VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 29.06.2020 - A 9 K 4048/18 - asyl.net: M29119
https://www.asyl.net/rsdb/M29119
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine Frau aus Nigeria wegen drohender Genitalverstümmelung:

1. Weibliche Genitalverstümmelung ist in Nigeria, insbesondere in den ländlichen Regionen im Süden des Landes, weit verbreitet.

2. Der nigerianische Staat ist nicht willens oder in der Lage, den betroffenen Frauen Schutz zu bieten. Die Gesetze zum Schutz vor Genitalverstümmelung werden in der Praxis nicht umgesetzt.

3. Für eine alleinerziehende Frau mit zwei minderjährigen Kindern, die auf kein familiäres Netzwerk zurückgreifen kann, besteht in Nigeria keine interne Fluchtalternative.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Nigeria, Südnigeria, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Genitalverstümmelung, interner Schutz, nichtstaatliche Verfolgung, alleinerziehend, alleinstehende Frauen,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe haben die Klägerinnen eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe dargelegt, indem sie glaubhaft vorgetragen haben, dass ihnen in Nigeria die Zwangsbeschneidung drohen würde.

Eine Zwangsbeschneidung stellt eine an das Merkmal des Geschlechts anknüpfende Verfolgung einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar. Anknüpfungspunkt der Verfolgungshandlung ist das mit der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht verbundene Vorhandensein weiblicher Geschlechtsorgane. Die Genitalverstümmelung erfolgt vorrangig, um den die Rolle der Frau betreffenden Gesellschaftsvorstellungen Genüge zu tun und reduziert die Frauen zu einem bloßen Objekt der Verheiratung und Gebärfähigkeit. Die Beschneidung beruht auf der Vorstellung, dass Frauen diesen Eingriff über sich ergehen lassen müssen, um überhaupt als heiratsfähig angesehen zu werden. Sie stellt einen symbolischen Akt dar, der ihre Sexualität reduzieren und ihre Gebärfähigkeit hervorheben soll und dient somit auch der Festigung ihrer sozial untergeordneten Rolle. Dieser Eingriff überschreitet die verfolgungserhebliche Intensitätsschwelle (vgl. auch VG Münster, Urteil vom 06.03.2015 - 1 K 2206/13.A -, juris und Urteil vom 25.03.2019 - 5 K 706/18.A -, juris).

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Nigeria nach wie vor verbreitet. In einigen, meist ländlichen, Regionen im Südwesten und in der Region Süd-Süd ist die Praxis weit verbreitet, im Norden eher weniger (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 16.01.2020, S. 15). Von den Frauen zwischen 15 und 49 Jahren sind in Nigeria ca. 20 % beschnitten. Diese Zahl für das ganze Land sinkt seit Jahren. Im Südwesten des Landes sind jedoch immer noch 41,1 % der Frauen beschnitten. Im Südosten betrifft es 32,5 % der Frauen. Frauen, die in einer Stadt leben, sind stärker von Zwangsbeschneidung betroffen, als Frauen, die auf dem Land leben (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Nigeria; Female Genital Mutilation, Stand: August 2019, S. 8). Unter den Angehörigen der Volksgruppe der Bini sind 69-77 % der Frauen beschnitten (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Nigeria: Female Genital Mutilation, Stand: August 2019, S. 24).

Dies zugrunde gelegt, hat das Gericht keine durchgreifenden Zweifel daran, dass die Klägerinnen in Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer solchen geschlechtsspezifischen Verfolgung durch nichtstaatliche Dritte ausgesetzt wären. [...]

Das Gericht ist nach alldem davon überzeugt, dass sich die Klägerin Ziff. 1 bei einer Rückkehr zu ihrer Familie einer Zwangsbeschneidung nicht entziehen könnte. Da es sich bei der Klägerin Ziff. 2 um die minderjährige, uneheliche Tochter der Klägerin Ziff. 1 handelt, ist davon auszugehen, dass auch sie nicht vor einer Zwangsbeschneidung durch die Familie der Klägerin geschützt wäre.

