VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 06.07.2020 - 4 K 769.16 A - asyl.net: M29182
https://www.asyl.net/rsdb/M29182
Leitsatz:

Familienasyl für zweite Ehepartnerin aus Mehrehe:

"Sinn und Zweck des § 26 AsylG gebieten es, Familienasyl auch für Ehegatten aus Mehrehen zu gewähren."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Familienschutz, Mehrehe, Zweitehe, ordre public, Zweitehe, Schutz von Ehe und Familie, Familieneinheit, Privatrecht, Genfer Flüchtlingskonvention, Syrien, Personalstatut, Zivilrecht,
Normen: EGBGB Art. 13 Abs. 3 Nr. 1, EGBGB Art. 6, AsylG § 26 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, GFK Art. 12,
Auszüge:

[...]

1 Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2 Die im Jahr 1985 geborene und aus Syrien stammende Klägerin zu 1. ist kurdischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit, der Kläger zu 2. ihr Sohn. [...] Herr N... (im Folgenden: Herr B...), mit dem sie verheiratet, aber derzeit "getrennt" sei, halte sich ebenfalls in Deutschland auf und sei bereits als Flüchtling anerkannt worden.

3 Der im Jahr 1968 geborene Herr ... ist ebenfalls Kurde und stammt aus Syrien. Er gab bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 30. April 2015 folgendes an: Er habe zwei Frauen; neben der Klägerin zu 1., seiner Zweitfrau, die sich mit dem gemeinsamen Sohn in der Türkei aufhalte, sei seine andere – erste – Ehefrau, mit der er sieben gemeinsame Kinder habe, noch in Syrien. [...] Mit Bescheid vom 8. Juli 2015 erkannte das Bundesamt ihm die Flüchtlingseigenschaft zu. Mit Schreiben vom 29. Juli 2015 beantragte er den erleichterten Familiennachzug gemäß § 29 Abs. 3 AufenthG für seine Erstehefrau sowie für vier gemeinsame Kinder. [...]

15 Die zulässige Klage ist begründet. Der Klägerin zu 1. steht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach den Grundsätzen des Familienasyls gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG zu. [...]

16 I. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Klägerin zu 1. richten sich nach § 26 Abs. 5 Satz 1, Satz 2, 1. Alt. i.V.m. Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG. Danach wird der Ehegatte des Asylberechtigten auf Antrag als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Anerkennung der Referenzperson unanfechtbar ist, die Ehe oder Lebenspartnerschaft mit ihr schon in dem Staat bestanden hat, in der der Asylberechtigte politisch verfolgt wird, der Ehegatte oder Lebenspartner vor der Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter eingereist ist, oder er den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt hat und die Anerkennung des Asylberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist. Nach § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG ist dies auf Familienangehörige von international Schutzberechtigten entsprechend anwendbar, wobei an die Stelle der Asylberechtigung die Flüchtlingseigenschaft tritt. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

17 1. Dabei steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Klägerin zu 1. "Ehegattin" i.S.d. § 26 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist, da zwischen ihr und Herrn B... als Referenzperson eine wirksame Ehe zustande gekommen ist. Mit "Ehe" ist in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Sprachgebrauch die mit Eheschließungswillen eingegangene, staatlich anerkannte Lebensgemeinschaft gemeint (BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 1992 – BVerwG 9 C 61.91 –, juris Rn. 7; VG Berlin, Urteil vom 27. November 2019 – VG 19 K 53.19 A –, juris Rn. 18). Dabei bestimmt sich deren Gültigkeit nicht nach dem deutschen Familienrecht. Nach den Regelungen des Völkerrechts und des internationalen Privatrechts ist vielmehr das Recht des Herkunftsstaates entscheidend; nach Art. 12 Abs. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung von Flüchtlingen vom 28. Juli 1951 – GFK – ist das Personalstatut eines jeden Flüchtlings nach dem Recht des Landes seines Wohnsitzes oder, in Ermangelung eines Wohnsitzes, nach dem Recht seines Aufenthaltslandes zu bestimmen. [...]

