VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 16.12.2020 - 9 B 2282/20 - asyl.net: M29334
https://www.asyl.net/rsdb/M29334
Leitsatz:

Wirksame Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch ohne Aushändigung des elektronischen Aufenthaltstitels:

"1. Die Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis unterliegt nicht der Schriftform.

2. § 78 AufenthG enthält lediglich Vorgaben für die Ausgestaltung von Aufenthaltstiteln. Das nach dieser Vorschrift ausgestellte Dokument mit elektronischem Speicher- und Verarbeitungsmedium (elektronischer Aufenthaltstitel) stellt die Bestätigung und Verkörperung des bereits erteilten Aufenthaltstitels dar.

3. Ob, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form einem Ausländer im Rahmen einer persönlichen Vorsprache zur Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis der begehrte Verwaltungsakt antragsgemäß erteilt wird, richtet sich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles.

4. Die Bekanntgabe eines Aufenthaltstitels selbst fällt in der Regel nicht mit der Aushändigung des elektronischen Aufenthaltstitels nach § 78 AufenthG zusammen, sondern kann zeitlich vorgelagert zum Zeit­punkt der Vorsprache zur Abgabe der Fingerabdrücke und des biometrischen Passfotos, der Entrichtung der Bearbeitungsgebühr und der entsprechenden Eintragung in das Ausländerzentralregister durch konkludentes Handeln der Ausländerbehörde erfolgen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltstitel, elektronischer Aufenthaltstitel, Aufenthaltserlaubnis, Beurteilungszeitpunkt, Erteilung, Schriftform, Wirksamkeit,
Normen: AufenthG § 78, AufenthG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, AufenthG § 77 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

4 Mit den Ausführungen des Antragstellers in der Beschwerdebegründung, nach denen sich der Umfang der rechtlichen Prüfung durch den Senat im Beschwerdeverfahren zunächst bestimmt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), ist die Richtigkeit der maßgeblichen Erwägungen, die das Verwaltungsgericht zu seiner ablehnenden Entscheidung über das Eilrechtsschutzgesuch bewogen haben, entscheidend in Frage gestellt. Im Ergebnis hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers jedoch zu Recht abgelehnt.

5 Nach der hier gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage geht der Antragsteller zu Recht davon aus, dass ihm bei seiner Vorsprache am 23. Dezember 2016 bei der Ausländerbehörde der Stadt Neuss eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG mit einer Gültigkeitsdauer vom 23. Dezember 2016 bis zum 22. Dezember 2017 wirksam erteilt worden ist und er daher am 21. Dezember 2017 rechtzeitig vor Ablauf dieser Gültigkeitsdauer einen Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis gestellt hat, so dass die Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG greift und der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthaft ist.

6 Ob, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form einem Ausländer im Rahmen einer persönlichen Vorsprache zur Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis der begehrte Verwaltungsakt antragsgemäß erteilt wird, richtet sich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles.

7 Das Verwaltungsgericht hat zu Recht ausgeführt, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels in Form einer Aufenthaltserlaubnis einen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 des Hessischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (HVwVfG) darstelle, der von seiner Verkörperung durch Ausstellung einer Urkunde oder eines sonstigen Dokuments als Verwaltungsrealakt zu unterscheiden sei. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels bedürfe nicht der Schriftform. Grundsätzlich bestehe bei Verwaltungsakten – auch im Aufenthaltsrecht – Formfreiheit nach § 37 Abs. 2 Satz 1 HVwVfG.

8 Ein Verwaltungsakt muss nur dann schriftlich ergehen, wenn dies gesetzlich oder durch besondere Rechtsvorschriften ausdrücklich bestimmt wird oder sich aus der Natur des Verwaltungsakts oder den Umständen seines Erlasses ergibt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Dezember 2017 – 6 B 43/17 –, juris Rn. 10; Hailbronner, Aufenthaltsgesetz, 115. Aktualisierung März 2020, § 77 Rn. 3). Im Ausländerrecht sieht § 77 Abs. 1 AufenthG nur für bestimmte Maßnahmen ausdrücklich ein Schriftformerfordernis und eine Begründungspflicht vor, die Erteilung eines Aufenthaltstitels wird dort – im Gegensatz zur Versagung oder Beschränkung eines Aufenthaltstitels – nicht genannt. [...]

9 Ein Schriftformerfordernis folgt auch nicht aus der Vorschrift des § 78 AufenthG. Danach werden Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 4 AufenthG als eigenständige Dokumente mit elektronischem Speicher- und Verarbeitungsmedium ausgestellt (elektronischer Aufenthaltstitel). Diese Vorschrift enthält jedoch lediglich Vorgaben für die Ausgestaltung von Aufenthaltstiteln (vgl. Huber in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Auflage 2016, § 78, beck-online). Das Dokument stellt nur die Bestätigung und Verkörperung des bereits erteilten Aufenthaltstitels dar. Ein Schriftformerfordernis, bei dessen Missachtung der Verwaltungsakt unwirksam ist, ist jedoch strikt zu unterscheiden von der praktischen oder vom Gesetz vorgesehenen Notwendigkeit, einen erlassenen Verwaltungsakt auch zu verkörpern, um dadurch in die Lage versetzt zu werden, seinen ausweisrechtlichen Pflichten gemäß der §§ 48 f. AufenthG zu genügen.

