BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 08.09.2020 - 1 B 31.20 - asyl.net: M29055
https://www.asyl.net/rsdb/M29055
Leitsatz:

Keine Bindungswirkung der Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten für eine folgende Zulässigkeitsprüfung eines Asylantrags:

"1. [...]

2. Eine rechtskräftig gewordene verwaltungsgerichtliche Verpflichtung zur Feststellung des nationalen ausländerrechtlichen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG entfaltet keine Rechtskraft- oder Bindungswirkung (§ 121 VwGO) bei der Prüfung, ob der Rechtmäßigkeit einer Unzulässigkeitsentscheidung wegen bereits erfolgter Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat in unionsrechtskonformer Einschränkung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (dazu BVerwG, Urteil vom 21. April 2020 - 1 C 4.19 -) entgegensteht, dass den Antragsteller in dem Mitgliedstaat, der den Schutz gewährt hat, Lebensumstände erwarten, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC gleichkommen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: internationaler Schutz in EU-Staat, Abschiebungsverbot, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Berufungszulassungsantrag, Anschlussberufung, Bindungswirkung, Rechtskraft, Grundsätzliche Bedeutung, Revision,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, AsylG § 29 Abs.1 Nr. 2, GR-Charta Art. 4, RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Bst. a, VwGO § 121, VwGO § 130b,
Auszüge:

[...]

6 2.1 Die Beschwerde hält zunächst für klärungsbedürftig, "ob eine rechtskräftig gewordene Verpflichtung zur Feststellung des nationalen ausländerrechtlichen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG Bindungswirkung bei der Prüfung vorrangiger Schutztatbestände entfaltet, namentlich im Rahmen der Feststellung, ob gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ein Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen ist, Bindungswirkung dahin, dass gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union dann nicht auf die Befugnis aus Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU zurückgegriffen werden kann".

13 b) Die aufgeworfene Frage bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren, weil sie unter Heranziehung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Bindungswirkung rechtskräftiger Urteile nach § 121 VwGO auch ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens dahin beantwortet werden kann, dass eine solche Feststellungs- oder Bindungswirkung nicht besteht.

14 aa) Gemäß § 121 VwGO entfalten rechtskräftige Urteile Bindungswirkung nur insoweit, als über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Insoweit ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass Streitgegenstand der prozessuale Anspruch ist, der durch die erstrebte, im Klageantrag zum Ausdruck gebrachte Rechtsfolge sowie den Klagegrund, nämlich den Sachverhalt, aus dem sich die Rechtsfolge ergeben soll, gekennzeichnet ist. Die gerichtliche Entscheidung ist demgemäß die im Entscheidungssatz des Urteils sich verkörpernde Rechtsfolge als Ergebnis der Subsumtion des Sachverhalts unter das Gesetz, also der konkrete Rechtsschluss vom Klagegrund auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen der begehrten Rechtsfolge anhand des die Entscheidung unmittelbar tragenden Rechtssatzes. Auf diesen unmittelbaren Gegenstand des Urteils ist die Rechtskraft beschränkt. § 121 VwGO verhindert, dass eine derartige gerichtliche Entscheidung in einem weiteren Verfahren zwischen denselben Beteiligten einer erneuten Sachprüfung zugeführt werden kann. Hingegen erstreckt sich die Rechtskraft nicht auf die einzelnen Urteilselemente, also nicht auf die tatsächlichen Feststellungen, die Feststellung einzelner Tatbestandsmerkmale und sonstige Vorfragen oder Schlussfolgerungen, auch wenn diese für die Entscheidung tragend gewesen sind. Folglich erfasst die Rechtskraftwirkung eines Urteils nur dann einen zwischen denselben Beteiligten anhängigen anderen prozessualen Anspruch, wenn die im Urteilsausspruch zum Ausdruck kommende Rechtsfolge im dargestellten Sinne für diesen Anspruch vorgreiflich ist. Bestimmte rechtliche Vorfragen, die sowohl für den rechtskräftig entschiedenen als auch für den anderen Anspruch von Bedeutung sind, begründen hingegen keine Vorgreiflichkeit in diesem Sinne (BVerwG, Urteil vom 10. Mai 1994 - 9 C 501.93 - BVerwGE 96, 24 <25 ff.> m.w.N.).

15 bb) Bei zutreffender Anwendung dieser nicht weiter klärungsbedürftigen Grundsätze kommt der Rechtskraft des einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG bejahenden verwaltungsgerichtlichen Urteils keine bindende Wirkung in Bezug auf die hier in Rede stehende Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu.

16 Die hier durch das Urteil des Verwaltungsgerichts ausgesprochene Rechtsfolge besteht in der Verpflichtung des Bundesamts zu der behördlichen Feststellung, dass aufgrund des vom Verwaltungsgericht festgestellten Sachverhalts für die Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Bulgariens vorliegen. Dieser prozessuale Anspruch ist nicht identisch mit dem von den Klägern im Berufungsverfahren weiterverfolgten Begehren. Die erstinstanzliche Verpflichtung zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots in Bezug auf Bulgarien ist für die im Berufungsverfahren von den Klägern begehrte Aufhebung der vom Bundesamt wegen des ihnen in Bulgarien gewährten internationalen Schutzes  erlassenen Unzulässigkeitsentscheidung auch nicht vorgreiflich, denn § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG macht eine Unzulässigkeitsentscheidung wegen des bereits in einem anderen Mitgliedstaat gewährten internationalen Schutzes nicht von der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots in Bezug auf diesen Mitgliedstaat abhängig. Soweit das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG mit einer den Klägern in Bulgarien drohenden unmenschlichen Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK begründet hat, hat es lediglich eine Vorfrage beantwortet, die sich über Art. 4 GRC zwar auch bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG stellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2020 - 1 C 4.19 - juris, im Anschluss an EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim u.a. - und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:964], Hamed und Omar). Die - zudem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG stets auf den jeweiligen Entscheidungszeitpunkt bezogene - Feststellung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse in einem Mitgliedstaat nimmt - ungeachtet des heranzuziehenden Prüfungsmaßstabs - als Urteilselement aber nicht an der Rechtskraft teil.

17 Der im rechtlichen Ansatz identische Prüfungsmaßstab, an dem entscheidungserhebliche (Vor-)Fragen jeweils zu beurteilen sind, ist für eine Erstreckung der Rechtskraftbindung unerheblich. Der Maßstabsidentität kann ein Rechtsmittelgericht, wenn es nach rechtskräftiger erstinstanzlicher Verpflichtung des Bundesamts zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nur noch über die Rechtmäßigkeit einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu entscheiden hat, allerdings dadurch Rechnung tragen, dass es sich der Beurteilung von Vorfragen durch das Verwaltungsgericht nach eigener Prüfung anschließt und entsprechend § 130b VwGO auf diese Beurteilung in seiner Entscheidung verweist. Dies setzt allerdings voraus, dass keine neuen entscheidungserheblichen Tatsachen zutage getreten sind, die besonderer Erörterung bedürfen. [...]