VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 23.11.2020 - 2 K 22386/17 Me - asyl.net: M29084
https://www.asyl.net/rsdb/M29084
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für atheistischen Palästinenser aus Gaza:

Einer Person aus Gaza, die sich vom islamischen Glauben abgewandt und in identitätsprägender Weise eine atheistische Weltanschauung angenommen hat, ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da ihr in Gaza flüchtlingsrelevante Verfolgung droht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Palästinensische Gebiete, Gaza, Atheisten, Apostasie, Blasphemie, religiöse Verfolgung, negative Religionsfreiheit, Religionsfreiheit,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 Asy1G für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. Der Bescheid des Bundesamtes ist daher, soweit er angefochten wurde, rechtswidrig, verletzt den Kläger in seinen Rechten und war insoweit aufzuheben, als er dem entgegensteht (vgl. § 113 Abs. 5, Abs. l S. 1 VwGO).

1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG liegen vor. [...]

b) Gemessen an den vorstehend geschilderten Anforderungen rechtfertigen die vom Kläger gegenüber dem Bundesamt vorgetragenen Gründe, die er im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 23.11.2020 erläutert und ergänzt hat, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Gericht geht aufgrund der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse, insbesondere unter Berücksichtigung der glaubhaften und substantiierten Ausführungen des Klägers zu seiner Weltanschauung, davon aus, dass er im Falle seiner Rückkehr in den Gazastreifen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund seiner Religion von Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG bedroht ist.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion auch atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Als Verfolgungen im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). [...]

Gemessen an den vorstehenden Grundsätzen gelangt der Einzelrichter im konkreten Fall des Klägers zu der nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderlichen Überzeugungsgewissheit, dass sich dieser aus einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel heraus von seinem sunnitischen Glauben abgewandt hat.

Die Gefahren, die in Gaza bereits mit religionskritischen Äußerungen und einem Verhalten verbunden sind, das nicht vollständig mit den Vorstellungen einer islamisch geprägten Gesellschaft in Übereinstimmung steht, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung nachdrücklich dargestellt und mit seinem persönlichen Erleben bestätigt. Dabei steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die religionskritischen Äußerungen des Klägers einer atheistischen Weltanschauung entspringen, die er für sich als unbedingt innerlich verpflichtend ansieht. Der Kläger hat - auch auf Deutsch - eindrücklich geschildert, dass er, der in einer konservativ-islamischen Familie aufgewachsen sei und die islamischen Rituale somit zwangsläufig habe ausüben müssen - einschließlich einer Zwangsheirat und dem Einschreiben an einer islamischen Universität -, sich Anfang 2014 endgültig vom Islam abgewandt habe, nachdem er - nach einer Zeit des Betens und der Gottsuche - erkannt habe, dass die Religion im Widerspruch zur Wissenschaft stehe. Anschließend hätte sich eine Fülle von Fragen gestellt, die vorher ganz selbstverständlich durch den Koran beantwortet gewesen seien, wie die Frage nach der Herkunft von Moral und Bewusstsein. Seine religionskritische Haltung hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung auch mit philosophischen Überlegungen und Fragen der Theodizee begründet, so der Frage, wie es einem gerechten Gott entsprechen könne, Muslime mit Privilegien in einem unendlichen Paradies zu verwöhnen, während alle anderen in der Hölle verbrannten, wo doch die Menschen, die in eine bestimmte Gesellschaft hineingeboren würden, sich ihre Religion nicht aussuchen könnten. Durch seine religionskritischen Äußerungen und sein Verhalten ist der Kläger bereits in Gaza aufgefallen. Zwar hat der Kläger während seiner Arbeit an der Universität durchaus auf Rituale und Gebete geachtet. Er hat in der mündlichen Verhandlung angegeben, täglich zweimal in die Moschee beten gegangen zu sein, so wie alle anderen Angestellten der Universität auch. Er habe sich aber von den anderen dadurch unterschieden, dass er anders angezogen gewesen sei und anders geredet habe. Er habe im Kollegenkreis über Wissenschaft und Toleranz gegenüber anderen Religionen, insbesondere dem Christentum, geredet. Schließlich sei sein Vertrag an der Universität nicht verlängert worden. Andere Arbeitsmöglichkeiten hätten sich ihm in Gaza nicht wirklich geboten, da auch weniger islamisch geprägte Universitäten und Institutionen Atheisten in ihren Reihen nicht dulden würden. Bereits 2012 sei er von Polizisten geschlagen und als Gottloser beschimpft worden, nachdem er einen Diebstahl angezeigt habe und die Polizisten bei ihm zu Hause - da er Raucher sei - Rauch festgestellt und dann auch vermutet hätten, dass er nicht faste. Auch habe er eine Vorladung bekommen, weil er sich 2012 mit einem Mädchen in einer Gaststätte getroffen habe. Zugleich geriet der Kläger zuletzt - nach seinem Vorbringen - auch in seiner von ihm als "Zwangsheirat" bezeichneten Ehe in eine sehr problematische Lage, als es hier zu ständigen Streitigkeiten gekommen sei, er sich aber von seiner Ehefrau nicht habe scheiden lassen können. Seine Frau habe Verdacht geschöpft, aber über seinen Atheismus nicht Bescheid gewusst. In Deutschland habe er sich dann frei gefühlt und sich im Internet offen gegen den Islam äußern können. Auf Facebook habe er sich über Menschenrechte und Frauenrechte und die Gleichstellung von Mann und Frau geäußert. Er habe Reden Mohammeds zitiert, in denen der Wert der Frau herabgesetzt worden sei. Er habe über den Islam und die Wissenschaft geschrieben. Hinsichtlich eines Verses aus dem Koran, in dem die Erde als das Zentrum des Sonnensystems bezeichnet worden sei, habe er die Frage gestellt, wie sich ein guter Gott in einer so eindeutigen Angelegenheit einen solchen Fehler habe leisten können. In diesem Zusammenhang hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung auch seinen aufklärerischen Ansatz verdeutlicht. Der Kläger hat davon gesprochen, dass er jetzt in einem "freien Leben" angekommen sei und er sich in seinen Überzeugungen weiterentwickelt habe. Er hat auf verschiedene Autoren hingewiesen, die ihn beeinflusst hätten (so Richard Dawkins, Immanuel Kant, Stephen Hawking und Friedrich Nietzsche) und angegeben, viele Atheisten kennengelernt zu haben und Institutionen, die Atheisten unterstützten. So hat er Stellungnahmen des Säkulare Flüchtlingshilfe e.V. vorgelegt, für die er sich engagiert, und ein Schreiben von Waleed Al-Husseini (der bei EASO, a.a.O., Waleed Hasayin genannt wird) - der im Oktober 2010 von der Palästinensischen Autonomiebehörde wegen angeblicher Blasphemie gegen den Islam auf Facebook und in Blogposts verhaftet wurde und später in Frankreich erfolgreich Asyl beantragte (https://de.wikipedia.org/wiki/Waleed Al-Husseini) -, wonach sie seit 2016 auf Facebook in Kontakt seien. Hinsichtlich der von ihm im gerichtlichen Verfahren vorgelegten Ladungsbenachrichtigungen der palästinensischen Polizei in Gaza aus den Jahren 2018 und 2019 hat er in der mündlichen Verhandlung als Grund hierfür seine Aktivitäten auf Facebook angeführt. Sein Profil auf Facebook sei mit seinen Namen und seinem Lichtbild versehen. Die Ladungen seien zu ihm nach Hause geschickt worden - seine Ehefrau wohne bei seiner Mutter - und sein Freund habe diese Dokumente geholt und ihm geschickt. Der stimmige und glaubhafte Vortrag des Klägers wird durch die vorgelegten Dokumente gestützt.

