VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 31.08.2020 - A 12 K 815/18 - asyl.net: M29078
https://www.asyl.net/rsdb/M29078
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen jungen Afghanen, der sich der Rekrutierung als Selbstmordattentäter durch das Haqqani-Netzwerk entzogen hat:

1. Der Kläger war vor seiner Ausreise flüchtlingsrelevanter Verfolgung ausgesetzt, da die Taliban versucht haben, ihn als Selbstmordattentäter auszubilden und er in diesem Zusammenhang entführt und misshandelt wurde. Stichhaltige Gründe, die dagegen sprechen, dass der Kläger bei einer Rückkehr erneut einer solchen Verfolgung ausgesetzt sein wird, liegen nicht vor.

2. Der Kläger kann nicht auf eine innerstaatliche Schutzalternative verwiesen werden, da er aufgrund seiner schweren psychischen Erkrankung in den übrigen Landesteilen Afghanistans seine Existenz nicht sichern könnte.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Haqqani-Netzwerk, Taliban, Zwangsrekrutierung, interne Fluchtalternative, Schutzfähigkeit, Flüchtlingsanerkennung, psychische Erkrankung, interner Schutz, nichtstaatliche Verfolgung, Posttraumatische Belastungsstörung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

2. In Anwendung dieser rechtlichen Vorgaben hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG, da er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist.

a) Der Kläger befindet sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Religion bzw. politischen Überzeugung außerhalb seines Herkunftslandes Afghanistan. Er kann sich insoweit auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4. RL 2011/95/EU berufen.

aa) Das Gericht ist aufgrund der persönlichen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung sowie unter Würdigung des gesamten Akteninhalts davon überzeugt, dass der Kläger vor seiner Ausreise aus Afghanistan einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt gewesen ist. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung ausgesprochen detailreich, emotional und für das Gericht nachvollziehbar davon berichtet, wie sein Vater aufgrund dessen Tätigkeit als Fahrer für die Truppen der NATO von den Taliban zuerst bedroht und schließlich ermordet wurde. Zudem hat er vorgetragen, wie die Taliban rund eine Woche später erneut zu ihnen kamen, ihn bewusstlos schlugen und sodann in eines ihrer Trainingslager verschleppten, wo sie ihn mit weiteren jungen Männern 32 Tage gefangen hielten und misshandelten, um ihn zu einem Selbstmordattentäter auszubilden. Die diesbezüglichen Schilderungen wirkten durchgehend plausibel und authentisch und zeichneten sich insgesamt durch eine Vielzahl von Realkriterien aus. [...]

bb) Stichhaltige Gründe, die dagegen sprechen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr erneut einer solchen Verfolgung ausgesetzt sein wird, hat die Beklagte weder vorgetragen, noch sind solche für das Gericht ersichtlich.

b) Dem Kläger steht auch keine innerstaatliche Schutzalternative im Sinne des § 3e AsylG zur Verfügung. Dabei kann hier unerörtert bleiben, ob eine solche Schutzalternative für den Kläger schon deshalb ausscheidet, weil er aufgrund der ihm in der Provinz Nangarhar widerfahrenen Vorverfolgung auch in den übrigen Landesteilen Afghanistans mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung durch die Taliban zu fürchten hat. Denn jedenfalls kann von ihm nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in einem anderen Landesteil Afghanistans niederlässt. Dies gilt insbesondere für die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif, da davon auszugehen ist, dass er aufgrund der dortigen humanitären Verhältnisse und seiner schweren psychischen Erkrankung nicht dazu in der Lage wäre, ein die Gewährleistungen des Art. 3 EMRK wahrendes Existenzminimum zu sichern (vgl. zu diesem Maßstab VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 29.10.2019 - A 11 S 1203/19 -, juris; Urt. v. 29.11.2019 - A 11 S 2376/19 -, juris). [...]

bb) Das Gericht ist aufgrund des von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks, seinen Angaben zu seinem bisherigen Lebensweg sowie der vorgelegten ärztlichen Atteste und Bescheinigungen der Überzeugung, dass der Kläger an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer wiederkehrenden depressiven Störung leidet, die einen ganz außerordentlichen individuellen Umstand im vorgenannten Sinne begründet. [...]