VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 16.11.2020 - 7 I 32/20 - asyl.net: M29046
https://www.asyl.net/rsdb/M29046
Leitsatz:

Ablehnung der richterlichen Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung zum Zwecke der Abschiebung:

1. Weder die Verwaltungsgerichtsordnung noch das Aufenthaltsgesetz enthalten spezielle Verfahrens- und Formvorschriften für den Antrag einer Behörde, der auf die gerichtliche Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung zum Zwecke der Abschiebung nach § 58 Abs. 6 bis 8 AufenthG gerichtet ist.

2. Aus der Bedeutung der Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 GG und der entsprechend notwendigen umfassenden gerichtlichen Prüfung einer Durchsuchungsanordnung folgt jedoch, dass die antragstellenden Ausländerbehörden die Anträge schriftlich stellen und sämtliche zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit notwendigen Angaben darlegen müssen.

3. Die vollziehbare Ausreisepflicht und die Erforderlichkeit der Durchsuchung sind konkret darzulegen. Ebenso sind neben den zu ergreifenden Personen auch andere betroffene Personen, etwa die Wohnungsinhaber, zu benennen. Nicht ausreichend ist eine Bezugnahme auf eingereichte Verwaltungsvorgänge oder Aktenteile.

4. Die Nachtzeit dauert ganzjährig von 21.00 bis 6.00 Uhr. Eine Durchsuchung in der Nachtzeit bedarf eines rechtfertigenden Ausnahmetatbestands. Organisationserwägungen, etwa die Abflugzeit, sind diesbezüglich unbeachtlich.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Wohnungsdurchsuchung, Abschiebung, Nachtzeit, betreten, Vollzug, Durchsuchungsanordnung,
Normen: Art. 13 Abs. 2 GG, AufenthG § 58 Abs. 6, AufenthG § 58 Abs. 8,
Auszüge:

[...]

Der am 10. November 2020 bei Gericht sinngemäß gestellte Antrag, die Durchsuchung der Wohnung der Antragsgegner in der Dstr. 5 in E am Donnerstag den00.00.2020 ab 4:30 Uhr zum Zwecke der Ergreifung im Rahmen der Abschiebung der Antragsgegner gerichtlich anzuordnen, hat keinen Erfolg. [...]

Der Antrag begegnet schon durchgreifenden Bedenken gegen seine Zulässigkeit.

Allerdings ist der Verwaltungsrechtsweg – mangels abdrängender Sonderzuweisung – gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet, da Rechtsgrundlage und damit streitentscheidende Norm für den Erlass der begehrten Durchsuchungsanordnung Art. 13 Abs. 2 GG i.V.m. § 58 Abs. 6 und 8 AufenthG ist und insofern eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nicht verfassungsrechtlicher Art vorliegt. [...]

