LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Urteil vom 01.07.2020 - L 4 SO 120/18 - asyl.net: M29030
https://www.asyl.net/rsdb/M29030
Leitsatz:

§ 23 Abs. 3 Sätze 5 und 6 SGB XII sind dahingehend verfassungskonform auszulegen, dass die Härtefallregelung jeden während des tatsächlichen Aufenthalts entstehenden Bedarfsfall der Leistungen nach dem Dritten und Fünften Kapitel erfassen muss. Auch bei nicht befristeten besonderen Bedarfslagen und damit für die tatsächliche Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet sind existenzsichernde Sozialleistungen zu gewähren; werden darüber hinaus andere Bedarfe als die nach Absatz 3 Satz 5 typisierend vorgesehenen geltend gemacht und liegen sie tatsächlich vor, sind auch diese in verfassungskonformer Auslegung des Satzes 6 für die Zeit des tatsächlichen Aufenthalts längstens bis zur vollziehbaren Ausreisepflicht zu decken. Der Unterschied zu Leistungen nach dem Dritten Kapitel besteht mithin darin, dass die bedürftige Person von dem pauschalierten Leistungsmodell des Dritten Kapitels auf die Anmeldung des individuellen Bedarfs insbesondere im Bereich der soziokulturellen Existenz verwiesen wird und im Falle der fehlenden Darlegung des Bedarfes auch nicht von der Pauschalierung profitieren kann.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Sozialrecht, EU-Staatsangehörige, Leistungsausschluss, freizügigkeitsberechtigt, Arbeitnehmerbegriff, Existenzminimum, Überbrückungsleistungen, Verfassungsmäßigkeit,
Normen: SGB XII § 23 Abs. 3, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

b) Der Ausschluss von Leistungen nach dem Dritten Kapitel und die Beschränkung auf Überbrückungsleistungen ist verfassungskonform, wenn die Härtefallregelung und die Rechtsfolge hinsichtlich der Leistungsdauer und Leistungshöhe in § 23 Abs. 3 Sätze 5 und 6 SGB XII verfassungskonform ausgelegt werden. [...]

(2) Diesen Anforderungen an die gesetzliche Ausgestaltung des bedarfsdeckenden Anspruchs ist im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung der Härtefallklausel und der Rechtsfolge von § 23 Abs. 3 Sätze 5 und 6 SGB XII Rechnung zu tragen.

Zwar bestehen gewichtige Zweifel daran, dass die Personengruppen, die den Leistungsausschlüssen des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII unterfallen und nach § 23 Abs. 3 Sätze 5 und 6 anspruchsberechtigt sind, die eingangs dieses Abschnitts unter bb) (1) genannten Besonderheiten in ihrer Bedarfssituation aufweisen. Insbesondere bei den Leistungsausschlüssen der § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 2. Var SGB XII und § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Var. SGB XII handelt es sich um Personen mit einem materiellen Aufenthaltsrecht, das von einem Bezug existenzsichernder Leistungen unberührt bleibt. Die dortigen Personenkreise sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Voraussetzungen erfüllen, die stets eine positive Prognose zur (Arbeitsmarkt-)Integration begründen, nämlich im Falle der Nr. 2 2. Var. die Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 Abs. 1a FreizügG/EU (vgl. dazu auch aus unionsrechtlicher Perspektive: EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts vom 12- März 2009, Rs. C-22/08 und C-23/08, Slg. 2009, I-4585, Vatsouras und Koupatanze, juris Rn. 51 ff., 63) oder aber aufgrund vorheriger Erwerbstätigkeit und in das Bildungssystem integrierter Kinder hier sozial integriert sind. Es wäre offensichtlich fehlsam, diesem Personenkreis einen geminderten Bedarf wegen einer bevorstehenden Ausreise zu unterstellen. Zudem bestehen Zweifel daran, ob der Gesetzgeber bedarfsbezogen differenzieren wollte. So lässt er das sog. soziokulturelle Existenzminimum grundsätzlich vollständig ungedeckt und eröffnet nur über § 23 Abs. 3 Satz 6 1. Hs. SGB XII ausnahmsweise die Möglichkeit, Bedarfe der sozialen Teilhabe zu decken.

Eine verfassungskonforme Auslegung im Sinne der erstinstanzlichen Entscheidung, wonach nach einer gewissen Verfestigung des Aufenthalts Leistungen nach dem Dritten Kapitel zu gewähren sind, ist aus methodischen Gründen nicht möglich. Wortlaut, Systematik und gesetzgeberischer Wille stehen einem solchen Auslegungsergebnis entgegen. Nach der Entwurfsbegründung soll eine Verfestigung des Aufenthalts beim hier betroffenen Personenkreis (BT-Drs. 18/10211, S. 14) erst nach fünf Jahren des Aufenthalts anzuerkennen sein, weshalb die Regelung des § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII geschaffen wurde. Auch im Anwendungsbereich des AsylbLG hat sich der Gesetzgeber mit 18 Monaten in § 2 AsylbLG für die Regelung einer Frist entschieden, ab wann Leistungen in Höhe des Dritten Kapitels zu gewähren sind. Über diesen klaren Befund kann sich eine Auslegung nicht hinwegsetzen, wobei an dieser Stelle nicht zu entscheiden ist, wie die Wertungswidersprüche zwischen den genannten Regelungen aufzulösen sind.

