Fall des Klägers, einem Iraker sunnitischer Glaubens- und arabischer Volkszugehörigkeit, der in der Region Kurdistan-Irak nicht über ein familiäres Netzwerk verfügt und zudem gemeinsam mit drei minderjährigen Kinder und einer kenianischen Ehefrau zurückkehren würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 04. Juli 2019 - 1 C 45/18 -, juris, Rn. 16 ff.), steht diese Region derzeit nicht als inländische Schutzalternative offen. [...]