OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 03.11.2020 - 1 LB 28/20 - asyl.net: M29080
https://www.asyl.net/rsdb/M29080
Leitsatz:

Zu den Voraussetzungen für das Vorliegen eines unzulässigen Zweitantrags:

"1. Ein Zweitantrag i.S.d. § 71a AsylG liegt vor, wenn ein Asylverfahren im sicheren Drittstaat erfolglos abgeschlossen ist. Es kommt nicht darauf an, ob auch das jüngste Folgeverfahren abgeschlossen ist. [...].

2. Für die Frage, zu welchem Zeitpunkt das Asylverfahren im Sinne von § 71a AsylG abgeschlossen sein muss, ist auf den Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs und nicht auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung abzustellen.

3. Die Anwendung des § 71a AsylG erfordert darüber hinaus im Hinblick auf die Definition des sicheren Drittstaats in Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG, dass das erfolglos abgeschlossene Asylverfahren im Einklang mit der Grundrechte-Charta, den Regeln des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der EMRK durchgeführt worden ist.

4. § 71a Abs. 1 AsylG steht offensichtlich mit EU-Recht, insbesondere mit Art. 33 Abs. 2 lit. d und Art. 2 lit q der Verfahrensrichtlinie, im Einklang, so dass es eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV nicht bedarf (entgegen VG Schleswig und der Stellungnahme der Europäischen Kommission in dem Ersuchen um Vorabentscheidung C-8/20 vom 27.07.2020)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Zweitantrag, Unanfechtbarkeit, Asylverfahren, Unzulässigkeit, Abschluss, Drittstaatenregelung, Europäische Grundrechtecharta, Dublinverfahren,
Normen: AsylG § 71a, RL 2013/32/EU Art. 33, RL 2013/32/EU Art. 2, VO 604/2013, GG Art. 16a Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht hinsichtlich des Anfechtungsantrags stattgegeben. Der angefochtene Bescheid vom 15.02.2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen einer Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 71a AsylG i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG gegeben sind (I.). [...]

I. Die Beklagte hat den Asylantrag des Klägers zu Recht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abgelehnt.

Rechtsgrundlage für die angefochtene Unzulässigkeitsentscheidung ist § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG i.V.m. § 71a Abs. 1 AsylG. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag unter anderem dann unzulässig, wenn im Falle eines Zweitantrags nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Ein Zweitantrag liegt nach § 71a Abs. 1 AsylG vor, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag stellt. [...]

1. Der vom Kläger am 29.03.2018 in Deutschland gestellte Asylantrag stellt einen Zweitantrag i.S.d. § 71a Abs. 1 AsylG dar.

a) Österreich ist als Mitgliedstaat der Europäischen Union ein sicherer Drittstaat im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG, für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten. Denn die Beurteilung der internationalen Zuständigkeit richtet sich nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO).

b) Das Asylverfahren des Klägers in Österreich war im maßgeblichen Zeitpunkt auch erfolglos abgeschlossen i.S.d. § 71a AsylG.

Ein erfolgloser Abschluss des in einem anderen Mitgliedstaat betriebenen Asylverfahrens setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist (BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4.16, juris Rn. 29). Umstritten und in der ober- bzw. höchstgerichtlichen Rechtsprechung noch nicht geklärt ist dabei die Frage, ob für den erfolglosen Abschluss des Asylverfahrens im Drittstaat bereits auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland oder erst auf den Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs auf die Bundesrepublik Deutschland nach der Dublin III-VO abzustellen ist (vgl. zum Streitstand z.B.: VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 21.07.2020 - 9a L 916/20.A, juris Rn. 17 f. m.w.N.; Dickten, in: BeckOK, Ausländerrecht, 27. Ed. 01.10.2020, AsylG § 71a Rn. 4; ausdrücklich offengelassen wird die Frage vom BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4.16, juris Rn. 40).