Der Antrag ist indes nicht formgerecht, weil er nicht alle notwendigen Angaben enthält. Der Verwaltungsgerichtsordnung lassen sich keine speziellen Verfahrens- oder Formvorschriften für Anträge auf Anordnung von Durchsuchungen nach § 58 Abs. 6 bis 8 AufenthG entnehmen. Die Vorschriften des 9. Abschnitts über Verfahren im ersten Rechtszug böten mit §§ 81, 82 VwGO Vorschriften zu Form und Inhalt verfahrenseröffnender Anträge. Jedoch mit den Regelungen zum Verfahren, bereits beginnend mit der Klagezustellung nach § 85 VwGO bis zur mündlichen Verhandlung(§ 101 VwGO), wird deutlich, dass diese Vorschriften den Zweck und Erfolg des Instrumentariums der Durchsuchungsanordnung konterkarierten und daher auch nicht analog anwendbar sind. Am ehesten ließen sich orientiert an Charakter und Zielrichtung wohl die Vorschriften zum Erlass einstweiliger Anordnungen nach § 123 Abs. 1 bis 4 VwGO heranziehen. Dies kann jedoch letztlich offenbleiben, weil sich aus dem materiellen Recht die maßgeblichen Vorgaben ableiten lassen.Der präventive Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 2, 1. Halbsatz GG dient der Gewährung effektiven Grundrechtsschutzes in den Fällen des mit einer Durchsuchung verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Damit wird dem Einzelnen im Hinblick auf seine Menschenwürde und im Interesse der freien Entfaltung der Persönlichkeit ein elementarer Lebensraum gewährleistet (vgl. BVerfGE 42, 212 <219>). In seinen Wohnräumen hat er das Recht, in Ruhe gelassen zu werden (vgl. BVerfGE 27, 1 <6>; 51, 97 <107>). In diese grundrechtlich geschützte Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein (vgl. BVerfGE 51, 97 <107>; 59, 95 <97>; 96, 27 <40>; 103, 142 <150 f.>; BVerfGK 2, 310 <314>). Dem Gewicht dieses Eingriffs entspricht es, dass Art. 13 Abs. 2, 1. Hs GG die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vorbehält und damit auf eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz zielt. Hinzu tritt der Gedanke effektiven Grundrechtsschutzes durch eine Verfahrensgestaltung, die darauf abzielt, strukturelle Rechtsschutzdefizite zumindest teilweise zu kompensieren. Bei Wohnungsdurchsuchungen, die ihren Zweck nicht erfüllen könnten, wenn der potentielle Betroffene vorher davon erführe und sich darauf einstellen könnte, werden vollendete Tatsachen geschaffen, ohne dass der betroffene Grundrechtsträger sich gerichtlich rechtzeitig zur Wehr setzen kann. Dieser Situation hat der Verfassungsgeber durch die Normierung des präventiven Richtervorbehalts in Art. 13 Abs. 2 GG Rechnung getragen.Demgemäß verlangt Art. 13 Abs. 1 GG eine umfassende richterliche Prüfung, bevor in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung eingegriffen werden darf. Die richterliche Durchsuchungsanordnung darf keine bloße Formsache sein. Der Richter muss vielmehr dafür Sorge tragen, dass die sich aus der Verfassung und dem einfachen Recht ergebenden Voraussetzungen der Durchsuchung genau beachtet werden (vgl. BVerfGE 9, 89 <97>; 57, 346 <355 f.>; BVerfGK 2, 310 <314>) (zum Vorstehenden vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Juni 2015, - 2 BvR 2718/10 u.a. - , juris Rz. 55 ff.).

Dieser Aufgabe können die Gerichte im Rahmen des § 58 Abs. 8 AufenthG nur gerecht werden, wenn die antragstellenden Ausländerbehörden diese Anträge schriftlich stellen und die zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme notwendigen Angaben enthalten sind (vgl. insoweit die damit korrelierenden Dokumentationspflichten nach § 58 Abs. 9 Satz 4 AufenthG).

Bloße Bezugnahmen auf mit eingereichte Verwaltungsvorgänge (sog. Ausländerakten) oder Aktenteile genügen hierzu nicht. Vielmehr sind die betroffenen Personen, nicht nur die zu Ergreifenden, sondern auch die gegebenenfalls nicht personenidentischen Wohnungsinhaber oder Mitinhaber, soweit die Ausländerbehörde diese unter Nutzung des Melderegisters ermitteln konnte, konkret und vollständig zu benennen.Für die zu ergreifenden Personen müssen die Voraussetzungen der vollziehbaren Ausreisepflicht dargelegt sein, der von Amts wegen zu beachtende zwingende Duldungsgründe nicht entgegenstehen. Die Erforderlichkeit der Durchsuchung der Wohnung zum Zweck der Abschiebung ist durch über das Verstreichenlassen der Ausreisefrist hinausgehende Tatsachen – etwa die Willensbekundung nicht freiwillig ausreisen zu wollen – darzutun. Ferner muss sich dem Antrag entnehmen lassen, welche gegebenenfalls auch über die Wohn- und Nebenräume hinausgehenden Räume (§ 58 Abs. 5 Satz 2 AufenthG) von der Durchsuchungsanordnung umfasst sein sollen. Soll die Durchsuchung bei Dritten ("anderen Personen") vorgenommen werden, müssen die Tatsachen konkret benannt werden, aus denen zu schließen ist, dass der zu ergreifende Ausländer sich in den zu durchsuchenden Räumen befindet. Soll die Wohnung zur Nachtzeit betreten oder durchsucht werden, sind die Tatsachen zu benennen, aus denen zu schließen ist, dass die Ergreifung des Ausländers zum Zweck seiner Abschiebung anderenfalls vereitelt wird (vgl. insoweit auch die Anforderungen an einen Antrag in Freiheitsentziehungssachen nach § 417Abs. 2 FamFG). [...]

