Rückholung einer rechtswidrig nach Bulgarien abgeschobenen Person:
Ein öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch auf Rückgängigmachung einer Abschiebung besteht auch dann, wenn erst nach Vollzug der Abschiebung festgestellt wird, dass hinsichtlich des Zielstaats ein Abschiebungsverbot besteht.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
1 Der Kläger begehrt die Rückholung in die Bundesrepublik Deutschland nach einer Abschiebung in die Republik Bulgarien. [...]
22 Die zulässige Klage ist begründet.
23 Der Kläger hat einen Anspruch gegen den Beklagten auf Rücküberstellung aus Bulgarien nach Deutschland aus dem öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch. Dieser stellt die materielle Grundlage für die Rückgängigmachung einer rechtswidrigen Abschiebung dar (vgl. Verwaltungsgericht München, Beschluss vom 08.08.2019 – M 18 E 19.32238 –, juris Rn. 27). Ein derartiger Anspruch setzt voraus, dass durch einen hoheitlichen Eingriff in ein subjektives Recht ein rechtswidriger Zustand geschaffen wurde, der noch andauert. [...]
26 Durch das hoheitliche Handeln wurde auch ein rechtswidriger Zustand geschaffen. Der Folgenbeseitigungsanspruch knüpft nicht allein an die Rechtswidrigkeit des Eingriffsaktes an, sondern an die Rechtswidrigkeit des dadurch geschaffenen Zustandes (vgl. Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 03.06.2020 - 2 M 35/20 -, juris Rn. 54). Hier ist der geschaffene Zustand in Form der zwangsweisen Anwesenheit des Klägers in Bulgarien rechtswidrig.
27 Die Rechtswidrigkeit des geschaffenen Zustandes ergibt sich aus der mittlerweile erfolgten Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG durch das Bundesamt. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, im Folgenden: EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Aus dem derzeit bestehenden Abschiebungsverbot folgt, dass eine Abschiebung nach Bulgarien aktuell unzulässig ist, da sie gegen Art. 3 EMRK verstößt. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Danach folgt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) auch die Verpflichtung der Konventionsstaaten, den Betroffenen nicht in ein Land abzuschieben, für welches stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. EGMR, Urteil vom 13.12.2016 – 41738/10 –, juris). Ein rechtswidriger Zustand ist dadurch eingetreten, dass der Kläger sich in Folge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung entgegen der Feststellungen des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts im Asylverfahren sowie des Bundesamtes - unfreiwillig - in Bulgarien aufhält.
28 Die Feststellung des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG entfaltet auch noch Wirksamkeit, insbesondere ist die Entscheidung nicht widerrufen worden. Es besteht insoweit eine Bindungswirkung nach § 42 Satz 1 AsylG.
29 Der Annahme der Rechtswidrigkeit steht auch nicht entgegen, dass die Entscheidungen hinsichtlich eines Abschiebungsverbotes zeitlich erst nach der erfolgten Abschiebung ergingen. Dieser Umstand schließt die Einordnung des Zustandes als rechtswidrig nicht aus. Bei der Frage der Rechtswidrigkeit des andauernden Zustandes ist auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zum Folgenbeseitigungsanspruch abzustellen (vgl. Riese in: Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, 38. EL Januar 2020, § 113 Rn. 91). Zum jetzigen Zeitpunkt sind die oben genannten Entscheidungen hinsichtlich des Abschiebungsverbotes bereits ergangen und daher zu berücksichtigen. Des Weiteren dauert der rechtswidrige Zustand noch an, da der Kläger sich derzeit in Bulgarien aufhält. Durch den erzwungenen Aufenthalt in Bulgarien wird die Folge der Abschiebung täglich perpetuiert.
30 Der Anspruch auf Beseitigung der rechtswidrigen Folgen ist auch nicht durch rechtliche oder tatsächliche Unmöglichkeit ausgeschlossen. Es ist dem Beklagten durchaus möglich, den vorherigen Zustand wiederherzustellen. Der Kläger kann jederzeit in die Bundesrepublik Deutschland zurückgeholt werden. Auch die Wirkungen der Ausweisung und der Abschiebung, die zu einem Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG führen, schließen einen Folgenbeseitigungsanspruch des Klägers nicht aus (a.A.: Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 02.10.2009 – 3 B 345/08 –, juris, das davon ausgeht, dass eine Sperrwirkung durch die Abschiebung ausgelöst wird, wenn der Ausländer ausreisepflichtig und er damit seinerzeit zu Recht abgeschoben worden war). Erfolgt eine Abschiebung unter Missachtung eines Abschiebungshindernisses oder - wie hier - entgegen eines Anspruchs auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG und erweist sich daher als rechtswidrig, kann sich die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 AufenthG aus Gründen effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG nicht entfalten (vgl. Verwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 15.02.2019 - 3 L 167/19 -, juris Rn. 49). Maßgeblich ist insoweit die Erwägung, dass es rechtsstaatlichen Grundsätzen zuwiderliefe, einem Behördenhandeln, das einen rechtswidrigen Zustand herbeigeführt hat, als solchem Sperrwirkung für die Möglichkeit einer Rückabwicklung beizumessen. Denn dies würde den begangenen Rechtsverstoß perpetuieren und vertiefen. Hieraus folgt, dass dem Kläger das Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 AufenthG nicht entgegengehalten werden kann (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.08.2018 – 17 B 1029/18 –, juris Rn. 33). Abgesehen davon stünde die etwaige Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 AufenthG einer Rückholung des Klägers deshalb nicht entgegen, weil ihm zu diesem Zweck eine Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erteilt werden könnte (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.08.2018 – 17 B 1029/18 –, juris Rn. 34). [...]
32 Weiterhin liegt auch keine Mitverantwortung des Klägers nach dem allgemeinen Rechtsgedanken des § 254 BGB vor. Im Gegenteil hat der Kläger versucht, die Abschiebung zu verhindern. Er hat gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch genommen. Dass der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen den Bescheid vom 16.04.2018 am 27.04.2018 und damit erst einen Tag nach der Vollziehung der Abschiebung gestellt wurde, ist dem Kläger nicht im Rahmen des Mitverschuldens anzulasten. Auch in den dringenden Fällen des einstweiligen Rechtsschutzes ist dem jeweiligen Antragsteller ein kurzer Zeitraum zur Entscheidung des weiteren Vorgehens und der Ausarbeitung der entsprechenden sachdienlichen Anträge zuzugestehen. Auch eine Beratung mit der Prozessbevollmächtigten musste dem Kläger möglich sein. [...]
34 In der Rechtsfolge zielt der Folgenbeseitigungsanspruch auf die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes durch Beseitigung der unmittelbaren Folgen. Zur Beseitigung der Folgen ist der Beklagte danach verpflichtet, den Kläger unverzüglich wieder nach Deutschland zu verbringen. Dabei dürfen dem Kläger keine Kosten entstehen. Der Beklagte wird daher verpflichtet, die Folgen der Abschiebung am 26.04.2018 rückgängig zu machen, indem er das seinerseits erforderliche und mögliche veranlasst, damit dem Kläger die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland möglich wird. Dies kann entweder durch Zustimmung zur Erteilung eines Einreisevisums durch die dafür zuständige Auslandsvertretung nach § 31 AufenthV oder durch Erteilung einer Betretenserlaubnis nach §11 Abs. 8 AufenthG erfolgen (vgl. Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 19.12.2002 – 14 B 86/02 –, juris). [...]