OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05.11.2020 - 12 B 10.19 - asyl.net: M29219
https://www.asyl.net/rsdb/M29219
Leitsatz:

Lebensunterhaltssicherung auch bei geringer zukünftiger Rente möglich:

1. Von der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist auszugehen, wenn die zur Verfügung stehenden Mittel eine gewisse Nachhaltigkeit aufweisen und die Prognose rechtfertigen, dass der Lebensunterhalt in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gesichert ist.

2. Maßgeblich für die Prognose ist der Zeitraum des voraussichtlichen Aufenthalts. 

3. Der Umstand, dass zukünftige Rentenansprüche voraussichtlich nicht reichen werden, um den sozialhilferechtlichen Bedarf zu decken, steht einer positiven Prognose nicht zwingend entgegen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn für die Dauer des begehrten Aufenthaltstitels von der Lebensunterhaltssicherung auszugehen ist und anschließend für die Frage einer Verlängerung oder weiteren Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis die Lebensunterhaltssicherung erneut zu prüfen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ehegattennachzug, Sicherung des Lebensunterhalts, Altersversorgung, Rente, Prognose, Bedarfsgemeinschaft, Visum, Visumsverfahren, Berufung, Revision,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 30, SGB II § 19 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 2 Abs. 3 S. 1,
Auszüge:

[...]

2. Entgegen der Beklagten und der Beigeladenen erfüllt der Kläger auch die allgemeine ErteiIungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Danach setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Dies ist gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG der Fall, wenn der Ausländer ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel (mit Ausnahme der in Satz 2 der Norm genannten) bestreiten kann. Maßgeblich ist nicht der tatsächliche Bezug öffentlicher Mittel, sondern allein, ob der Ausländer über hinreichende Mittel verfügt, die einen solcheri Anspruch ausschließen (st. Rspr., etwa BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 - 1 C 32.07 - BVerwGE 131, 370, juris Rn. 21).

a) Die Ermittlung des zur Verfügung stehenden Einkommens und der Unterhaltsbedarf richten sich bei erwerbsfähigen Ausländern und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, grundsätzlich nach den entsprechenden Regelungen des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch (SGB II). Innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft, deren gesamter Bedarf nicht aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt wird, gilt jede Person im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig (§ 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II) und hat im Regelfall einen Leistungsanspruch in Höhe dieses Anteils. Daher ist der Lebensunterhalt des Ausländers in der Regel nicht gesichert, wenn der Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft, deren Mitglied er ist, nicht durch eigene Mittel bestritten werden kann (BVerwG, Urteil vom 29. November 2012 - 10 C 4.12 - BVerwGE 145, 153, juris Rn. 25 ff.),

Für die Berechnung des zur Verfügung stehenden Einkommens sind von dem gemäß § 11 Abs. I SGB II zu ermittelnden Bruttoeinkommen die in § 11b SGB II genannten Beträge abzuziehen. Im Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG) gebietet es allerdings der Anwendungsvorrang des Unionsrechts, bei der Einkommensberechnung den Freibetrag für Erwerbstätigkeit nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, Abs. 3 SGB II nicht zu Lasten des nachzugswilligen Ausländers abzusetzen und hinsichtlich des in § 11b Abs. 2 Satz 4 SGB II pauschaliert erfassten Werbungskostenabzugs den Nachweis geringerer Aufwendungen als die gesetzlich veranschlagten 100 € zuzulassen (BVerwG, a.a.O. Rn. 31 ff. m.w.N.). Hiervon ist die Beigeladene bei der von ihr durchgeführten Einkommensberechnung ausgegangen. [...]

