VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 12.11.2020 - 11 S 2512/19 (Asylmagazin 3/2021, S. 104 ff.) - asyl.net: M29124
https://www.asyl.net/rsdb/M29124
Leitsatz:

Keine schematische Prüfung des Vorliegens einer ehelichen Lebensgemeinschaft:

1. Die Vielfalt der von Art. 6 GG geschützten Ausgestaltungsmöglichkeiten der familiären Lebensgemeinschaft lässt es nicht zu, schematische oder allzu enge Mindestvoraussetzungen für das Vorliegen einer ehelichen Lebensgemeinschaft zu formulieren.

2. Das Bestehen einer häuslichen Gemeinschaft ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung für die Feststellung einer ehelichen Lebensgemeinschaft. Entscheiden sich Eheparter*innen, auf eine häusliche Gemeinschaft zu verzichten, so kann nicht zwingend auf die Aufgabe der ehelichen Lebensgemeinschaft geschlossen werden. Vielmehr sind in diesem Fall weitere Anhaltspunkte für eine gewollte gemeinsame Lebensgestaltung zu prüfen.

(Leitsätze der Redaktion; anschließend an BVerwG, Beschluss vom 22.05.2013 - 1 B 25.12 - asyl.net: M20910)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, eheunabhängiges Aufenthaltsrecht, eigenständiges Aufenthaltsrecht, Ausweisungsinteresse, Dreijahresfrist, Aufenthaltsdauer, eheliche Lebensgemeinschaft, räumliche Trennung, Schutz von Ehe und Familie, familiäre Lebensgemeinschaft,
Normen: AufenthG § 31 Abs. 1 Nr. 1, GG Art. 6,
Auszüge:

[...]

b) Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg. Denn anders als das Verwaltungsgericht ist der Senat der Auffassung, dass sich die Erfolgsaussicht des oben bezeichneten Widerspruchs des Antragstellers als offen erweist (nachfolgend aa) und bb)). Die demnach erforderliche Interessenabwägung führt zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs (cc)).

aa) Die Frage, ob dem Antragsteller ein Anspruch nach § 31 AufenthG auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zusteht, ist nach Einschätzung des Senats derzeit offen. Sie lässt sich nach Aktenlage unter Berücksichtigung der Sach- und Rechtslage zum - hier maßgeblichen - Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit verneinen.

Der Antragsgegner wendet gegen die Annahme, dass dem Antragsteller ein vom Zweck des Familiennachzugs unabhängiges Aufenthaltsrecht nach § 31 AufenthG zustehe, im Wesentlichen ein, dass der Antragsteller mit seiner früheren Ehefrau nicht für eine Dauer von mindestens drei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet in ehelicher Lebensgemeinschaft gelebt habe. [...]

(1) Was die Dauer des rechtmäßigen Bestehens der ehelichen Lebensgemeinschaft zwischen dem Antragsteller und seiner früheren Ehefrau im Bundesgebiet betrifft, ist unstreitig, dass eine eheliche Lebensgemeinschaft unmittelbar nach der Einreise des Antragstellers ins Bundesgebiet am 10. Oktober 2014 begründet wurde. Ferner steht fest, dass die Gemeinschaft zwischenzeitlich beendet ist. Die Ehegatten sind rechtskräftig geschieden. Ferner ist nicht zweifelhaft, dass die eheliche Lebensgemeinschaft des Antragstellers und seiner früheren Ehefrau jedenfalls im März 2018 zumindest zeitweilig beendet war. Die Kontaktaufnahme der früheren Ehefrau des Antragstellers mit dem Landratsamt ... am 1. März 2020 und die von ihr im selben Monat veranlasste Einreichung eines Scheidungsantrags beim Amtsgericht - Familiengericht - ... weisen klar darauf hin, dass die frühere Ehefrau des Antragstellers zu dieser Zeit nicht mehr bereit war, eine eheliche Lebensgemeinschaft mit dem Antragsteller zu führen. Dagegen ist nach wie vor offen und im Widerspruchsverfahren weiter aufzuklären, ob die hier interessierende eheliche Lebensgemeinschaft eine Dauer von mindestens drei Jahren erreicht hat oder bereits vor dem 10. Oktober 2017 beendet war.