18 Nach dem deshalb anzuwendenden syrischen Personalstatusgesetz – PSG – (Gesetz Nr. 59 vom 17. September 1953, geändert durch Gesetz Nr. 34 vom 31. Dezember 1975 und Gesetz Nr. 18 vom 25. Oktober 2003; vgl. hierzu Kommentar zum staatlichen Familienrecht: Die Ehe, Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut, abrufbar unter www.familienrecht-in-nahost.de/8555/Syrien-Kommentar-Ehe) geht die Kammer vom Vorliegen einer wirksamen Ehe aus. [...]

19 Kommt es danach maßgeblich darauf an, dass die Eheleute ihren Willen zur Eheschließung mit Angebot und Annahme bekundet haben, so liegen die Voraussetzungen hier vor. Dabei ist die Kammer gemäß der §§ 86 Abs. 1, 108 VwGO gehalten, ihre Überzeugung von der Eheschließung der Klägerin zu 1. im Wege der freien Sachverhalts- und Beweiswürdigung zu bilden. Denn da – wie beschrieben – nach dem maßgeblichen Heimatrecht der Klägerin zu 1. die schriftliche Dokumentation der Eheschließung nicht Wirksamkeitsvoraussetzung ist, kann deren Fehlen hier nicht streitentscheidend sein.

20 Nach Überzeugung der Kammer haben die Klägerin zu 1. und Herr B... in Syrien geheiratet. Dafür spricht bereits, dass beide in ihren Anhörungen vor dem Bundesamt übereinstimmend und unabhängig voneinander berichtet haben, miteinander verheiratet zu sein. Das gleiche gilt für ihre Schilderungen der früheren gemeinsamen Lebensumstände in Syrien und der Umstände des Todes eines Sohnes des Herrn B.... In der mündlichen Verhandlung haben sie weiterhin übereinstimmend und glaubhaft dargelegt, dass sie sich an einem von ihnen nicht näher bestimmbaren Tag im Jahr 1999 oder 2000 im Haus der Mutter des Herrn B... vor einem ... Scheich ... eingefunden haben und erklärt haben, die Ehe eingehen zu wollen. [...]

21 a. Der Wirksamkeit der Ehe steht nicht entgegen, dass die Klägerin zu 1. bei Eheschließung minderjährig war und höchstwahrscheinlich auch das 17. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, auch wenn nach Art. 16 PSG die Ehemündigkeit erst ab diesem Alter besteht. [...] Danach ist der "Mangel" der fehlenden Ehemündigkeit hier jedenfalls aufgrund des Vollzugs der Ehe geheilt.

22 Die Ehe ist auch nicht gemäß Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB in der Fassung des Art. 2 Nr. 1 Buchst. a des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2429) unwirksam. [...]

23 b. Unschädlich für ihre Qualifikation als "Ehegatte" i.S.d. § 26 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist es außerdem, dass die Klägerin zu 1. nicht alleinige Ehefrau ihres Ehemannes ist, sondern dieser in Erstehe mit einer weiteren Frau verheiratet ist. Denn grundsätzlich fallen auch im Ausland wirksam geschlossene polygame Ehen in den Anwendungsbereich des § 26 Abs. 1 AsylG. Dies gilt auch dann, wenn diese nach deutschem Recht nichtig sind. Denn wiederum kommt es nach Art. 13 Abs. 1 EGBGB und Art. 12 GFK auf die Wirksamkeit der Ehe im Herkunftsstaat an (s.o.). Am Vorliegen einer danach wirksam geschlossenen Mehrehe bestehen hier keine Zweifel. Für den Fall, dass der Mann zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits mit einer oder mehreren anderen Frauen verheiratet ist, gilt gemäß Art. 17 PSG das Folgende: Der Richter stimmt nur dann der Eheschließung eines bereits verheirateten Mannes mit einer weiteren Frau zu, wenn hierfür ein legitimer Grund vorliegt und der Ehemann imstande ist, den Unterhalt beider Frauen zu bestreiten. Wiederum ist die Einwilligung des Gerichts jedoch keine Wirksamkeitsvoraussetzung für die polygyne Ehe; vielmehr hat das Nicht-Einholen der Genehmigung lediglich zur Folge, dass die Ehefrauen die Scheidung beantragen können (s. Kommentar zum staatlichen Familienrecht, a.a.O., unter dem Stichwort "Polygynie"). Hierfür ist vorliegend nichts ersichtlich.

