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VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 25.06.2020 - A 13 K 5389/17 - asyl.net: M29292
https://www.asyl.net/rsdb/M29292
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine Frau aus Nigeria wegen drohender Genitalverstümmelung:

1. Auch Frauen, die bereits verheiratet sind bzw. waren und Kinder haben, kann noch die Gefahr der Genitalverstümmelung durch ihre Familie drohen.

2. In anderen Landesteilen besteht zwar Sicherheit davor, jedoch für eine alleinstehende Frau mit Kindern keine Möglichkeit, das Existenzminimum zu sichern.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Nigeria, Südnigeria, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Genitalverstümmelung, interner Schutz, nichtstaatliche Verfolgung, alleinerziehend, alleinstehende Frauen,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Das Vorbringen der Klägerin 1) steht auch voll im Einklang mit der Erkenntnismittellage. Diese stellt sich hinsichtlich der Zwangsbeschneidung wie folgt dar:

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Nigeria nach wie vor verbreitet. Dabei gibt es erhebliche regionale Diskrepanzen. In einigen Regionen im Südwesten und in der Region "Süd-Süd" wird die große Mehrzahl der Mädchen auch heute noch Opfer von Genitalverstümmelungen, in weiten Teilen Nordnigerias ist der Anteil erheblich geringer. Genitalverstümmelungen sind generell in ländlichen Gebieten weiter verbreitet als in Städten. (Vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 10. Dezember 2018 (Stand: Oktober 2018), S. 15.)

Im gesamten Süden Nigerias waren im November 2009 ca. 30 % Prozent, im Südwesten sogar ca. 50 % Prozent der Frauen in Form der Female Genital Mutilation (FGM) - wie die weibliche Genitalverstümmelung auch genannt wird - beschnitten (vVgl. ACCORD, Nigeria, Frauen, Kinder, sexuelle Orientierung, Gesundheitsversogung vom 21. Juni 2011, S. 7, 8 (34,2 Prozent im Süden und 53,4 Prozent im Südwesten); vgl. auch Terre des Femmes, www.frauenrechte.de/online/index. php/themen-und-aktionen/weibliche-genitalverstuemmelung2/unser-engagement/aktivitaeten/genitalverstuemmelung-in-afrika/fgm-in-afrika/1462-nigeria, Stand: September 2016). Die Folgen einer rituellen Zwangsbeschneidung sind schwerwiegend und damit unmenschlich. Es handelt sich um einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der zu Beschneidenden. Aus dem Bericht von ACCORD folgt, dass der zu Beschneidenden Folgen wie exzessive Blutungen, Infektionen, Schwierigkeiten beim Urinieren bis hin zu einer bleibenden Entstellung der Geschlechtsteile drohten. Eine medizinische Behandlung erfolgt nur selten. Allerdings besteht auch die Gefahr weitere Komplikationen, welche zwar gesellschaftlich nicht akzeptiert sind, jedoch auch auftreten. So können als Folgen neben den oben bereits beschriebenen auch, Infektionsübertragungen, örtliche Wundinfektionen und Gebärunfähigkeit (ACCORD, Anfragebeantwortung an das VG Sigmaringen vom 13.02.2019, S. 8 ff.). Bei rituellen Beschneidungen drohen mithin schwerste Verletzungen, die unter Umständen sogar tödlich verlaufen können (AA, Anfragebeantwortung an das VG Sigmaringen vom 13.02.2019, S. 3). [...]

Bei einer Rückkehr der Klägerin 1) in ihren Heimatort kann nicht damit gerechnet werden, dass es ihr erneut gelingen würde, sich dem Zugriff ihres Onkels und der Dorfältesten und damit einer Zwangsbeschneidung zu entziehen. Dabei legt das Gericht zum einen zugrunde, dass sie als alleinstehende Frau mit vier Kindern im betreuungsbedürftigen Alter nach Nigeria zurückkehren würde. Denn nach ihren insoweit glaubhaften Angaben haben sie und der Vater ihrer Kinder sich getrennt. Zudem lebt der Vater nicht bei ihr und den Kindern. Zum anderen ist nicht davon auszugehen, dass ihr sonstige Familienangehörige erneut Schutz bieten könnte. Denn die Klägerin 1) würde nicht allein, sondern mit vier kleinen Kindern zurückkehren, denen ebenfalls Obhut gewährt werden müsste.