Die Bedarfsberechnung bestimmt sich grundsätzlich nach § 19 Abs. 1 Satz 3 SGB II; danach umfassen die Leistungen des Arbeitslosengelds II den Regelbedarf, die Mehrbedarfe sowie den Bedarf für Unterkunft und Heizung. Aufenthaltsrechtlich nicht anzusetzen sind die in § 28 SGB II enthaltenen Bedarfe für Bildung und Teilhabe (BVerwG, Urteil vom 29. November 2012, a.a.O. Rn. 28). Mehrbedarfe stehen vorliegend aber ohnehin nicht im Raum.

Der Kläger und seine Ehefrau verfügen derzeit über ein anrechenbares monatliches Brutto-Einkommen aus Erwerbstätigkeit i.H.v. 2.644,27 Euro brutto. Daraus folgt nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsabgaben ein monatliches Netto-Einkommen i.H.v. 1.998,07 Euro, welches sich jedoch nach einem Wechsel der Steuerklasse infolge des Nachzugs des Klägers noch erhöhen könnte. Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte für höhere Ausgaben ist hiervon der Pauschalbetrag von 100 Euro in Abzug zu bringen (§ 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II). Abzuziehen ist ferner für den hier zu unterstellenden Fall, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie nicht einschlägig ist, der Freibetrag für Erwerbstätige nach § 11b Abs. 3 Satz 1 AufenthG i.H.v. 200 Euro, womit die Bedarfsgemeinschaft des Klägers und seiner Ehefrau im Falle des Nachzugs des Klägers derzeit über ein anrechenbares Einkommen i.H.v. monatlich (zumindest) 1.798,07 Euro verfügen würde.

Dem stünde ein monatlicher Regelbedarf i.H.v. jeweils 389 Euro pro Person zuzüglich der Unterkunftskosten i.H.v. 589 Euro brutto-warm gegenüber, mithin ein Gesamtbedarf i.H.v. 1.367 Euro. Das derzeitige anrechenbare Einkommen übersteigt damit den sozialhilferechtlichen Bedarf der Bedarfsgemeinschaft um mindestens 431,07 Euro.

b) Abzustellen ist für die nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG anzustellende Prognose nicht nur auf das aktuell erzielte Einkommen und vorhandene Vermögen. Erforderlich ist vielmehr, dass die zur Verfügung stehenden Mittel eine gewisse Nachhaltigkeit aufweisen (BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 - 1 C 17.08 - BVerwGE 133, 329, juris Rn. 33) und die Prognose rechtfertigen, dass der Lebensunterhalt des Ausländers in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gesichert ist (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 10.12 - BVerwGE 146, 198, juris Rn. 24).

aa) Die Ehefrau des Klägers nimmt die von ihr ausgeübten Beschäftigungen bereits seit 2016 bzw. Anfang 2017 in unbefristeter und ungekündigter Anstellung wahr. [...]

bb) Der Umstand, dass die zukünftig zu erwartenden Rentenansprüche des Klägers und seiner Ehefrau voraussichtlich nicht ausreichen werden, ihren sozialhilferechtlichen Bedarf im Bundesgebiet zu decken, steht, wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat, einer positiven Prognose der Lebensunterhaltssicherung für die begehrte Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen.

Zuzugeben ist der Beklagten und der Beigeladenen, dass für die positive Prognose der dauerhaften Unterhaltssicherung einer Person, die sich bereits im Rentenalter befindet oder demnächst befinden wird, maßgeblich ist, ob sie ihren Lebensunterhalt aus hinreichenden Ansprüchen aus einer Altersversorgung bestreiten kann oder ob sie notfalls über sonstiges Einkommen oder Vermögen verfügt, welches nicht von der fortbestehenden Möglichkeit der Erwerbstätigkeit abhängt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. Februar 2016 - 11 S 8.16 - juris Rn. 4; OVG Hamburg, Beschluss vom 2. März 2018 - 1 Bs 264/17 - juris Rn. 13). In einer solchen Situation befinden sich der Kläger und seine Ehefrau jedoch nicht, die 1962 geboren sind und mithin einen Anspruch auf Grundsicherung im Alter erst im Alter von 66 Jahren und 8 Monaten erlangen könnten (§ 41 Abs. 2 SGB XII).

