VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 11.01.2021 - 3 A 539/20.A (Asylmagazin 4/2021, S. 124 f.) - asyl.net: M29315
https://www.asyl.net/rsdb/M29315
Leitsatz:

Keine Abschiebung von Familien nach Italien:

"1. Soll eine Familie mit drei kleinen Kindern, die (zum Teil) in Italien den Flüchtlingsstatus zuerkannt bekommen und sich dort aus der ihr zugewiesenen Unterkunft entfernt hat, nach Italien zurückgeführt werden, besteht nach den Auskünften des Österreichischen Roten Kreuzes - ACCORD - vom 18. September 2020, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von Pro Asyl vom 29. Oktober 2020 die ernsthafte Gefahr, dass sie bei Rückführung nach Italien in die Obdachlosigkeit entlassen und damit extremer materieller Not ausgesetzt sein würde, die einer unmenschlichen und/oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 4 GRC gleichzusetzen ist.

2. Bei der Frage, ob eine Rückführung mit [derzeit allgemeiner] Zusicherung der italienischen Behörden hinsichtlich der Gewährung von Obdach und Nahrung zulässig wäre, wäre zu berücksichtigen, dass nach Kenntnisstand der Auskunftsstellen derzeit Zusicherungen der italienischen Behörden keine entscheidende Rolle für den tatsächlichen Zugang zu staatlichen Hilfen gewährleisten (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe und Pro Asyl). ACCORD liegen keine Informationen zu Rückführungen mit individualisierter Zusicherung vor."

(Amtliche Leitsätze; Kostenbeschluss, da das BAMF während der Beweisaufnahme den Unzulässigkeitsbescheid aufgehoben hat)

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, besonders schutzbedürftig, Kind, Kinder, Zusicherung, Erledigung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Existenzminimum, Obdachlosigkeit, medizinische Versorgung, Rückführung, Menschenwürde,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, GR-Charta Art. 4, RL 2011/95/EU Art. 20, RL 2013/32/EU Art. 33, VwGO § 161 Abs. 2, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

6 Denn die Auffassung der Beklagten, die Anträge der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft seien unzulässig, da sie bereits in Italien Flüchtlingsschutz zuerkannt bekommen hätten, ist nach dem von der Richterin anzulegenden Prüfungsmaßstab des § 161 Abs. 2 VwGO als fehlerhaft anzusehen, wobei der zwischen den Beteiligten streitige Aspekt, ob das im Bundesgebiet geborene minderjährige Kind, die Klägerin zu 4), vom Anwendungsbereich der Unzulässigkeitsvorschrift überhaupt erfasst wird, außen vor bleibt. [...]

9 Zwar erfüllen die Kläger zu 1) und zu 2) damit in materieller Hinsicht die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wonach ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat.

10 Allerdings kann eine Unzulässigkeitsentscheidung gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sowie dieser nachfolgend des Bundesverwaltungsgerichts aus Gründen vorrangigen Unionsrechts gleichwohl ausnahmsweise ausgeschlossen sein. Dies ist der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, die den Antragsteller bzw. Kläger als anerkannten Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedsstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta - GRC - zu erfahren. [...]

14 Unter Anlegung dieser Maßstäbe besteht nach den im Rahmen des § 161 Abs. 2 VwGO anzulegenden Maßstäben die ernsthafte Gefahr, dass die Kläger bei Rückführung nach Italien als nunmehr fünfköpfige Familie in die Obdachlosigkeit entlassen und damit extremer materieller Not ausgesetzt sein würden, die einer unmenschlichen und/oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 4 GRC gleichzusetzen ist.

15 Zwar können die Kläger als in Italien anerkannte Flüchtlinge nach den Stellungnahmen der Auskunftsstellen wohl unproblematisch nach Italien (zurück) reisen, sie hätten aber keine Aussicht darauf, zeitnah Obdach und andere elementare Unterstützungsleistungen zu erhalten, die zur Beseitigung bzw. Verhinderung extremer sozialer Not und damit zur Gewährleistung menschenwürdiger Zustände erforderlich und geboten wären (vgl. Borowsky, in Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl., 2019, Art. 4 Rdnr. 21, 24 m.w.N.).

16 Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und Pro Asyl vom 29. Oktober 2020 haben Personen mit Schutzstatus in Italien grundsätzlich das Recht, bis zu sechs Monate nach ihrer Statusanerkennung in einer „Unterbringung der zweiten Stufe“ (SIPROIMI) untergebracht zu werden.

17 Das Recht auf Unterbringung, das die Kläger offensichtlich innehatten, da sie nach ihrer Auskunft in Rom registriert wurden und sich in einem Flüchtlingscamp aufgehalten haben, bis dieses abgebrannt war, kann jedoch entzogen werden.

18 Der Hauptgrund für den Entzug der Aufnahmebedingungen ist das Verlassen des Zentrums ohne vorherige Ankündigung. Wenn das Recht einmal entzogen wurde, stehen die Chancen, wieder Zugang zu erhalten, schlecht. Die betroffenen Personen werden obdachlos (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe und Pro Asyl an Hess. VGH vom 29.10.2020 zu 3 A 539/20.A, S. 1, 2). Gleiches wird von ACCORD in seiner Auskunft aus dem September 2020 bestätigt, wonach eine Person, die das SIPROIMI-Projekt vor Beendigung des für sie vorgesehenen Programms beendet hat, ihr Recht auf Unterkunft in diesem verliert. Hat sie schon früher Zugang zu einem derartigen Projekt erhalten und ist sie später nach Italien zurück überstellt worden, erhält sie keinen Zugang mehr zu den SEPROIMI-Projekten (vgl. vgl. ACCORD an Hess. VGH vom 18.09.2020 zu 3 A 539/20.A, S. 7 ff.). [...]