24 Die Einbeziehung von Ehegatten aus Mehrehen in die Privilegierung des Familienasyls nach § 26 AsylG widerspricht dabei weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Im Gegenteil ist ein solches Verständnis bei sowohl systematischer als auch teleologischer Normauslegung geboten (dazu unter aa.). Es steht darüber hinaus im Einklang mit höherrangigem nationalen Recht (dazu unter bb.) und Unionsrecht (dazu unter cc.).

25 aa. Nach dem Wortlaut des § 26 Abs. 1 AsylG steht die Anerkennung als Asylberechtigter "dem Ehegatten" bzw. "dem Lebenspartner" eines Asylberechtigten zu. Die singuläre Form lässt dabei darauf schließen, dass lediglich ein Ehegatte bzw. Lebenspartner, nicht aber mehrere Ehegatten erfasst sein sollen. Indes erfährt diese vermeintliche grammatische Eindeutigkeit vor dem Hintergrund Brüche, dass auch bei Mehrehen nach allgemeinem Sprachgebrauch dann, wenn über eine der (neben anderen) bestehenden Ehen gesprochen wird, der jeweilige Ehepartner als "der Ehegatte" bezeichnet werden kann. Ein Ausschluss von Ehepartnern aus Mehrehen von § 26 Abs. 1 AsylG ist dem Wortlaut deshalb nicht zwingend zu entnehmen.

26 Demgegenüber ist es nach dem Sinn & Zweck des § 26 AsylG geboten, Familienasyl auch für Ehegatten aus Mehrehen zu gewähren. Die Vorschrift dient dem durch Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes – GG – gewährleisteten Schutz von Ehe und Familie, der zwar das Familienasyl nicht verlangt, hierfür jedoch zum Schutz der Familieneinheit die Rechtfertigung liefert. [...]

27 Darüber hinaus ist auch mit Blick auf andere Regelungen und deren Schutzgehalt die Einbeziehung polygamer Ehegatten in den Schutz des Familienasyls angezeigt. So ist mit § 26 Abs. 1 Satz 2 AsylG – wie unter 1.a. ausgeführt – jedenfalls im Hinblick auf Familienasyl bei Minderjährigen-Ehen ausdrücklich geregelt, dass die Privilegierung lediglich dem bei der Eheschließung minderjährigen – und deshalb schutzbedürftigen – Ehegatten zugutekommen soll. Eine Klarstellung im Hinblick auf Ehegatten aus Mehrehen hat der Gesetzgeber bislang nicht vorgenommen. Daraus auf einen entsprechenden gesetzgeberischen Willen zu folgern, etwa – wie hier – Zweitfrauen von der Gewährung von Familienasyl auszuschließen, griffe allerdings zu kurz (so jedoch VG Minden, Urteil vom 27. März 2018 – VG 1 K 1456/17.A –, S. 5 d. amtl. Abdr.); im Gegenteil verbietet sich ein solch enges Normverständnis bei einer systematischen Betrachtung unter Einbeziehung aufenthaltsrechtlicher Nachzugsvorschriften gerade zu. [...]

30 bb. Das im Wege der Auslegung gefundene Normverständnis ist auch mit den Wertungen des Grundgesetzes, insbesondere mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar. [...]

32 Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen kommt die Kammer auch unter Berücksichtigung der in Art. 6 EGBGB normierten Grundsätzen des "ordre public" zu keinem anderen Ergebnis. [...]