Diese Frage muss im vorliegenden Verfahren aber nicht entschieden werden, da das Asylverfahren des Klägers auch schon bei Stellung des Asylantrages in Deutschland, also im frühestmöglichen Zeitpunkt, abgeschlossen war. Dafür reicht der Abschluss eines Asylverfahrens in dem das Vorbringen des Klägers inhaltlich vollumfänglich geprüft worden ist. Es müssen nicht auch spätere Folgeverfahren abgeschlossen sein. Dafür spricht bereits der Wortlaut des § 71a AsylG sowie des Art. 2 lit. q der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (im Folgenden: Verfahrensrichtlinie). Beide Vorschriften verlangen den Abschluss lediglich "eines" Asylverfahrens (§ 71a AsylG) bzw. den Erlass lediglich "einer" bestandskräftigen Entscheidung (Art. 2 lit. q der Verfahrensrichtlinie) und nicht etwa auch den Abschluss sämtlicher Folgeverfahren.

Auch Sinn und Zweck der Vorschriften stützen dieses Verständnis. [...]

Ungeachtet dessen wäre vorliegend ohnehin entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts nicht auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung, sondern auf den Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs abzustellen.

Für den Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland spricht zwar der Wortlaut des § 71a Abs. 1 AsylG. Dieser legaldefiniert den Zweitantrag dahingehend, dass der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat im Bundesgebiet einen Asylantrag stellt. Aus diesem Grunde geht eine nicht unerhebliche Anzahl von erstinstanzlichen Gerichten vom Zeitpunkt der Asylantragstellung als maßgeblichem Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage eines erfolglos abgeschlossenen Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat aus (vgl. neben dem Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen in der angefochtenen Entscheidung z.B. VG Regensburg, Urt. v. 08.08.2018 - K 18.31824, juris Rn.12; VG Augsburg, Beschl. v. 09.07.2018 - Au 4 S 18.31170, juris; VG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 13.07.2017 - 6 L 665/17.A, juris).

Aus der Systematik der Norm folgt jedoch, dass ein Zweitantrag im Sinne des § 71a AsylG nur vorliegen kann, wenn Deutschland auch für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig (geworden) ist. Dies ist nämlich notwendige Bedingung für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens. Gemeint ist hiermit die (internationale) Zuständigkeit Deutschlands für die Prüfung des Asylantrages nach Maßgabe der Dublin III-VO oder auf Grund von anderen Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: 117. Lfg. Sept. 2020, § 71a AsylG Rn. 7 ff., 16) und nicht die Zuständigkeit Deutschlands für die Prüfung seiner Zuständigkeit, die ohnehin bei jeder Asylantragstellung in Deutschland gegeben ist (vgl. VG Hannover, Beschl. v. 07.02.2019 - 3 B 217/19, juris Rn. 31).

Liegt diese Voraussetzung der (internationalen) Zuständigkeit Deutschlands nicht vor, ist eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu treffen. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO oder auf Grund von anderen Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Eine solche Entscheidung nach dem Handlungsregime der Dublin III-VO ist gegenüber einer Entscheidung nach § 71a AsylG i. V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG vorrangig (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4.16, juris Rn. 18). Dies folgt zum einen aus der Intention des europäischen Asylsystems, grundsätzlich nur die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für die Prüfung eines Asylantrages zu begründen (vgl. Erwägungsgrund 40 der Dublin III-VO). Zum anderen folgt dieser Vorrang daraus, dass die Dublin III-VO nicht dazu berechtigt, an einen Zuständigkeitsübergang einen Verlust des Rechts auf eine unbeschränkte, nicht nach Folgeantragsgrundsätzen erfolgende Antragsprüfung zu knüpfen, wenn dieses Recht im zuvor zuständigen Staat nach dem dort geltenden Asylverfahrensrecht noch bestand (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4.16, juris Rn. 34). Demnach kann im Falle einer Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG auch kein Zweitantrag im Sinne des § 71a Abs. 1 i V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG gegeben sein. Ein Zweitantrag kann vielmehr begriffsimmanent nur vorliegen, wenn die Zuständigkeit Deutschlands begründet worden ist. Folglich ist für die Frage des erfolglosen Abschlusses eines in einem Mitgliedstaat durch-geführten Asylverfahrens – jedenfalls in den Fällen, in denen die Zuständigkeit erst nach Antragstellung auf die Bundesrepublik Deutschland übergeht – auf eben diesen Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs abzustellen (vgl. VG Hannover, Beschl. v. 07.02.2019 - 3 B 217/19, juris Rn. 32). [...]