Maßgeblich für die anzustellende Prognose ist der Zeitraum des voraussichtlichen Aufenthalts (vgl. Samel, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl., § 5 Rn. 29). Ob, wie das Verwaltungsgericht wohl meint, der Prognosezeitraum damit stets auf die Dauer der konkret begehrten Aufenthaltserlaubnis beschränkt ist, hier infolge der Akzessorietät der begehrten Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug (§ 27 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) also auf den Zeitraum bis zum 13. Mai 2022, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Etwas anderes könnte etwa in Fällen gelten, in denen bereits absehbar ist, dass im Falle der Erteilung der streitgegenständlichen Aufenthaltserlaubnis nach Ablauf ihrer Gültigkeit aus Rechtsgründen - ungeachtet einer Unterhaltssicherung - eine weitere Erlaubnis erteilt werden müsste, eine Rückführung des Ausländers nach Ablauf der Gültigkeit des Aufenthaltstitels also nicht möglich sein wird. Hierfür bestehen indes keine Anhaltspunkte. Eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis der Ehefrau des Klägers über den 13. Mai 2022 hinaus oder gar die Erteilung eines unbefristeten Aufenthaltstitels würde eine wiederum auf die Dauer des dann beabsichtigten Aufenthalts bezogene Prognose der Einkommenssicherung voraussetzen (§ 5 Abs. 1 Nr. 1, § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Zwar kann die Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug gemäß § 30 Abs. 3 AufenthG im Wege des Ermessens abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verlängert werden. Für eine dem Kläger günstige Reduzierung des der Beigeladenen eingeräumten Ermessens ist jedoch nichts ersichtlich. Die fehlende Fähigkeit der Unterhaltssicherung ist auch bei Alter und Krankheit ein Grund, einen Aufenthaltstitel nicht zu erteilen (vgl. etwa OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21. Mai 2012 - 2 B 8.11 - juris Rn. 24 m.w.N.) oder zu verlängern; auf ein Verschulden des Ausländers kommt es hierbei nicht an. Hinzu kommt vorliegend, dass der Kläger die Aufenthaltserlaubnis in Kenntnis der Notwendigkeit dauerhafter Unterhaltssicherung erstrebt und selbst angibt, spätestens mit Beginn des Rentenbezugs in seine Heimat zurückkehren zu wollen. Schützenswertes Vertrauen auf eine spätere Aufenthaltsgewährung ohne ausreichende Unterhaltssicherung kann er daher nicht bilden.

Auch die der Einführung des § 18 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG und des § 1 Abs. 2 BeschV durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1307) zugrunde liegende Konzeption, sicherzustellen, dass ältere Ausländer, die zum Zweck der Beschäftigung einreisen, bei Erreichen der Altersgrenze über eine auskömmliche Lebensunterhaltssicherung verfügen (Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Inneres und Heimat, BT-Drs. 19/10714 S. 22), rechtfertigt nicht, die in den genannten Regelungen aufgestellten Anforderungen auf die für den Familiennachzug erforderliche Prognose der Unterhaltssicherung zu übertragen. Der Gesetzgeber hat eine so weitgehende Regelung für die nachziehenden Angehörigen bereits im Bundesgebiet tätiger Arbeitnehmer nicht getroffen, sondern die allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG unverändert gelassen und auch für diesen Personenkreis nicht verschärft.

Dass bis zum Ablauf des Mai 2022 ein positive Prognose der Unterhaltssicherung gerechtfertigt ist, bestreiten die Beklagte und die Beigeladene nicht. Die bloße Möglichkeit, dass der Lebensunterhalt künftig einmal nicht mehr gesichert sein könnte, steht einer positiven Prognose nicht entgegen (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 15. Oktober 2010 - 1 B 172/10 - juris Rn. 15). [...]