Der Antrag ist auch nicht begründet. [...]

Die vom Antragsteller konkret beantragte Durchsuchungsanordnung für den 00.00.2020 ab 4:30 Uhr betrifft eine Durchsuchung in der Nachtzeit, die unzulässig ist, weil kein dies rechtfertigender Ausnahmetatbestand vorliegt.

Die Nachtzeit bezeichnet in Deutschland einheitlich den Zeitraum von 21:00 bis 6:00 Uhr. (BVerfG, Beschluss vom 12. März 2019, - 2 BvR 675/14 -, juris Rz. 58ff.). Spiegelbildlich liegt die Tageszeit ganzjährig zwischen 6:00 und 21:00 Uhr (BVerfG, a.a.O.).

Das allgemeine vollstreckungsrechtliche Verbot der Vollstreckung in der Nachtzeit ist vielfach kodifiziert, etwa in § 785a Abs. 4 S. 2 ZPO, § 104 Abs. 1 StPO oder in § 16 Abs. 2 VwVG NRW. Soweit § 104 Abs. 3 StPO zur Bestimmung der Nachtzeit noch zwischen Sommer- und Wintermonaten differenzierend in der Sommerzeit (1.4. – 30.9.) die Nachtzeit auf den Zeitraum von 21:00 bis 4:00 Uhr bestimmt, ist diese Regelung nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 2019 nicht mehr anzuwenden (BVerfG, a.a.O. Rz. 63, a.A. noch Dollinger in Bergmann/Dienelt zu § 58 AufenthG Rz. 39).

Nach den heutigen Lebensgewohnheiten sind mindestens die Stunden zwischen 4:00 und 6:00 Uhr noch der Nachtzeit zuzurechnen. Die seit dem 1. Oktober 1879 unveränderte Regelung der Nachtzeit in der StPO geht auf die zu diesem Zeitpunkt noch überwiegend agrarischen Lebensverhältnisse der Gesellschaft zurück. Dies trägt der zwischenzeitlichen Veränderungen der soziokulturellen Verhältnisse und den modernen Lebensgewohnheiten nicht Rechnung. Sie ist insoweit nicht mehr zeitgemäß, als sie nicht berücksichtigt, dass die Tageszeit heute für den weit überwiegenden Teil der Bevölkerung auch zwischen April und September nicht schon um 4:00 Uhr Morgens beginnt. Weil nach den heutigen Lebensgewohnheiten zumindest die Zeit zwischen 21:00 und 6:00 Uhr ganzjährig als Nachtzeit anzusehen ist, ist es auch von Verfassungs wegen geboten, dass sich der Schutz vor nächtlichen Wohnungsdurchsuchungen auch in den Monaten April bis September auf die Zeit von 4:00 bis 6:00 Uhr Morgens erstreckt (BVerfG, a.a.O. Rz 63 ff.). Nur zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, dass der Begriff der Nachtruhe mit der Nachtzeit nicht identisch ist, sondern vom insoweit geregelten Kontext abhängt: vgl. § 9 Abs. 1 LImSchG: 22 – 6 Uhr; Betrieb von Rasentrimmern und Freischneidern erst ab 9:00 gem. § 7 Abs. 1 Nr. 2, 32.BImSchV; "Nachtzeit" von 23:00 bis 7:00 Uhr gem. § 2 Abs. 1 Bay. BiergartenVO; Richtlinie 2002/49/EG "Umgebungslärmrichtlinie" Anhang I zu Artikel 5: von 23:00 bis 7:00).

Die von der Antragstellerin für den Donnerstag den 00.00.2020 ab 4:30 beabsichtigte Wohnungsdurchsuchung soll mithin in der Nachtzeit beginnen und ist damit unzulässig.