22 Es besteht mithin nach den dem Senat vorliegenden Auskünften die ernsthafte Gefahr, dass die Kläger bei Rückführung nach Italien dort - zumindest zunächst - obdachlos würden, was mit ihrer Menschenwürde und Art. 4 GCR nicht vereinbar ist. [...]

24 Die Kläger können im Lichte von Art. 4 GCR weder darauf verwiesen werden, wie andere Personen mit Schutzstatus in Italien auf der Straße zu leben, noch sich in eine der in Italien existierenden „informellen Siedlungen“, besetzten Häusern oder Slums zu begeben, da dort unzumutbare Zustände herrschen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe und Pro Asyl, a.a.O., S. 2).

25 Die Kläger hätten bei Rückführung nach Italien auch keine Chance, zeitnah eine Sozialwohnung von den italienischen Behörden zugewiesen zu bekommen. [...]

28 Da die Kläger derzeit über keinen Wohnsitz in Italien verfügen und auch keine Aussicht darauf besteht, dass sie eine „Erklärung der Gastfreundschaft“ vorweisen könnten, ist nicht erkennbar, dass sie bei Rückführung nach Italien zeitnah von der Gefahr drohender Obdachlosigkeit mit der Folge des Ausschlusses von weiteren staatlichen Zuwendungen wie Essen und Trinken verschont blieben.

29 Solange kein Zugang zu einer staatlichen Unterkunft besteht, werden nämlich von Seiten des Staates keine weiteren Leistungen bereitgestellt. Das italienische System basiert auf der Annahme, dass sich Personen mit Schutzstatus um sich selbst kümmern müssen und zudem das wichtigste Instrument der sozialen Wohlfahrt in Italien immer noch ein informelles, nämlich das Familiennetzwerk ist. Gem. Art. 27 des italienischen Qualifikationsdekretes müssen Personen mit internationalem Schutzstatus im Bereich der Sozialhilfe gleichbehandelt werden wie italienische Staatsangehörige. In Italien gibt es jedoch kein Sozialhilfesystem, wie dies in Deutschland oder der Schweiz vorgesehen ist. Italienische Familiennetzwerke stellen nach wie vor das wichtigste, wenn auch informelle Instrument der sozialen Wohlfahrt dar. Während die Italiener/-innen im Bedarfsfall auf die Hilfe ihrer Verwandten zählen können, fehlt es Geflüchteten an einem solchen Familiennetz. Daher sind sie faktisch schlechter gestellt als italienische Staatsangehörige. (vgl. ACCORD, a.a.O., S. 8; Schweizerische Flüchtlingshilfe und Pro Asyl, a.a.O., S. 6). [...]

32 Auch für den Zugang zur Gesundheitsvorsorge werden für Personen mit internationalem Schutz unüberwindbare Hindernisse aufgestellt, solange sie obdachlos sind und deshalb Schwierigkeiten haben, ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern und/oder einen Aufenthaltsnachweis zu erbringen (vgl. ACCORD. A.a.O., S. 11; Schweizerische Flüchtlingshilfe und Pro Asyl, a.a.O., S. 4).

33 Der Zugang zu Sozialhilfe dürfte den Klägern aus den genannten Gründen verwehrt sein, ebenso wie zu dem in Italien am 21. März 2019 eingeführten Bürgergeld. Der Erhalt des Bürgergeldes ist an zahlreiche Bedingungen geknüpft, u. a. muss die antragstellende Person mindestens zehn Jahre in Italien gelebt haben, zwei davon ununterbrochen (vgl.
Schweizerische Flüchtlingshilfe und Pro Asyl, a.a.O., S. 6). Es ist naheliegend, dass dies für die Kläger keine Hilfestellung darstellen würde.

34 Unter Einstellung dieser dem Senat im Zeitpunkt der Klaglosstellung vorliegenden Erkenntnisse spricht überwiegend viel dafür, dass sich die Kläger bei einer Rückführung nach Italien unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinden würden, die es ihnen nicht erlauben würde, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere Obdach zu haben, sich zu ernähren und so nicht in einen Zustand der Verelendung zu geraten.

35 Bei der Frage, ob eine Rückführung der Kläger mit Zusicherung der italienischen Behörde zulässig wäre, wäre zu berücksichtigen, dass nach Kenntnisstand der Auskunftsstellen Zusicherungen der italienischen Behörden derzeit keine entscheidende Rolle für den tatsächlichen Zugang zu staatlichen Hilfen gewährleisten (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe und Pro Asyl, a.a.O., S. 9). ACCORD verfügt über keine Informationen zu einer individualisierten Zusicherung (vgl. ACCORD, a.a.O., S. 12).

36 Die Beklagte müsste daher durch entsprechende Vereinbarungen sicherstellen, dass, soweit sie Personen nach Italien verbringen will, diese dort nicht in extreme materielle Not, Obdachlosigkeit und Verelendung fallen. Die Zusicherungen, die von den Auskunftsstellen bisher als nicht valide angesehen wurden, müssten daher individualisiert und in auch für die Gerichte überprüfbarer Art und Weise vorliegen und hinsichtlich der Kläger gewährleisten, dass sie nicht in Obdachlosigkeit zurückgeführt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.10,2019 - 2 BvR 1380/19 -, juris). [...]