10 Dem Antragsteller ist die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis am 23. Dezember 2016 auch wirksam bekanntgegeben worden. Ein Verwaltungsakt ist erst dann wirksam erlassen worden, wenn er mit Wissen und Willen der Behörde dem Betroffenen gegenüber bekanntgegeben wurde, d. h. diesem zugeht (vgl. §§ 43 i.V.m. 41 HVwVfG). Die Bekanntgabe eines Aufenthaltstitels selbst fällt in der Regel nicht mit der Aushändigung des elektronischen Aufenthaltstitels nach § 78 AufenthG zusammen, sondern erfolgt zeitlich vorgelagert zum Zeitpunkt der Vorsprache zur Abgabe der Fingerabdrücke und des biometrischen Passfotos, der Entrichtung der Bearbeitungsgebühr und der entsprechenden Eintragung in das Ausländerzentralregister (AZR) durch konkludentes Handeln der Ausländerbehörde (vgl. zur Bekanntgabe durch konkludentes Verhalten: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 8. Februar 2017 – 9 S 1128/16 –, juris Rn. 76 m. w. N.). Hierfür spricht regelmäßig, dass bereits dieser Zeitpunkt als Erteilungsdatum des Aufenthaltstitels in das Dokument mit elektronischem Speicher- und Verarbeitungsmedium i. S. d. § 78 AufenthG aufgenommen wird (vgl. Hofmann in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 77 AufenthG Rn. 6 unter Praxishinweis).

11 Ausgehend von diesen Grundätzen spricht vorliegend aufgrund einer Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls die hier gebotene summarische Prüfung des Sachverhalts dafür, dass dem Antragsteller bei seiner Vorsprache bei der Ausländerbehörde der Stadt Neuss am 23. Dezember 2016 durch deren konkludentes Handeln eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde.

12 Ausweislich eines Vermerks des Sachbearbeiters der Ausländerbehörde der Stadt Neuss vom 16. Dezember 2016 (vgl. Bl. 331 d. Behördenakte) ist der Antragsteller an diesem Tag aufgefordert worden, nach erfolgter Rücknahme seines Wiederaufnahmeantrags zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Ausländerbehörde einen entsprechenden Beleg hierüber beizubringen und sodann zu einer weiteren persönlichen Vorsprache zur Erteilung eines elektronischen Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erscheinen. Hierzu solle der Antragsteller zwei neue biometrische Passfotos mitbringen, bei der Vorsprache seine Fingerabdrücke abgeben sowie eine Bearbeitungsgebühr für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis entrichten, um dann den elektronischen Aufenthaltstitel bei der Bundesdruckerei zu bestellen. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Ausländerbehörde der Stadt Neuss bereits zu diesem vorgelagerten Zeitpunkt die wesentlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG überprüft hat und von deren Vorliegen ausgegangen ist. Anderenfalls wäre zu erwarten gewesen, dass sie eine Anhörung zu einer Ablehnung der beantragten Erteilung der Aufenthaltserlaubnis verfügt hätte. [...]

16 Es ist dem Antragsteller danach zwar gelungen, hinsichtlich der Statthaftigkeit seines Antrags nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO bezüglich der Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis die tragenden Gründe der zu seinem Nachteil ergangenen erstinstanzlichen Entscheidung erfolgreich in Zweifel zu ziehen, die angegriffene Entscheidung erweist sich jedoch aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig. [...]

19 Die mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 5. Mai 2020 ausgesprochene Ablehnung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vom 21. Dezember 2017 ist im Ergebnis offensichtlich rechtmäßig erfolgt, sodass die gebotene Interessenabwägung im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO zu Lasten des Antragstellers ausfällt.

20 Der Antragsteller hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keinen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, da die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht vorliegen. § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG verlangt unter anderem, dass die Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich sein muss. Eine tatsächliche Unmöglichkeit der Ausreise wegen Passlosigkeit liegt hier jedenfalls jetzt nicht (mehr) vor. Unstreitig ist dem Antragsteller vom türkischen  Generalkonsulat in Frankfurt am Main am 28. Dezember 2016 ein türkischer Pass mit Gültigkeitsdauer bis zum 27. Dezember 2026 ausgestellt worden (vgl. Bl. 347, 431 d. Behördenakte), sodass das in der Passlosigkeit begründete Ausreisehindernis weggefallen ist. Der Antragsteller hat mit seiner Beschwerdebegründung nichts vorgebracht, was für eine Unmöglichkeit einer Ausreise in die Türkei sprechen könnte. Auch nach Aktenlage sind Ausreisehindernisse nicht ersichtlich.

21 Der vom Antragsteller geltend gemachte Vertrauensschutz führt hier nicht weiter, da bei befristeten Aufenthaltstiteln nach Ablauf der Gültigkeitsdauer die Erteilungsvoraussetzungen erneut zu prüfen sind (vgl. § 8 Abs. 1 AufenthG).

22 Erweist sich danach die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis als rechtmäßig, ist auch die Abschiebungsandrohung nach § 59 i. V. m. § 58 Abs. 1 und 2 sowie § 50 Abs. 1 AufenthG nicht zu beanstanden, sodass das Verwaltungsgericht den Antrag auch insoweit im Ergebnis zu Recht abgelehnt hat. [...]