Es steht zur Überzeugung des Gerichts auch fest, dass neben Kindern, jungen Mädchen und jungen Frauen auch ältere Frauen, die bereits Kinder geboren haben, Opfer von derartigen Praktiken werden können, da sich den die dem Gericht vorliegenden Erkenntnis mittel keine altersmäßige Begrenzung dieses Eingriffs entnehmen lässt. Der Staat ist ferner nicht willens und in der Lage, insoweit effektiven Schutz zu bieten. In einigen Bundesstaaten ist weibliche Genital Verstümmlung zwar unter Strafe gestellt; eine nationale Gesetzgebung gegen die Praxis existiert zudem seit 2015, ist aber bisher nur in einzelnen Bundesstaaten umgesetzt worden. (Vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 10. Dezember 2018 (Stand: Oktober 2018), S. 15.). [...]

Auch wenn sich die Klägerin 1) mit der derzeit bestehenden Kernfamilie, bestehend aus ihr und den vier minderjährigen Kindern, könnte die allein arbeitsfähige Klägerin zu 1. für die Existenzsicherung der (gelebten) Kernfamilie (vgl. zur Rückkehrprognose BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 -, juris) nicht aufkommen.

Der Klägerin 1) kann vorliegend nicht zugemutet werden, sich in einem anderen Landesteil niederzulassen, um der Bedrohung zu entfliehen. Von einem Schutzsuchenden kann nur dann vernünftiger Weise erwartet werden, dass er sich in einem anderen Landesteil dauerhaft niederlässt, wenn er dort in der Lage ist, das Existenzminimum sicherzustellen. Bei der Prüfung des § 3e AsylG ist außerdem zu beachten, dass Familienangehörige wegen des Schutzes der Ehe und Familie nach Art. 6 GG nur gemeinsam mit ihren minderjährigen Kindern nach Nigeria zurückkehren können, sodass bei der Frage, ob das Existenzminimum im Zufluchtsort erwirtschaftet werden kann, alle Familienmitglieder in den Blick zu nehmen sind.

Dies zugrunde gelegt kann nicht davon ausgegangen werden, dass es der Klägerin 1) gelingen würde, die für das Überleben ihrer Familie notwendigen Mittel zu erwirtschaften. Dabei geht das Gericht nach den vorstehenden Erwägungen davon aus, dass die Klägerin 1) als alleinstehende Frau mit drei Kindern im betreuungsbedürftigen Alter nach Nigeria zurückkehren würde und dass sie keine nennenswerte Unterstützung durch ihre Familienangehörigen erhalten würde. Insbesondere sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Klägerin 1) in der Lage wäre, das Existenzminimum einer vierköpfigen Familie zu sichern.

Die wirtschaftliche Lage für einen großen Teil der Bevölkerung Nigerias ist schwierig. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung in Nigeria leben in absoluter Armut. Über 20 Millionen junge Menschen sind arbeitslos. Der Staat und die Bundesstaaten haben damit begonnen, diesbezüglich Programme umzusetzen. Die Resultate sind dürftig. Der Mangel an lohnabhängiger Beschäftigung führt dazu, dass immer mehr Nigerianer in den Großstädten Überlebenschancen im informellen Wirtschaftssektor als "self-employed" suchen. Die Massenverelendung nimmt seit Jahren bedrohliche Ausmaße an. Verschiedene Studien haben ergeben, dass mehr als 80 % der arbeitsfähigen Bevölkerung Nigerias arbeitslos sind und dass 60 % der Arbeitslosen Abgänger der Haupt- oder Mittelschule ohne Berufsausbildung sind. Offizielle Statistiken über die Arbeitslosigkeit gibt es aufgrund fehlender sozialer Einrichtungen und Absicherung nicht. Die Großfamilie unterstützt beschäftigungslose Angehörige.

Die Klägerin 1) könnte sowohl vor dem Hintergrund der Betreuungsbedürftigkeit ihrer Kinder als auch angesichts der in der nigerianischen Gesellschaft weit verbreiteten Diskriminierung von (alleinstehenden) Frauen, (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 10. Dezember 2018 (Stand: Oktober 2018), S. 14 ff.) nur in äußerst eingeschränktem Maß selbst einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Bei einer Gesamtbetrachtung der vorstehend dargelegten besonderen Umstände des Einzelfalls ist der Klägerin 1) ein Ausweichen auf andere Landesteile Nigerias nicht zumutbar. Das gilt umso mehr als dass der Kläger 2) an Sichelzellanämie leidet und aufgrund regelmäßig erforderlicher Arzt- und Krankenhausbesuche besonders betreuungsbedürftig ist. [...]