VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.10.2020 - 11 S 1812/20 - asyl.net: M28979
https://www.asyl.net/rsdb/M28979
Leitsatz:

Kein Anspruch auf Rückholung eines abgeschobenen vietnamesischen Mannes:

"1. Nur bei Ausländern, die sämtliche Voraussetzungen für einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 35 Abs. 1 AufenthG erfüllen, ist der Ausländerbehörde im Falle des Bestehens von Versagungsgründen nach § 35 Abs. 3 Satz 1 AufenthG Ermessen nach § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffnet.

2. Sowohl in Fällen, in denen ein Rechtsschutz suchender Ausländer die vorübergehende Aussetzung seiner Abschiebung begehrt, als auch dann, wenn es ihm nach einer bereits durchgeführten Abschiebung um seine Rückholung ins Bundesgebiet geht, ist der Streitwert des Eilrechtsschutzbegehrens mit dem halben Auffangwert zu bemessen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Kindernachzug, eigenständiges Aufenthaltsrecht, Integration, Sicherung des Lebensunterhalts, Deutschkenntnisse, Abschiebung, Rückholung, Ermessen, Ermessensfehler, Folgenbeseitigungsanspruch,
Normen: VwGO § 123, AufenthG § 35 Abs. 1, AufenthG § 35 Abs. 3, AufenthG § 35 Abs. 1, AufenthG § 34 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

2. Die Beschwerde ist aber nicht begründet. Aus den in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründen, auf deren Prüfung das Beschwerdegericht nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, ergibt sich nicht, dass dem Antragsteller abweichend vom Beschluss des Verwaltungsgerichts vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren ist. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag des Antragstellers, dem Antragsgegner durch einstweilige Anordnung (§ 123 Abs. 1 VwGO) seine Rückholung ins Bundesgebiet aufzugeben, zu Recht abgelehnt. Der Senat teilt die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass der Antragsteller den geltend gemachten Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2, § 294 ZPO). [...]

Der Senat teilt mit den vorstehenden Maßgaben die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass sich eine offensichtliche Rechtswidrigkeit der Abschiebung des Antragstellers nicht feststellen lässt. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Darlegungen des Antragstellers im Beschwerdeverfahren. Es ist jedenfalls nicht offensichtlich, dass der erfolgten Abschiebung ein Anspruch des Antragstellers auf eine Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG entgegenstand. Zur weiteren Begründung nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen in den Gründen des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts Bezug (§ 122 Abs. 3 Satz 2 VwGO). Mit Blick auf die Darlegungen des Antragstellers im Beschwerdeverfahren weist der Senat ergänzend auf Folgendes hin: [...]

bb) Soweit sich der Antragsteller im Beschwerdeverfahren zumindest dem Sinne nach darauf beruft, dass ihm am Tag seiner Abschiebung ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zugestanden habe, ist das Vorliegen der Voraussetzungen eines solchen Anspruchs keineswegs ohne Zweifel. Dies betrifft sämtliche der in § 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 AufenthG genannten Voraussetzungen für die Entstehung eines Anspruchs.

(1) So ist bereits zweifelhaft, ob der Antragsteller zum maßgebenden Zeitpunkt seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 6 des Aufenthaltsgesetzes war (vgl. zu diesem Erfordernis § 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG). Hieran fehlt es, wenn der betreffende Ausländer zwar während einer Dauer von mindestens fünf Jahren im Besitz der erforderlichen befristeten Aufenthaltserlaubnis war, den Antrag auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis aber erst nach Ablauf der Geltungsdauer seiner Aufenthaltserlaubnis gestellt hat (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Januar 2016, § 35 AufenthG Rn. 14; Tewocht, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 35 AufenthG Rn. 8 ff. und 14). [...]

(2) Es bestehen zudem erhebliche Zweifel, ob der Antragsteller am Tag seiner Abschiebung über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache im Sinne von § 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG verfügte. [...]