Dabei ist - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - von folgendem Maßstab für die Feststellung einer ehelichen Lebensgemeinschaft auszugehen, den der Senat seit seinem Beschluss vom 20. September 2018 - 11 S 1973/18 - (juris Rn. 8) in ständiger Rechtsprechung anwendet:

"Zentral für die Feststellung einer familiären Lebensgemeinschaft ist der bei beiden Eheleuten bestehende Wille, die eheliche Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet tatsächlich herzustellen oder aufrechtzuerhalten, die Beweislast für das Bestehen dieses Herstellungswillens als einer inneren Tatsache trägt der Ausländer (BVerwG, Urteil vom 30.03.2010 - 1 C 7.09 -, BVerwGE 136, 222 Rn. 15). Prägendes Element der Lebensgemeinschaft ist die wechselseitige innere Bindung der Ehegatten (BGH, Urteil vom 07.11.2001 - XII ZR 247/00 -, BGHZ 149, 140 (142)). Bei der vorzunehmenden Bewertung der familiären Beziehungen verbietet sich eine schematische Einordnung und Qualifizierung als entweder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdige Lebens- und Beistandsgemeinschaft oder aber als bloße Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen (BVerfG, Beschluss vom 30.01.2002 - 2 BvR 321/00 -, NVwZ 2002, 849 (850); so auch zuletzt VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 05.07.2018 - 11 S 1224/18 -, AuAS 2018, 182). Denn die Vielfalt der von Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Ausgestaltungsmöglichkeiten der familiären Lebensgemeinschaft lässt es nicht zu, schematische oder allzu enge Mindestvoraussetzungen für das Vorliegen einer ehelichen Lebensgemeinschaft zu formulieren (BVerwG, Beschluss vom 22.05.2013 - 1 B 25.12 -, BayVBl. 2014, 56 Rn. 3). Das Bestehen einer häuslichen Gemeinschaft ist daher weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung für die Feststellung einer ehelichen Lebensgemeinschaft (vgl. BGH, Urteile vom 14.06.1978 - IV ZR 164/77 -, NJW 1978, 1810 und vom 27.04.2016 - XII ZB 485/14 -, BGHZ 210, 124 Rn. 13). Der vorübergehende oder auch dauerhafte Verzicht auf die häusliche Gemeinschaft wie etwa bei Ehen von zwei an weit entfernten Orten beschäftigten Ehegatten, (…) bei der Inhaftierung eines Ehegatten oder bei der dauerhaften stationären Unterbringung eines schwerst erkrankten oder pflegebedürftigen Ehegatten muss also kein Indiz für das Nichtvorliegen der erforderlichen familiären Lebensgemeinschaft sein (vgl. Jaeger/Hamm, in Johannsen/Henrich, Familienrecht, 6. Aufl. 2015, § 1565 BGB Rn. 14). Je mehr die Ehegatten bei der Ausgestaltung ihrer Ehe auf einen gemeinsamen, regelmäßigen Lebensmittelpunkt verzichten (müssen), desto wichtiger ist für die Feststellung einer bestehenden ehelichen Lebensgemeinschaft das Vorhandensein anderer Indizien für die gewollte gemeinsame Lebensgestaltung. Im Zentrum steht die Frage nach dem nachweisbar betätigten Willen, mit der Partnerin bzw. dem Partner als wesentlicher Bezugsperson ein gemeinsames Leben zu führen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.05.2013 – 1 B 25.12 -, BayVBl. 2014, 56 Rn. 4)."

