VG Stuttgart

Merkliste
Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 09.08.2019 - A 12 K 6719/17 - asyl.net: M28969
https://www.asyl.net/rsdb/M28969
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung hinsichtlich Afghanistan wegen Abkehr vom Islam:

Personen, die sich vom islamischen Glauben abgewendet haben und sich keiner Religion mehr zugehörig fühlen, sind aufgrund der wegen Apostasie drohenden Verfolgung als Flüchtlinge anzuerkennen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Iran, faktischer Iraner, Atheisten, interne Fluchtalternative, Apostasie, Flüchtlingsanerkennung, Atheismus, religiöse Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

(4) Laut Verfassung der islamischen Republik Afghanistan ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Die Religionsfreiheit ist in der afghanischen Verfassung verankert. Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträge und Konventionen wie auch die nationalen Gesetze sind jedoch allesamt im lichte des generellen Scharia-Vorbehalts (Art. 3 der Verfassung) zu verstehen. Die Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionswahl beinhaltet, gilt daher de facto in Afghanistan nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 31.05.2018,
S. 10 und UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 72, vgl. auch Internationales Katholisches Missionswerk missio e.V. - Länderbericht Religionsfreiheit Afghanistan, 2019, S. 20 f.). Zwar sind in jüngerer Vergangenheit keine Fälle bekannt, in denen die Todesstrafe aufgrund von Apostasie verhängt wurde. Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 31.05.2018, S. 10). Personen, die vom islamischen Glauben zu einer anderen Religion konvertiert sind oder die der Gotteslästerung bezichtigt werden, können auch mit bis zu 20 Jahren Gefängnis bestraft werden. Hierunter fallen auch Atheisten und säkulare Personen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update, 12.09.2018, S. 13). In der Vergangenheit ist es auch zu Verurteilungen wegen Apostasie gekommen (vgl. EASO, Couhtry Guidance: Afghanistan, Juni 2019, S. 68). Die afghanische Gesellschaft ist Atheisten und säkularen Personen gegenüber äußerst feindlich gesinnt, und sie müssen mit Übergriffen seitens der Familie, der Gesellschaft und regierungsfeindlicher Gruppierungen rechnen. Die afghanische Regierung versucht zudem, konvertierte Personen zur Widerrufung zu bewegen, und verweist sie bei Weigerung des Landes (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update, 12.09.2018, S. 13). Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, haben in der Regel keinen Zugang zu einem Strafverteidiger oder zu anderen Verfahrensgarantien (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 72 m.w.N.). [...]

2. Der Kläger muss sich auch nicht auf internen Schutz nach § 3e AsylG verweisen lassen. Das Gericht ist nicht davon überzeugt, dass es in Afghanistan Landesteile gibt, in denen - wie vorliegend der Kläger - glaubhaft vom Islam abgefallene ehemalige Moslems keine begründete Furcht vor Verfolgung habe müssen. Denn aus den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln folgt, dass in Afghanistan überzeugten Atheisten landesweit die Gefahr droht, entweder durch den Staat oder durch Private Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG ausgesetzt zu sein (vgl. EASO, Country Guidance: Afghanistan, Juni 2019, S. 68 f.; auch das Auswärtige Amt nennt in seinem Lagebericht keine örtlichen Ausnahmen einer Verfolgungsgefahr in Fällen der Apostasie, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 31.05.2018, S. 10 ff., so im Ergebnis auch VG Würzburg, Urteil vom 23.04.2018 - W 1 K 18.30052 -, juris Rn. 35 m.w.N.). [...]