Es wurde erkennbar, dass die atheistische Weltanschauung die Identität des Klägers prägt. Sein Sendungsbewusstsein und sein Bedürfnis, seine in wissenschaftlicher und philosophischer Auseinandersetzung gefestigte Meinung und Auffassung zur Religion deutlich und auch öffentlich zu äußern, waren in der mündlichen Verhandlung unverkennbar. Dem Kläger ging es nicht nur um eine säkulare Lebensweise, die ihn in vielfacher Weise mit den strengen Regeln des Islam, so wie sie im Gazastreifen gelebt werden, in Konflikt bringen würde. Vielmehr hat der Kläger seinen nunmehr von ihm als unverzichtbar empfundenen Nichtglauben als einen seine nichtreligiöse Identität prägenden Einstellungswandel wort- und detailreich verdeutlicht.

cc) Das Gericht ist aufgrund der insgesamt glaubhaften und substantiierten Ausführungen des Klägers zu der Überzeugung gelangt, dass er aufgrund seiner mittlerweile auch öffentlichen religionskritischen und atheistischen Äußerungen im Falle einer Rückkehr nach Gaza mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen ausgesetzt sein wird. Der Kläger hat in seiner Heimat bereits - auch als er sich noch nicht offen atheistisch geäußert hat - berufliche Nachteile in Kauf nehmen müssen. Sein nicht angepasstes Verhalten hat ihn schon mehrfach in Konflikt mit den Polizeikräften der Hamas gebracht. Seine Aktivitäten auf Facebook, in denen er sich nach seinen glaubhaften Angaben seit seiner Einreise in Deutschland jetzt offen atheistisch äußert, und die ihn Kontakt zu Waleed Al-Husseini haben finden lassen, haben nunmehr noch in besonderer Weise die Aufmerksamkeit der Polizeibehörden geweckt, wofür die vom Kläger vorgelegten Ladungsschreiben sprechen. Der Kläger hat seit seiner Ausreise aus Gaza seine Haltung noch gestärkt durch philosophische Lektüre und seine Betätigung und Mitgliedschaft in Vereinen wie der Säkularen Flüchtlingshilfe. Dass der Kläger eine Meinung hat, diese zu vertreten weiß und sich auch durchaus zu Wort meldet, hat er auch durch sein Auftreten in der mündlichen Verhandlung gezeigt. Im Falle einer Rückkehr nach Gaza würde es dem Kläger nur unter Verleugnung seiner nicht-religiösen Identität möglich sein, dass er - wie Ahmed Benchemsi, Chefredakteur von FreeArabs.com die Praxis nichtreligiöser Haltungen in Gaza beschreibt (laut EASO a.a.O.) - einer säkularen Lebensform durch soziale Heuchelei Raum gibt, die die Fassade der Religion wahrt. Dies würde aber bedeuten, dass er nur erzwungenermaßen, unter dem Druck drohender Verfolgung, auf die ihm allein entsprechende Lebensform verzichten würde. Wird er aber seine Religionslosigkeit - und die damit verbundene Abkehr vom Islam - aktiv ausüben, wovon auszugehen ist, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis er - sofern er nicht bereits durch Polizeikräfte der Hamas sanktioniert worden ist - massiven gesellschaftlichen Druck und die Gewalt von Extremisten zu spüren bekommen wird, wogegen er staatlichen Schutz nicht wird finden können. [...]