33 Einen so eklatanten Widerspruch ruft die Anwendung syrischer Normen zur Wirksamkeit der Mehrehe im hiesigen Fall jedoch nicht hervor. Zwar erfasst, wie dargelegt, der Schutzbereich der "Ehe" in Artikel 6 Abs. 1 GG die von der Klägerin und ihrem Ehemann geführte Ehe nicht. Die Grenze der Unvereinbarkeit mit nach Art. 6 EGBGB ist damit jedoch nicht erreicht. Denn angelegt in dem weiten Begriffsverständnis der "Familie" in Art. 6 Abs. 1 GG ist es dem Grundgesetz nicht fremd, nach ausländischem Recht geschlossene Verbindungen, so auch Mehrehen zu akzeptieren. [...]

34 cc. Das Ergebnis steht auch im Einklang mit dem Unionsrecht. Dabei ist die Berücksichtigung von Ehepartnern aus Mehrehen im Rahmen des Familienasyls nach § 26 Abs. 1 AsylG nicht etwa deshalb unionsrechtswidrig, weil Art. 4 UAbs. 4 der Familienzusammenführungsrichtlinie regelt, dass im Falle einer Mehrehe, in dem sich bereits ein Ehegatte gemeinsam mit dem Zusammenführenden im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, der betreffende Mitgliedstaat nicht die Familienzusammenführung eines weiteren Ehegatten gestattet. Denn Regelungsgegenstand dieses europäischen Sekundärrechtsaktes ist der Nachzug Familienangehöriger, die sich noch im Heimatstaat aufhalten. Entsprechend ist Art. 4 UAbs. 4 der Familienzusammenführungsrichtlinie durch die Vorschrift des § 30 Abs. 4 AufenthG – zur aufenthaltsrechtlichen Regelung des Familiennachzugs – in das deutsche Recht umgesetzt worden. Maßgeblich ist vielmehr die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ("Qualifikationsrichtlinie"). Sie dient der Aufrechterhaltung eines bereits in einem Mitgliedstaat bestehenden Familienverbundes, legt dazu die Normen für die Zuerkennung des internationalen Schutzstatus fest und definiert, wer als Flüchtling bzw. Schutzberechtigter gilt. Mit ihren Vorgaben steht das hier gefundene Auslegungsergebnis im Einklang. Zwar wird in Art. 2 lit. j der Qualifikationsrichtlinie, der den Begriff der "Familienangehörigen" bestimmt, wieder nur "der Ehegatte" und damit die singuläre Form verwendet, die zunächst darauf schließen lässt, dass hiermit nur Ehegatten einer Einehe gemeint sein sollen. Wie auch in § 26 Abs. 1 Satz 1 AufenthG steht diese begrenzende Wortwahl aber auch nach dem allgemeinen Sprachgebrauch der Einbeziehung von Mehrehen nicht zwingend entgegen (s.u. 1.a.aa.). [...]

36 Die verfahrensgegenständliche Ehe besteht gemäß § 26 Abs. 1 AsylVfG auch noch zum danach maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Nach dessen Wortlaut steht Familienasyl nur "Ehegatten" oder "Lebenspartnern" und nicht etwa auch ehemaligen Ehegatten oder Lebenspartnern zu (nur so könne das Wort "schon" in § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG verstanden werden, so überzeugend GK-AsylVfG/Bodenbender Rn. 53 ff.). Unschädlich ist es allerdings, wenn die Ehe oder Lebenspartnerschaft zwischenzeitlich geschieden bzw. die eheliche Lebensgemeinschaft aufgehoben war, solange nur im Zeitpunkt der behördlichen oder der gerichtlichen Entscheidung die Voraussetzungen (wieder) gegeben sind. So liegt der Fall hier. Die Ehe der Klägerin zu 1. und Herrn B... besteht auch weiterhin. Etwas anderes ist auch nicht etwa deshalb anzunehmen, weil in der Niederschrift der Anhörung der Klägerin zu 1. vor dem Bundesamt protokolliert ist, diese habe angegeben, von ihrem Mann "getrennt" zu sein. Die Kammer ist überzeugt, dass es sich dabei um eine lediglich zeitlich begrenzte und fluchtbedingte Trennung handelte. Denn die Klägerin zu 1. und ihr Mann haben sowohl bei ihren Anhörungen als auch in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend angegeben, weiterhin verheiratet zu sein. [...]