Die beabsichtigte Durchsuchung und das Betreten der Wohnung der Antragsgegner ist auch nicht ausnahmsweise zulässig, weil keine Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass die Ergreifung des Ausländers zum Zweck seiner Abschiebung anderenfalls vereitelt wird. Aus dem Wortlaut der Norm ergibt sich zunächst, dass die Ausländerbehörde sich auf Tatsachen stützen muss. Ein bloßer Verdacht, der Ausländer sei eher vor 6:00 Uhr in seiner Wohnung anzutreffen als danach, genügt nicht. Solche Tatsachen könnten etwa in einer Berufstätigkeit mit Schichtdienst oder allgemein besonders früh beginnender Tätigkeit (z.B. Bäckerei) des Ausländers liegen. Zum anderen müssen sich diese Tatsachen auf die Vereitelung der Ergreifung beziehen, d.h. aus den benannten Tatsachen muss sich ergeben, dass die Ergreifung voraussichtlich misslingen wird.Diesen Vorgaben genügt das Antragsvorbringen nicht. Die Antragstellerin macht geltend, die Durchsuchungsmaßnahme müsse um 4:30 Uhr beginnen, weil es sonst nicht möglich wäre das Flugzeug, mit dem die Abschiebung durchgeführt werden soll, rechtzeitig vor dem Abflug zu erreichen. Damit macht sie schon nicht geltend, die Ergreifung der Antragsgegner könne voraussichtlich nur zur Nachtzeit gelingen. Denn die Abflugzeiten der gebuchten Maschine haben mit den zeitlichen Möglichkeiten die Antragsgegner zu ergreifen, nichts zu tun.Vielmehr soll hier ein angeblicher Sachzwang "Abflugzeit" bemüht werden, um den verfassungsrechtlich gebotenen und einfachrechtlich gewährten Schutz vor Verletzung der Unverletzlichkeit der Wohnung zu umgehen. Dass dies nicht angängig ist, wird auch auf der Ebene des einfachen Rechts klargestellt. So ist es nach § 58 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ausgeschlossen, die Organisation der Abschiebung als Tatsache im Sinne des Satz 1 anzusehen. Bloße Organisationserwägungen rechtfertigen mithin kein nächtliches Betreten oder gar Durchsuchen von Wohnungen des abzuschiebenden Ausländers (Dollinger in Bergmann/Dienelt zu § 58 AufenthG Rz. 39).

Die Ausländerbehörde wird also ihre Planungen der Abschiebewege und –mittel an diesen rechtlichen Vorgaben ausrichten müssen, und nicht umgekehrt.Soweit hiergegen vertreten wird, der Begriff der "Organisation" lege nahe, dass es hierbei nur um Umstände gehen könne, die die handelnde Ausländerbehörde auch organisieren könne, wozu Abflugzeiten von Flugzeugen nicht gehörten, geht dies fehl (so VG Trier, Beschluss vom 17. September 2019, - 11 N 4019/19 -, Beschlussabdruck S. 3).

Denn die Verantwortung für die Durchführung einer Abschiebung liegt bei der Ausländerbehörde. Sie bucht den Flug und legt damit den zeitlichen Rahmen für vorbereitende Maßnahmen fest. Selbst wenn – wie in Nordrhein-Westfalen gem. § 15Abs. 6 ZustAVO – die Aufgabe der Zentralen Flugabschiebung einer besonderen Stelle – hier der Zentralen Ausländerbehörde C – übertragen wird, beschränkt sich deren Aufgabe in der Unterstützung des Landes und der unteren Ausländerbehörden bei der Rückführung von Ausreisepflichtigen auf dem Luftweg. Weder die Verantwortung noch die Gestaltungsmöglichkeiten gehen insoweit über. Konkret ist es am 00.00.2020 auch gerichtsbekannt so, dass es durchaus Flüge von nordrhein-westfälischen oder angrenzenden Flugplätzen nach Tirana/Albanien gibt, die später am Tag starten und daher die Zuführung unter Einhaltung des Verbots der Durchsuchung zur Nachtzeit ermöglichten. Die Umdeutung der gesetzgeberischen Klarstellung im § 58 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in ihr Gegenteil ist nicht angängig. [...]