(3) Weiter bestehen erhebliche Zweifel, dass der Lebensunterhalt des Antragstellers zur Zeit seiner Abschiebung gesichert war. [...]

(4) Nach Lage der Dinge ist auch nicht davon auszugehen, dass im Falle des Antragstellers Anlass bestand, von den Erfordernissen ausreichender Kenntnisse der deutschen Sprache (§ 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG) und der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG) abzusehen. [...]

cc) Soweit sich der Antragsteller im vorliegenden Verfahren auf mögliche Ansprüche auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis beruft, führt dies ebenfalls nicht zum Erfolg der Beschwerde. Als Anspruchsgrundlagen kamen zum hier maßgebenden Zeitpunkt insofern allenfalls § 35 Abs. 3 Satz 2 und § 34 Abs. 3 AufenthG in Betracht. Es bestehen aber erhebliche Zweifel, ob insofern überhaupt die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung zugunsten des Antragstellers vorliegen. [...]

(1) Mit Blick auf § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG weist der Senat darauf hin, dass eine Anwendung dieser Norm nur auf Ausländer in Betracht kommt, bei denen zwar einer der Versagungsgründe des § 35 Abs. 3 Satz 1 AufenthG vorliegt, die aber im Übrigen sämtliche Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 35 Abs. 1 AufenthG erfüllen. Denn § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG hat die Funktion, bei Vorliegen eines Versagungsgrundes nach § 35 Abs. 3 Satz 1 AufenthG einen ansonsten gegebenen Anspruch nach § 35 Abs. 1 AufenthG auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis zu einem Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis herabzustufen. Mangelt es dagegen bereits an einer Voraussetzung nach § 35 Abs. 1 AufenthG für die Entstehung eines Anspruchs auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, ist für eine Ermessensentscheidung nach § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kein Raum.

Bei Volljährigen sind dies die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG. In solchen Fällen kommt allenfalls eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach der allgemeinen Regelung des § 34 Abs. 3 AufenthG in Betracht (BVerwG, Urteil vom 15.08.2019 - 1 C 23.18 -, juris Rn. 18). Bei einem volljährigen Ausländer ist danach als Voraussetzung für eine positive Ermessensentscheidung nach § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG stets erforderlich, dass er seit mindestens fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 6 (Aufenthalt aus familiären Gründen) oder - in den Fällen des § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG - einer solchen nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes (Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen) ist, über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und sein Lebensunterhalt gesichert ist (§ 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 AufenthG).

Wie oben bereits dargelegt, ist es sehr zweifelhaft, ob der Antragsteller diese Voraussetzungen zur Zeit seiner Abschiebung erfüllt hat. Fehlt es aber hieran, wäre zur Zeit der Abschiebung des Antragstellers für eine zu seinen Gunsten ergehende Ermessensentscheidung nach § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kein Raum gewesen. Daher kann im vorliegenden Zusammenhang offenbleiben, ob die von der unteren Ausländerbehörde in ihrem Bescheid vom 17. Juli 2018 zu § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG angestellten Ermessenserwägungen den Anforderungen des § 40 LVwVfG genügen. [...]

(2) Auf § 34 Abs. 3 AufenthG kann sich der Antragsteller im Rahmen des vorliegenden Eilrechtsschutzverfahrens ebenfalls nicht stützen. Auch in Bezug auf diese Anspruchsgrundlage ist nicht offenkundig, dass der Ausländerbehörde am 20. September 2019 Ermessen für eine Entscheidung zugunsten des Antragstellers eröffnet war. Es ist zweifelhaft, ob die allgemeine Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt war; insofern nimmt der Senat auf die obigen Ausführungen zum Thema der Sicherung des Lebensunterhalts des Antragstellers Bezug. Die Annahme, dass von dieser Voraussetzung aufgrund einer Atypik des Falles abgesehen werden könnte, liegt auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Antragstellers keineswegs nahe. Eine Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG hat der Gesetzgeber in Verfahren betreffend die Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 34 Abs. 3 AufenthG nicht zugelassen. [...]