VG Düsseldorf

Merkliste
Zitieren als:
VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 05.05.2020 - 21 K 19075/17. A - asyl.net: M29210
https://www.asyl.net/rsdb/M29210
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für einen jungen Mann aus Afghanistan:

Das Abschiebungsverbot wird aufgrund der individuellen Gründe festgestellt, da der Kläger als Minderjähriger geflohen ist und wegen seiner geringen Schulbildung, fehlender familiärer Unterstützung, schlechter psychischer Verfassung und angesichts der Corona-Pandemie keine Möglichkeit der eigenständigen Existenzsicherung haben wird.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungsverbot, Corona-Virus, humanitäre Lage, Existenzgrundlage, Existenzminimum,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse spricht - auf absehbare Zeit - mehr dagegen als dafür, dass es dem Kläger gelingen könnte, in Kabul oder einem anderen Ort in Afghanistan sein Überleben zu sichern. Es ist schon fraglich, ob es dem Kläger gelingen kann, für sich beständig eine Tätigkeit als Tagelöhner zu sichern. Mit einer materiellen und immateriellen Hilfe seitens der Großfamilien wird der Kläger nicht rechnen können. Weder in seiner Heimatprovinz noch in Kabul oder anderen großen Orten Afghanistans verfügt der Kläger über ein tragfähiges soziales oder familiäres Netzwerk. Über Vermögen, Haus oder Grund verfügt der Kläger nicht. Sein Vater ist nach seinen Angaben verstorben; über den Verbleib seiner Mutter und der Geschwister weiß er nichts.

Zur Vermeidung humanitärer Verelendung treten auf der Grundlage der EMRK aber an die Stelle staatlicher Unterstützung oder der individuellen Fähigkeit eines Betroffenen, für seinen existentiellen Unterhalt zu sorgen, ersetzend Formen familiärer Solidarität ein, um den Mängeln des Sozialsystems zu begegnen. Danach ist die besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht, wenn eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris).

In derartigen Fällen einer völlig unzureichenden Versorgungslage im Herkunftsland und der hohen Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit, in der es auf die besondere Unterstützung des sozialen bzw. familiären Umfeldes zur Ermöglichung der Integration ankommt, ist in wenigen besonders gelagerten Einzelfällen eine mit hoher Wahrscheinlichkeit bestehende extreme Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit anzunehmen, welche die allgemeine Gefahr zu einem Abschiebungsverbot verdichtet (vgl. auch VG Würzburg, Urteil vom 25.03.2020 - W 10 K 19.50254 -, juris, und Urteil vom 21.02.2020 - W 10 K 19.32048 -, juris; VG Magdeburg, Urteil vom 03.06.2019 - 8 A 107/18 -, juris).

Derzeit ist nicht absehbar, ob im Bereich der NGO und Humanitären Organisationen, Rückkehrern in den ersten Wochen nach ihrer Ankunft in Afghanistan bei der Integration in die afghanische Gesellschaft beizustehen, die durch die Pandemielage ausgelösten Schwierigkeiten hinreichend und nachhaltig beseitigt werden können. Ein Verweis der Rückkehrer ohne tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk auf die vor der Pandemielage regelmäßig erreichbaren Hilfsprogramme z.B. der IOM und des UNHCR erscheint insoweit unzumutbar, als die Rückkehrer nicht im Einzelfall über besondere finanzielle, technische oder intellektuelle Möglichkeiten der Hilfe oder Fähigkeiten im z.B. beruflichen Bereich verfügen. Bei der vertieften Betrachtung der humanitären Gefahren spielt dabei die Ansteckung mit dem Virus und gegebenenfalls eine mögliche Erkrankung eher eine untergeordnete Rolle, da nicht zwangsläufig und im Einzelfall mit gesundheitlich unterschiedlichen Folgen verbunden, sondern vielmehr die Frage der sozialen Ausgrenzung von Rückkehrern und die fehlende Möglichkeit, in notwendig kurzer Zeit Obdach und Arbeit zu finden. Im Hinblick auf die in den Großstädten, v.a. Kabul als etwaigem Rückkehrort, überwiegend beengten Unterbringungsverhältnisse bestehen kaum Chancen auf Selbst- und Fremdschutz durch "social distancing". Insoweit wird darauf hingewiesen (Friederike Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankung an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener (27.03.2020), S. 1 f. www.ecoi.net/en/file/local/2027210/Stellungnahme+Corona-Risiken +Afghanistan+27.03.2020.pdf),dass dies für eine Vielzahl von Rückkehrern - jedenfalls denjenigen ohne "Familienanschluss" - dazu führen dürfte, aus allgemeiner Angst der Bevölkerung vor Ansteckung einen sozialen Ausschluss zu erleben und damit weder Obdach, noch Arbeit oder soziale Unterstützung zu erhalten. Ein Fehlen dieser Erfordernisse ist jedoch auch ohne eine akute Erkrankung lebensbedrohlich, erst recht bei Erkrankung. Der Verweis auf eine Unterbringung in sog. Teehäuser erscheint auf absehbare Zeit aber kaum mehr möglich. Es wird davon berichtet (Friederike Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankung an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener (27.03.2020), S. 3 [...]), dass im Zuge der "measured lockdowns" die Teehäusern sukzessive geschlossen wurden, womit Betroffene auch bei externer (finanzieller) Unterstützung von Obdachlosigkeit betroffen sein werden. Die Unterstützungshilfen anbietenden NGO scheinen - aufgrund Schließung von örtlichen Büros - auch nicht mehr ohne weiteres kurzfristig Hilfe anbieten zu können.

Hinzu kommen die sich verstärkenden allgemeinen Schwierigkeiten bei der Sicherstellung des Unterhalts. Im Zuge der Corona-Krise sollen sich bereits Ende März 2020 die Lebensmittelpreise dramatisch erhöht haben, insbesondere für Grundnahrungsmittel. Für Kabul wird z.B. von einer Erhöhung bei Mehl um 92% und bei Tomaten um 80% berichtet; wer ohnehin schon am Rande des Existenzminimums lebt, wird angesichts dieser Preissteigerungen absehbar in lebensbedrohliche Not stürzen (Friederike Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankung an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener (27.03.2020), S. 3, [...].

Letztlich entspricht die Feststellung eines Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK auch der derzeit bestehenden tatsächlichen Situation. Zwar hat kein Bundesland eine Aussetzung der Abschiebungen nach Afghanistan gem. § 60a Abs. 1 AufenthG im Erlasswege angeordnet. Bekanntlich wurde aber die Durchführung von Sammelrückführungen nach Afghanistan auf Bitten der afghanischen Regierung vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie bis auf weiteres vorübergehend ausgesetzt. [...]