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VG Gera

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Zitieren als:
VG Gera, Urteil vom 27.10.2020 - 4 K 203/20 Ge - asyl.net: M29089
https://www.asyl.net/rsdb/M29089
Leitsatz:

Aufhebung eines Ablehnungsbescheids bei Verletzung der Verfahrensrechte Minderjähriger:

1. Schätzt das BAMF das Alter eines Asylantragstellers auf ein bestimmtes Geburtsjahr, so gebietet das gesetzliche Prinzip eines umfassenden Schutzes Minderjähriger, von dem innerhalb des Geburtsjahres spätestestens möglichen Zeitpunkt auszugehen. Entsprechend ist nicht der 1. Januar, sondern der 31. Dezember des jeweiligen Jahres anzusetzen.

2. Verletzt das BAMF die asylverfahrensrechtlichen Sonderrechte für Minderjährige, so ist ein in dem Verfahren erlassener Bescheid aufzuheben. Dies gilt auch, wenn die betroffene Person zwischenzeitlich volljährig geworden ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Asylverfahren, Asylverfahrensrecht, Verfahrensfehler, Altersfeststellung, Schätzung,
Normen: RL 3012/32/EU Art. 25, VwVfG § 12, VwVfG § 46,
Auszüge:

[...]

Vorliegend wurde im Verwaltungsverfahren das Alter des Klägers geschätzt. Hierbei wurde lediglich die Feststellung getroffen, dass der Kläger nicht mehr minderjährig sei (Bl. 33 der Verwaltungsakte ...-273). Die Beklagte hat das Jahr 1998 als sein Geburtsjahr zugrunde gelegt. Eine genauere Ermittlung des klägerischen Alters ist hingegen nicht erfolgt.

Bei Ungewissheit über den Tag der Geburt gebietet es das auch in § 12 VwVfG zum Ausdruck kommende gesetzliche Prinzip eines umfassenden Schutzes Minderjähriger von dem innerhalb des bekannten Geburtsjahres spätestens möglichen Geburtsdatum auszugehen, sodass der Kläger als am 31. Dezember 1998 geboren gilt und ein Lebensjahr jeweils erst mit Ablauf des 31. Dezember der nachfolgenden Jahre vollendet (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 156.83 -, Rn. 11, juris; vgl. auch OLG Köln, Beschluss vom 19. Januar 2012 - Il-21 UF 19/12 -, juris).

b. Legt man in Ansehung dieser Rechtsprechung des 31. Dezember 1998 - und nicht wie die Beklagte den 1. Januar 1998 - als Geburtsdatum zugrunde, so greifen im Falle des Klägers die besonderen Verfahrensgarantien (Garantien für unbegleitete Minderjährige) des Art. 25 der Richtlinie 2013/32/EU:

Nach Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180 vom 29.06.2013, S.. 60-95)

- ergreifen die Mitgliedstaaten so bald wie möglich Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass ein Vertreter den unbegleiteten Minderjährigen vertritt und unterstützt, damit dieser die Rechte aus dieser Richtlinie in Anspruch nehmen und den sich aus dieser Richtlinie ergebenden Pflichten nachkommen kann. Der unbegleitete Minderjährige wird unverzüglich über die Bestellung des Vertreters unterrichtet. Der Vertreter nimmt seine Aufgaben im Interesse des Kindeswohls wahr und verfügt hierfür über die erforderliche Fachkenntnis. Die als Vertreter bestellte Person wird nur ausgewechselt, wenn dies notwendig ist. Organisationen oder Personen, deren Interessen mit den Interessen des unbegleiteten Minderjährigen in Konflikt stehen oder stehen könnten, kommen als Vertreter nicht in Frage. Bei dem Vertreter kann es sich auch um einen Vertreter im Sinne der Richtlinie 2013/33/EU handeln (Buchst. a) und

- stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass der Vertreter Gelegenheit erhält, den unbegleiteten Minderjährigen über die Bedeutung und die möglichen Konsequenzen seiner persönlichen Anhörung sowie gegebenenfalls darüber aufzuklären, wie er sich auf seine persönliche Anhörung vorbereiten kann. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ein Vertreter und/oder ein Rechtsanwalt oder ein sonstiger nach nationalem Recht zugelassener oder zulässiger Rechtsberater bei dieser Anhörung anwesend ist und innerhalb des von der anhörenden Person festgelegten. Rahmens Gelegenheit erhält,. Fragen zu stellen und Bemerkungen vorzubringen (Buchst. b).

Ferner stellen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 25 Abs. 3 der Richtlinie sicher, dass

a. die persönliche Anhörung eines unbegleiteten Minderjährigen zu seinem Antrag auf internationalen Schutz nach den Artikeln 14 bis 17 und 34 von einer Person durchgeführt wird, die mit den besonderen Bedürfnissen Minderjähriger vertraut ist sowie

b. die Entscheidung der Asylbehörde über einen Antrag eines unbegleiteten Minderjährigen von einem Bediensteten vorbereitet wird, der mit den besonderen Bedürfnissen Minderjähriger vertraut ist.

Diese Verfahrensgarantien hat die Beklagte nicht beachtet, da sie bei der Anhörung des Klägers am 9. November 2016 von dessen Volljährigkeit ausgegangen ist. Dieser Fehler wirkte auch bei Erlass des Bescheides vom 23. Januar 2020 fort, denn die Beklagte hat den Kläger nach seiner erneuten Einreise im September 2017 nicht erneut zu seinen Asylgründen angehört, sondern die Anhörung vom 9. November 2016 zur tragenden Grundlage des streitgegenständlichen Bescheides vom 23. Januar 2020 gemacht. Das persönliche Gespräch vom 26. September 2017 (Bl. 34 der Verwaltungsakte ...-273) diente lediglich der Zuständigkeitsbestimmung. Die Asylgründe des Klägers waren hingegen nicht Gegenstand dieses Gespräches.

Der Bescheid ist daher aufzuheben, weil die Beklagte grundlegende Verfahrensgarantien nicht beachtet hat.

Dieser Fehler ist auch nicht nach § 46 VwVfG unbeachtlich.

Hiernach kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 44 nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.

Vorliegend ist bereits nicht offensichtlich, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Die Verfahrensgarantien des Art. 25 der Richtlinie 2013/32/EU sollen den Betroffenen gerade in die Lage versetzen, sein Asylbegehren effektiv geltend zu machen. [...]