Da die drohende Verfolgung vorliegend von der Familie der Klägerin Ziff. 1 ausgeht, liegt ein nichtstaatlicher Akteur i.S.d. § 3c Nr, 3 AsylG vor. Es ist in diesem Zusammenhang davon auszugehen, dass der Staat nicht willens und in der Lage ist, insoweit effektiven Schutz zu bieten. Das Bundesgesetz kriminalisiert seit 2015 FGM/C auf nationaler Ebene, dieses Gesetz ist aber bisher nur in einzelnen Bundesstaaten umgesetzt worden, nach anderen Angaben gilt es bis dato nur im Federal Capital Territory. 13 andere Bundesstaaten haben ähnliche Gesetze verabschiedet. Die Regierung unternahm im Jahr 2018 keine Anstrengungen, FGM/C zu unterbinden (vgl. BFA Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für Nigeria, Stand: 18.12.2019, S. 38). Es gibt seitens der Behörden nur wenige Bemühungen, verabschiedete Gesetze mit positiven Auswirkungen für Frauen durchzusetzen. Die Umsetzung der Gesetze sei aufgrund kultureller Faktoren sehr schwach. Zudem gibt es keine effektiven Überwachungsmechanismen zur Einhaltung und Umsetzung der Gesetze und die vorgesehenen Strafen seien gering. NGOs haben angegeben, dass sie die örtlichen Behörden nach der Verabschiedung eines Gesetzes im jeweiligen Bundesstaat erst von der Gültigkeit des Gesetzes in den einzelnen Bezirken überzeugen müssten (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Nigeria: Verbreitung von FGM, rechtliche Bestimmungen und Organisationen vom 09.03.2020, S. 2). Die Polizeibehörden entfalten bei der Bekämpfung von Zwangsbeschneidungen nur wenig Aktivität (vgl. Commissariat Général Aux Réfugiés et Aux Apatrides, Les Mutilations génitales feminines (MGF) vom 13.05.2019, S. 27).

Internen Schutz im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG könnten die Klägerinnen ebenfalls nicht erlangen. Nach dieser Vorschrift wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat, sicher und legal in diesen Landesteil einreisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Zwar kann der hier geltend gemachten Bedrohung grundsätzlich durch einen Umzug in einen anderen Teil Nigerias ausgewichen werden (vgl. BFA Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand: 18.12.2019, S. 39).

Jedoch kann es den Klägerinnen vorliegend nicht zugemutet werden, sich in einem anderen Landesteil niederzulassen, um der Bedrohung zu entfliehen. Von einem Schutzsuchenden kann nur dann vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in einem anderen Landesteil dauerhaft niederlässt, wenn er dort in der Lage ist, das Existenzminimum sicherzustellen. Bei der Prüfung des § 3e AsylG ist außerdem zu beachten, dass Familienangehörige wegen des Schutzes der Ehe und Familie nach Art. 6 GG nur gemeinsam mit ihren minderjährigen Kindern nach Nigeria zurückkehren können, so dass bei der Frage, ob das Existenzminimum im Zufluchtsort erwirtschaftet werden kann, alle Familienmitglieder in den Blick zu nehmen sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.06.2013 - 2 BvR 586/13 -, juris). Dies zugrunde gelegt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass es der Klägerin Ziff. 1 gelingen würde, das Existenzminimum für sich und die Klägerin Ziff. 2 zu sichern, zumal die Klägerin Ziff. 1 mittlerweile auch Mutter eines weiteren Kindes ist. Die Klägerin Ziff. 1 hat keine Ausbildung gemacht und in Nigeria nie selbständig Geld verdient. Sie hat außer zu ihrer Mutter zu keiner anderen Person in Nigeria mehr Kontakt und kann daher nicht auf ein vorhandenes soziales Netz verwiesen werden. Die Väter ihrer beiden Kinder sind ebenfalls nicht verfügbar. Angesichts dessen ist nicht ersichtlich, wie es ihr gelingen soll, den Lebensunterhalt für sich und ihre zwei Kinder zu sichern, so dass davon auszugeben ist, dass die Familie alsbald nach einer Rückkehr der Verelendung anheimfallen würde, weshalb nicht vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sich die Klägerin eine interne Fluchtalternative sucht. [...]