OVG Niedersachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 30.12.2020 - 10 LA 275/20 - asyl.net: M29303
https://www.asyl.net/rsdb/M29303
Leitsatz:

Keine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes bei Zustellung des schriftlichen Urteils:

"Asylrechtliche Streitigkeiten sind vom Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht umfasst."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Asylverfahrensrecht, faires Verfahren, rechtliches Gehör, Überraschungsentscheidung, Öffentlichkeitsgrundsatz, mündliche Verhandlung, Berufungszulassung,
Normen: EMRK Art. 6 Abs. 1, VwGO § 138 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

13 Hierin ist keine Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens zu sehen. Denn § 138 Nr. 5 VwGO betrifft nur den Fall, dass in der mündlichen Verhandlung gegen Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verstoßen wurde und nicht Mängel bei der Urteilsverkündung (Eichberger/Buchheister in Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2020, § 138 Rn. 122 m.w.N.). Die unterbliebene Verkündung des Urteils in öffentlicher Sitzung wird von § 138 Nr. 5 VwGO nicht erfasst (BVerwG, Beschluss vom 30.9.2010 – 9 B 3.10 –, juris Rn. 10). Diese Einschränkung rechtfertigt sich dadurch, dass sich eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes bei der Urteilsverkündung nicht auf die Entscheidungsfindung auswirken kann (OVG Nordrhein- Westfalen, Beschluss vom 15.3.2018 – 13 A 171/18.A –, juris Rn. 5; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 26.1.2015 – 4 LA 232/14 –, juris Rn. 6).

14 Dies gilt unabhängig davon, ob eine die Verkündung des Urteils ersetzende Zustellung nach § 116 Abs. 2 VwGO - wie der Kläger meint - in Widerspruch zu Art. 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 EMRK steht, nach dem - über § 138 Nr. 5 VwGO hinaus - das Urteil öffentlich verkündet werden muss (vgl. auch Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 26.1.2015 – 4 LA 232/14 –, juris Rn. 7; Bayerischer VGH, Beschluss vom 4.5.2011 – 14 ZB 11.30142 –, juris Rn. 3). Denn Verfahren aus dem Kernbereich des öffentlichen Rechts, wozu auch das Asylrecht zählt, sind von dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK, der bereits nach dem Wortlaut nur für Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen und für strafrechtliche Anklagen gilt, nicht umfasst (BVerwG, Beschluss vom 12.9.2018 – 1 B 50.18 –, juris Rn. 23 m.w.N.; Senatsbeschluss vom 10.7.2019 – 10 LA 35/19 –, juris Rn. 16). Nur wenn die Streitigkeit einen unmittelbaren Bezug zu zivilrechtlichen Ansprüchen hat, kommt im öffentlichen Recht möglicherweise eine Anwendung des Art. 6 Abs. 1 EMRK in Betracht (vgl. Ruthig in Kopp/Schenke, VwGO, 26. Auflage 2020, § 1 Rn. 16a m.w.N.).

15 Doch selbst wenn auf die vorliegende Streitigkeit Art. 6 Abs. 1 EMRK anzuwenden wäre, würde die Zustellung des Urteils gemäß § 116 Abs. 2 VwGO nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK genügen (BVerwG, Beschluss vom 30.6.2014 – 9 B 13.14 –, juris Rn. 3). Darüber hinaus würde dem Kläger letztlich insoweit jedenfalls auch die Rügebefugnis fehlen, weil er in der mündlichen Verhandlung ausweislich des Protokolls, der Entscheidung des Gerichts, die Entscheidung zuzustellen, nicht widersprochen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30.6.2014 – 9 B 13.14 –, juris Rn. 3; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.1.2015 – OVG 10 N 63.11 –, juris Rn. 11; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 3.4.2013 – 13 LA 34/13 –, juris Rn. 7; vgl. hierzu auch Clausing/Kimmel in Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2020, § 116 Rn. 9). [...]