c) Die Anwendung des § 71a AsylG erfordert darüber hinaus im Hinblick auf die Definition des sicheren Drittstaats in Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG, dass das erfolglos abgeschlossene Asylverfahren im Einklang mit der Grundrechte-Charta, den Regeln des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge – Genfer Flüchtlingskonvention – und der EMRK durch-geführt worden ist (OVG Rh.-Pf., Beschl. v. 01.07.2020 - 13 A 10424/19, juris Rn. 30 m.w.N.). Grundsätzlich gilt auch aufgrund des Prinzips gegenseitigen Vertrauens die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedsstaat im Einklang mit den Erfordernissen der bei der Durchführung von Unionsrecht stets anzuwendenden Charta der Grundrechte der Europäischen Union – GRCh – sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17, juris Rn. 82 f. und v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10, juris Rn. 78 ff.). [...]

Der Berücksichtigung eines Erstverfahrens im Rahmen des § 71a AsylG kann der Asylbewerber zwar begegnen, aber nur mit dem Ein-wand systemischer Mängel des Asylverfahrens (vgl. OVG Rh.-Pf., Beschl. v. 01.07.2020 - 13 A 10424/19, juris Rn. 35 m.w.N.; Funke-Kaiser, GK-AsylG, Stand Mai 2020, § 71a Rn. 20). Es kommt daher nicht darauf an, ob es unterhalb der Schwelle systemischer Mängel in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK kommen kann und ob ein Asylbewerber dem in der Vergangenheit schon einmal ausgesetzt war; derartige individuelle Erfahrungen sind vielmehr lediglich in die Gesamtwürdigung einzubeziehen, ob systemische Mängel vorliegen (BVerwG, Beschl. v. 06.06.2014 - 10 B 35.14, juris [zur Überstellung nach der Dublin II-VO]). Systemische Schwachstellen müssen nicht nur strukturell bedingt sein, sondern außerdem aus der Sicht des nun befassten Staates offensichtlich sein (vgl. zu letzterem EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10, juris Rn. 94). Es müssen Defizite vorliegen, die vorhersehbar sind, weil sie im Rechtssystem des jeweiligen Mitgliedsstaates angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen. Die Bedingungen im zuständigen Mitgliedstaat müssen auf Grund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sein, dass an-zunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG. Beschl. v. 19.03.2014 - 10 B 6.14, juris Rn. 9). [...]

4. § 71a Abs. 1 AsylG steht auch offensichtlich mit EU-Recht, insbesondere mit Art. 33 Abs. 2 lit. d und Art. 2 lit. q der Verfahrensrichtlinie, im Einklang, so dass es eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV nicht bedarf ("acte clair" so auch: OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 13.10.2020 - VG 6 N 89/20, juris Rn. 24; SächsOVG, Beschl. v. 27.07.2020 - 5 A 638/19.A, juris Rn. 12, 15 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 22.10.2018 - OVG 12 N 70.17, juris Rn. 7; offen gelassen durch BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - BVerwG 1 C 4.16, juris Rn. 26 unter Hinweis auf Marx, AsylG, 9. Aufl., § 71a Rn. 3 ff.; vgl. auch die Schlussanträge des Generalanwalts Y. Bot vom 13.06.2018 - C-213/17, juris Rn. 102, 107; a.A.: VG Schleswig, Beschl. v. 15.09.2020 - 13 A 663/19, juris und Beschl. v. 30.12.2019 - 13 A 392/19, juris; a.A. auch: Stellungnahme der Europäischen Kommission in dem Ersuchen um Vorabentscheidung C-8/20 vom 27.07.2020). [...]