Feststellung eines Abschiebungsverbots für einen an Schizophrenie erkrankten aserbaidschanischen "Familienvater":
1. Der Kläger könnte voraussichtlich die Behandlungskosten (Medikamente, Zahlungen an Ärzt*innen) nicht aufbringen.
2. Eine gesetzliche Krankenversicherung gibt es in Aserbaidschan nicht.
3. Der Kläger könnte krankheitsbedingt voraussichtlich nicht den Lebensunterhalt für die Familie (Ehefrau und drei Kinder) verdienen.
4. In Aserbaidschan gibt es zwar Sozialhilfe, jedoch reicht diese allein nicht zum Leben aus.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
86 Gemäß der Auskunftslage ist eine Behandlung psychischer Erkrankungen in Aserbaidschan grundsätzlich möglich (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Aserbaidschan vom 26.3.2015; ecoi.net; Deutsche Botschaft Baku, Auskunft vom 18.4.2013, Az. RK-12-516.80). In akuten Fällen erfolgt die stationäre Behandlung in Nervenkrankenhäusern, die es sowohl in Baku wie auch in den Regionen des Landes gibt. Die ambulante Behandlung von Patienten wird in der Poliklinik des jeweiligen Wohnorts der Patienten durchgeführt (Deutsche Botschaft Baku, Auskunft vom 18.4.2013).
87 Allerdings ist unter Berücksichtigung der eingeholten Auskunft (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 20.11.2019, VG-Akte Bl. 150 f.) nicht davon auszugehen, dass dem Kläger in seiner konkreten Situation eine adäquate Behandlung selbst nach aserbaidschanischen Verhältnissen dort finanziell zugänglich ist. Sein aktueller Finanzierungsbedarf an Medikamenten in Aserbaidschan ergibt sich wie folgt aus dem aktuellen fachärztlichen Attest und der aktuellen Auskunft: [...]
91 Bereits die verfügbaren und bepreisten Medikamente, welche dem Kläger derzeit verabreicht werden, würden in der aktuellen Dosierung 58,11 AZN kosten. Hinzu kämen die Kosten möglicherweise für Ersatzmedikamente für nicht unter diesem Namen auffindbares erhältliches Milnaneurax sowie die Kosten für ambulante Sprechstunden und Zuzahlungen selbst bei stationärer Behandlung.
92 Dabei ist dem Kläger zu 1 die notwendige Behandlung der paranoiden Schizophrenie aus finanziellen Gründen nicht zugänglich. Der Auskunft der Deutschen Botschaft vom 18. April 2013 ist zu entnehmen, dass die ärztliche Behandlung und Medikation bei schizophrenen Psychosen und damit auch bei einer paranoiden Schizophrenie kostenlos sei. In derselben Auskunft wird indes zum staatlichen Gesundheitssystem angeführt, dass direkte Zahlungen an Ärzte üblich seien und Behandlungskosten etwa im Bereich zwischen 100 und 1.000 AZN/Euro liegen würden. Nach dem aktuellen Lagebericht (Auswärtiges Amt, Lagebericht Aserbaidschan vom 22.2.2019, S. 17) besteht in der Republik Aserbaidschan kein staatliches Krankenversicherungssystem; theoretisch gibt es eine alle notwendigen Behandlungen umfassende kostenlose medizinische Versorgung. Dringende medizinische Hilfe wird in Notfällen gewährt (was den Krankentransport und die Aufnahme in ein staatliches Krankenhaus einschließt); mittellose Patienten werden minimal versorgt, dann aber nach einigen Tagen "auf eigenen Wunsch" entlassen, wenn sie die Behandlungskosten und "Zuzahlungen" an die Ärzte und das Pflegepersonal nicht aufbringen können. In diesem Fall erfolgt dann die weitere Behandlung ambulant oder nach Kostenübernahme durch Dritte. Ein privater medizinischer Sektor floriert, erfordert aber eine Bezahlung aus eigenen Mitteln. Der hier eingeholten Auskunft (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 20.11.2019, VG-Akte Bl. 150 f.) ist ebenfalls zu entnehmen, dass eine kostenfreie Behandlung nur de jure vorhanden ist. Bei stationärer Behandlung werden die Medikamente von der Klinik zur Verfügung gestellt. De facto ist es jedoch so, dass nicht alle Medikamente in den Kliniken verfügbar sind und die vorhandenen Präparate oft veraltet sind und eine niedrige Effektivität haben. Deshalb kaufen die Patienten regelmäßig modernere Präparate auf eigene Kosten. Mithin müsste der Kläger bei ambulanter Versorgung ihre Medikamente zu den o.g. Preisen selbst erwerben bzw. erwerben lassen, wie dies vor ihrer Ausreise noch durch seine Mutter erfolgt sei (Protokoll vom 23.6.2020 S. 3), als er selbst aber noch durch Erwerbstätigkeit seinen Lebensunterhalt zu sichern vermochte (Protokoll vom 23.6.2020 S. 2 f.).
Da es nur grundsätzlich möglich ist, staatliche Hilfe in Form von Sozialhilfe oder ähnlichem zu beantragen, aber über die konkreten Erfolgsaussichten keine Aussage getroffen werden kann, ist auch auf diesem Weg keine Finanzierung für den mittlerweile nicht mehr erwerbstätigen und wohl auch nicht mehr erwerbsfähigen (vgl. Dr. med. ..., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Attest vom 2.8.2018) Kläger gesichert.
93 Der Kläger ist aber zur Überzeugung des Einzelrichters auch unter Berücksichtigung etwaiger familiärer Verdienstmöglichkeiten nicht zur eigenen Finanzierung in der Lage: Er ist Teil einer fünfköpfigen Familie und krankheitsbedingt nicht erwerbsfähig (Dr. med. ..., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Attest vom ... 2018). Daher müsste der Lebensunterhalt für die Familie durch die übrigen Familienmitglieder anderweitig aufgebracht werden.
Dabei wären auch die dem Kläger zu 1 voraussichtlich zustehenden Sozialleistungen nicht ausreichend. Nach dem aktuellen Lagebericht (Auswärtiges Amt, Lagebericht Aserbaidschan vom 22.2.2019, S. 17) liege das offizielle Existenzminimum nach offiziellen Berechnungen derzeit bei 173 AZN (ca. 90 EUR) pro Kopf und Monat. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln sei gewährleistet. Einkommensschwache Familien erhielten Sozialleistungen; im Jahr 2017 insgesamt 326.631 Personen Leistungen von durchschnittlich 36,39 AZN (ca. 18 EUR) pro Person pro Monat. Dieser Betrag würde im Fall des Klägers nicht einmal die Medikamentenkosten von ca. 58,11 AZN, geschweige denn zusätzlich seinen Lebensunterhalt decken. Dass die Klägerin zu 2 und die Klägerin zu 3 durch ihre Erwerbstätigkeit in Aserbaidschan aber die fünfköpfige Familie einschließlich des für den Kläger zu 1 krankheitsbedingt anfallenden Sonderbedarfs unterhalten könnten, mithin also seinen Lebensunterhalt so sichern könnten, dass ihm auch die erforderliche Behandlung seiner Schizophrenie in Aserbaidschan auch finanziell so zugänglich wäre, dass sich die vorhandene Erkrankung nicht in einer § 60 Abs. 7 AufenthG widersprechenden Weise verschlimmerte, ist daher nicht ersichtlich.
94 Daher ist im vorliegenden Fall ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch die Beklagte zu Gunsten des Klägers zu 1 festzustellen. [...]