Gleichwohl sieht der Senat im vorliegenden Fall die Möglichkeit zu einer verfassungskonformen Auslegung, ohne gegen die Gesetzesbindung und die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (dazu insbes. BVerfGE 149, 126; BVerfG, Beschluss vom 26. November 2018 – 1 BvR 318/17, juris Rn. 29 ff.) zu verstoßen. Zum einen erscheint es speziell beim Personenkreis des § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 1. Var. SGB XII, dem auch die Kläger unterfallen, nämlich bei Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht, die Prognose nicht von vornherein ausgeschlossen, dass im Einzelfall wegen einer zumindest ungesicherten Perspektive des Verbleibs in der Bundesrepublik Deutschland bestimmte Bedarfe nicht mehr anfallen. Dies rechtfertigt jedenfalls verfassungsrechtlich die abweichende Normsystematik, für diesen Personenkreis nicht in jedem Fall Pauschalleistungen wie nach dem Dritten Kapitel vorzusehen. Der Gesetzgeber ist nämlich nicht von vornherein auf ein bestimmtes Modell der Ausgestaltung von Ansprüchen als Pauschalen oder nach Einzelbedarfen mit Ausnahme- oder Härtefallregelungen festgelegt (ähnl. BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2019 – 1 BvL 4/16 –, juris Rn. 18 f.). Zum anderen finden sich im Gesetzgebungsverfahren Hinweise darauf, dass sowohl die Regelung der Leistungshöhe des § 23 Abs. 3 Satz 5 SGB XII als auch die Härtefallklausel des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII darauf abzielen, Verfassungskonformität herzustellen. So hat die Bundesregierung ausweislich des Gesetzentwurfs gerade in Ansehung der verfassungsrechtlichen Argumentation des Bundessozialgerichts (siehe dazu BR-Drs. 587/16, S. 5) die Regelung geschaffen. Obwohl das Hauptziel des Entwurfs die Dämpfung der Mehrbelastung der Kommunen war und deshalb die Leistungsausschlüsse ausgeweitet wurden, haben die Entwurfsverfasser doch mit § 23 Abs. 3 SGB XII die Grundkonzeption der Lösung des Bundessozialgerichts anerkannt, dass ein vollständiger Leistungsausschluss verfassungswidrig wäre, wofür auch der Hinweis im Entwurf auf § 1a AsylbLG spricht (BR-Drs. 589/16 und BT-Drs. 18/10211, S. 16, s.o.). Auch das Bundesverfassungsgericht sieht in § 23 Abs. 3 Sätze 6 und 7 SGB XII für die Verfassungskonformität der Gesamtregelung des § 23 Abs. 3 SGB XII bedeutsame Vorschriften (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 2020 – 1 BvL 1/20 –, juris Rn 18 f.). Vor diesem Hintergrund stehen die gleichermaßen suggestiv engen wie unbestimmten Formulierungen des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII ("besondere Umstände", "besondere Härte" "im Einzelfall") nicht einer am Maßstab von Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ausgerichteten, weiten Auslegung entgegen. Auch gebietet das Ziel der Regelung, im Einzelfall Verfassungskonformität sicherzustellen, eine Kombination aller Teilregelungen des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII. Die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung stehen daher nicht einer Auslegung entgegen, nach Lage des Einzelfalls über einen Monat hinaus Leistungen zur Sicherung auch des soziokulturellen Existenzminimums zu gewähren (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29. November 2018 – L 8 SO 134/18 B ER –, juris Rn. 26; im Erg. teilweise auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Juli 2019 – L 15 SO 181/18 -, juris; krit. LSG Baden- Württemberg, Beschluss vom 27. November 2019 – L 7 SO 3873/19 ER-B – juris Rn. 27).

Am o.g. Maßstab sind § 23 Abs. 3 Sätze 5 und 6 SGB XII daher wie folgt verfassungskonform auszulegen: Die Härtefallregelung muss jeden während des tatsächlichen Aufenthalts entstehenden Bedarfsfall der Leistungen nach dem Dritten und Fünften Kapitel erfassen. Auch bei nicht befristeten besonderen Bedarfslagen und damit für die tatsächliche Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet sind existenzsichernde Sozialleistungen zu gewähren; werden darüber hinaus andere Bedarfe als die nach Absatz 3 Satz 5 typisierend vorgesehenen geltend gemacht und liegen sie tatsächlich vor, sind auch diese in verfassungskonformer Auslegung des Satzes 6 für die Zeit des tatsächlichen Aufenthalts (Siefert, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, § 23 Rn. 108) bis zur vollziehbaren Ausreisepflicht (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG i.V.m. § 23 Abs. 2 SGB XII) zu decken (hinsichtlich der Dauer: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Juli 2019 - L 15 SO 181/18 –, juris Rn. 69). Der Unterschied zu Leistungen nach dem Dritten Kapitel besteht mithin darin, dass die bedürftige Person von dem pauschalierten Leistungsmodell des Dritten Kapitels auf die Anmeldung des individuellen Bedarfs insbesondere im Bereich der soziokulturellen Existenz verwiesen wird und im Falle der fehlenden Darlegung des Bedarfes auch nicht von der Pauschalierung profitieren kann (vgl. zur Parallelproblematik bei § 1a AsylbLG auch Senatsbeschluss vom 26. Februar 2020 – L 4 AY 14/19 B ER). [,,,]