Legt man diesen Maßstab zugrunde, so deutet zwar der im März 2017 erfolgte Auszug des Antragstellers aus der bis dahin von den Eheleuten gemeinsam genutzten Wohnung darauf hin, dass die bis dahin bestehende eheliche Lebensgemeinschaft beendet worden sein könnte. Dieser Einschätzung sind jedoch beide früheren Ehegatten anlässlich ihrer gemeinsamen Vorsprache beim Landratsamt ... am 11. Juli 2017 ausdrücklich entgegengetreten. Darüber hinaus haben sie nach Belehrung über die möglichen strafrechtlichen Konsequenzen falscher Angaben übereinstimmend schriftlich erklärt, zwar räumlich getrennt, jedoch weiterhin zusammen in ehelicher Lebensgemeinschaft zu leben. Die von ihnen für die erfolgte räumliche Trennung gegebene Begründung ist nachvollziehbar und durchaus plausibel. Danach ging es der früheren Ehefrau des Antragstellers darum, diesen zu motivieren, dass er "seinen Lebensunterhalt selbst erledigt … für sich sorgt, mit Einkaufen etc., damit er sich das Leben in Deutschland mit eigener Erfahrung bringt." Es mag zwar in ehelichen Beziehungen nicht allzu häufig vorkommen, entspricht aber ohne Weiteres der Freiheit der Ausgestaltung einer solchen Beziehung, wenn ein Ehegatte gewissermaßen aus erzieherischen Gründen den Auszug des anderen Ehegatten fordert, um diesen zu mehr Engagement bei der Sorge um seine eigenen Angelegenheiten anzuhalten. Auch ein solches Arrangement kann unter dem Schutz der staatlichen Ordnung stehen (Art. 6 Abs. 1 GG) und den Tatbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erfüllen. Dies gilt umso mehr, wenn es von den Ehegatten bewusst gewählt worden ist, in der Ehe aufgetretene Konflikte zu bewältigen und damit ein sich möglicherweise anbahnendes Scheitern der Ehe (§ 1565 BGB) abzuwenden. Erweist sich, dass die Ehegatten auch in einer solchen Konstellation mit dem jeweiligen Partner als wesentlicher Bezugsperson ein gemeinsames Leben zu führen wünschen, rechtfertigt dies die Annahme, dass die eheliche Lebensgemeinschaft auch nach dem Auszug eines der Ehegatten fortbesteht.

Im vorliegenden Fall haben sich der Antragsteller und seine frühere Ehefrau anlässlich des Termins am 11. Juli 2017 beim Landratsamt ... entsprechend eingelassen. Sie haben ausgeführt, dass sie sich auch nach dem Auszug des Antragstellers fast täglich sehen, gemeinsam zur Arbeit fahren und jeden zweiten Tag in der früheren Ehewohnung gemeinsam essen. Weiter haben sie dargelegt, dass sie "wie früher" gemeinsam ausgehen, sich sehr gut verstehen und keine Absicht hegen, sich scheiden zu lassen. Für die Plausibilität dieser Angaben spricht, dass der Antragsteller im März 2017 in eine Wohnung gezogen ist, die nur wenige Gehminuten von der bisherigen Ehewohnung entfernt liegt, und dass ihm seine frühere Ehefrau behilflich war, diese Wohnung anzumieten. Aus der vom Landratsamt ... vorgelegten Akte ergibt sich zudem, dass sich die frühere Ehefrau des Antragstellers auch nach dessen Auszug wiederholt um dessen aufenthaltsrechtliche Angelegenheiten gekümmert und in diesem Zusammenhang über ihr Vorhaben berichtet hat, im September 2017 gemeinsam mit dem Antragsteller eine (Urlaubs-)Reise in das Vereinigte Königreich zu unternehmen. Der Umstand, dass der Antragsteller an dieser Reise letztlich nicht teilgenommen hat, wurde von diesem - nachvollziehbar und nachprüfbar - mit seinem Interesse erläutert, "die Sprachschule zu besuchen und die B1-Prüfung zu absolvieren". Er habe seine frühere Ehefrau aber zum Flughafen gebracht, sich, "wie sonst auch, liebevoll verabschiedet" und den Schlüssel für die früher gemeinsam genutzte Wohnung erhalten (vgl. Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vom 16. Januar 2019 im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht). Weiter hat der Antragsteller ausgeführt, dass er auch nach seinem Auszug aus der früheren Ehewohnung mit seiner früheren Ehefrau intimen Kontakt gepflegt habe und mit ihr im öffentlichen Raum - beispielsweise anlässlich einer Feier zum Jahreswechsel 2017/2018 - als Paar aufgetreten sei. [...]