VG Gera

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Zitieren als:
VG Gera, Urteil vom 11.09.2020 - 2 K 927/20 Ge - asyl.net: M29100
https://www.asyl.net/rsdb/M29100
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung aufgrund drohender geschlechtsspezifischer Verfolgung in Marokko:

1. Einer jungen Frau aus der Volksgruppe der Amazir ("Berber"), die vor ihrer Ausreise eine außereheliche heimliche Beziehung geführt hat und aus dieser Beziehung ein Kind erwartet und die außerdem gegen ihren Willen mit einem Verwandten verheiratet werden soll, droht bei Rückkehr geschlechtsspezifische Verfolgung.

2. Eine innerstaatliche Schutzalternative steht einer jungen alleinerziehenden Mutter ohne familiäre Unterstützung auch in den Großstädten nicht zur Verfügung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Marokko, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichteheliches Kind, nichteheliche Beziehung, außereheliche Beziehung, Zwangsehe, Strafbarkeit, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu dem Heimatland der Klägerin Marokko vom 14. Februar 2018 lässt sich entnehmen, dass außerehelicher Geschlechtsverkehr unter Strafe steht und dass eine soziale Gleichstellung von Frauen nur ansatzweise in den Städten möglich ist. Alle ledigen Mütter sind damit von strafrechtlicher Verfolgung bedroht. Gemäß Art. 490 des marokkanischen Strafgesetzbuches wird außerehelicher Geschlechtsverkehr zwischen zwei nicht verheirateten Personen mit einer Haftstrafe von bis zu einem Jahr geahndet. Die Lage der Frauen in Marokko ist gekennzeichnet durch Diskrepanz zwischen dem rechtlichen Status und der Lebenswirklichkeit, insbesondere in ländlichen Gegenden bestehen die gesellschaftlichen Zwänge aufgrund traditioneller Einstellung fort. Soweit die Verfassung in Art. 19 garantiert, dass "Männer und Frauen gleichberechtigt die Rechte und Freiheiten ziviler, politischer, wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und ökologischer Natur" genießen, werden diese Rechte durch Bezugnahme auf den Islam als Staatsreligion aber wieder eingeschränkt. Auch im Berufsleben bleibt die Lage der Frauen schwierig, insbesondere auf dem Land, wo patriarchalische Strukturen dominieren. Die Zahl der Frauenhäuser und Zufluchtsorte für Frauen ist begrenzt. Ferner kommt es immer wieder zu Gewalt gegen Frauen, insbesondere wenn diese die sozialen Normen verletzen. Auch in Ansehung dessen, dass der Straftatbestand des Art. 490 des marokkanischen Strafgesetzbuches nur in Ausnahmefallen und meist auf Anzeige der Familienangehörigen verfolgt wird, geschieht dies jedoch auch direkt durch den Staat. Die Fallzahlen für Strafverfolgung von außerehelichem einvernehmlichem Geschlechtsverkehr jeglicher Art sind nicht statistisch gesichert, liegen nach Angaben des Auswärtigen Amtes jedoch vermutlich im oberen zweistelligen Bereich jedes Jahr. In der Gesamtschau, und aufgrund des besonderen Umstandes, dass die Klägerin nach Marokko als ledige Mutter zurückkehren müsste, ist nach Überzeugung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich die Klägerin sozialer Ausgrenzung und einer möglichen Strafverfolgung ·ausgesetzt sehen würde. Vor diesem Hintergrund ist ihr eine zumutbare Rückkehr nach Marokko zur Überzeugung des Gerichts verwehrt (so auch: VG Dresden, Urteil vom 29. Juni 2012 - A 1 K 861/11 -, juris).

Das Gericht ist weiter zu der Erkenntnis gelangt, dass die Klägerin gemäß ihrer Bedrohungsgeschichte der Nötigung zu einer versuchten Zwangsheirat ausgesetzt war und im Fall der Rückkehr als ledige Mutter außerdem mit schweren Repressalien bis hin zum sog. Ehrenmord rechnen müsste, weil sie sich dem Beschluss des Familienrats, zu heiraten, verweigert hat und außerehelichen Geschlechtsverkehr gehabt hat. Die Geschichte ist glaubhaft, weil die Schilderung der Erlebnisse keine relevanten Widersprüchlichkeiten, Lücken oder unrealistischen Passagen aufweist und auch in Ansehung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Herkunftsregion der Klägerin plausibel ist.

Zwangsheiraten sind nach den Erkenntnissen des Gerichts im Kulturkreis der Klägerin nach wie vor üblich und gehen üblicherweise mit der Androhung gravierender Repressalien einher (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko vom 14. Februar 2018; VG Oldenburg, Gerichtsbescheid vom 3. April 2018 - 7 A 21/18 -, Rn. 98, juris). Der Gesetzesentwurf zu Gewalt gegen Frauen von 2016 wurde noch nicht verabschiedet, so dass Zwangsheiraten auch weiterhin rechtlich zulässig sind. Grundsätzlich denkbar wäre zwar die Inanspruchnahme internen Schutzes durch eine Rückkehr in die anonymen Verhältnisse einer Großstadt. Es kann aber auch in Anbetracht ihrer höheren Schulbildung vernünftigerweise aber nicht abverlangt werden, dass sie sich mit ihrem Kleinstkind in einer Großstadt niederlässt. Zum einen kann nicht ausgeschlossen werden, dass ihre Familie sie dort nicht wird finden können, zum anderen droht der Klägerin bei ihrer Rückkehr als nunmehr ledige Mutter soziale Ausgrenzung und Strafverfolgung durch die marokkanischen Behörden. Nach den Erkenntnissen des Gerichts kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin das Existenzminimum für sich und ihr Kind sichern können wird. Die Klägerin hat seit ihrer Ausreise keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie und Freunden in Marokko. Sie kann daher nicht auf ein soziales Netz verwiesen werden.

Aus den genannten Gründen hat die Klägerin auch einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. [...]