VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.01.2021 - 12 S 2894/20 - asyl.net: M29343
https://www.asyl.net/rsdb/M29343
Leitsatz:

Keine Verkürzung der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots:

"Bei einem Begehren auf Aufhebung oder Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG gelten spiegelbildlich die gleichen Grundsätze wie bei der Festsetzung der ursprünglichen Frist.

Ist eine Ausweisung aufgrund begangener Straftaten allein auf spezialpräventive Gründe gestützt, kommt es auch im Rahmen einer Entscheidung über die Aufhebung oder Verkürzung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG auf die Frage der Gefahr der Wiederholung neuer Straftaten durch den Ausländer selbst an. Für neue, generalpräventive Erwägungen ist insoweit kein Raum."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Drogendelikt, Straftat, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Ausweisung, spezialpräventive Gründe, Generalpräventiver Zweck, Befristung, nachträgliche Befristung,
Normen: AufenthG § 11 Abs. 4 S. 1,
Auszüge:

[...]

III. Ausgehend von den vorstehend genannten Maßstäben geben die Ausführung in der Begründung des Zulassungsantrags keinen Anlass zu ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils. [...]

a) Im Unterschied zur Möglichkeit der Verlängerung des Einreise- und Aufenthaltsverbots aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach § 11 Abs. 4 Satz 4 AufenthG dient § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG den Interessen des Ausländers (vgl. die Begründung zu § 11 Abs. 4 AufenthG im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung BT-Drs. 18/4097 vom 25.02.2015, S. 36) und normiert Reaktionsmöglichkeiten auf tatsächliche Umstände, die nach Bestandskraft des mit der Ausweisung verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbots eintreten [...].

b) Das Verwaltungsgericht hat zutreffend angenommen, dass bei einem Begehren auf Aufhebung bzw. Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG spiegelbildlich die gleichen Grundsätze gelten wie bei der Festsetzung der ursprünglichen Frist (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 11 Rn. 165 i.V.m. Rn. 88 ff. <Stand: März 2020>). Für die Bestimmung der nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im Ermessen der Behörde stehenden Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots gilt ein zweistufiges Prüfungsprogramm: Die Ausländerbehörde muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG), sowie unions- und konventionsrechtlich an den Vorgaben aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK gemessen und ggf. relativiert werden. Über dieses normative Korrektiv lassen sich die einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen begrenzen. Dabei sind von der Ausländerbehörde nicht nur die nach § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG schutzwürdigen Bleibeinteressen des Ausländers in den Blick zu nehmen, sondern bedarf es nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls einer umfassenden Abwägung der betroffenen Belange (BVerwG, Urteile vom 22.02.2017 - 1 C 27.16 -, juris Rn. 23, und - 1 C 3.16 -, juris Rn. 66). [...]

f) Ob eine Verkürzung oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots erfolgt oder beides abgelehnt wird, hängt vom Gewicht der beteiligten privaten und öffentlichen Belange, etwa auch dem Grad einer nach wie vor vom Ausländer ausgehenden Gefahr, ab. Der Ausländerbehörde ist grundsätzlich ein Ermessen eingeräumt, ob u. ggfs. welche Maßnahme sie bei geltend gemachten schutzwürdigen Belangen zugunsten des Ausländers trifft (Dollinger in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 11 Rn. 83; zur Ermessensverdichtung zu Gunsten des Ausländers oben c). Allerdings hat die Ausländerbehörde bei ihren Erwägungen die Gründe mit in den Blick zu nehmen, die ursprünglich für die Ausweisung und das hieran anknüpfende Einreise- und Aufenthaltsverbot maßgebend gewesen sind. Ist eine Ausweisung aufgrund begangener Straftaten allein auf spezialpräventive Gründe gestützt, kommt es auch im Rahmen des § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG auf die Frage der Gefahr der Wiederholung neuer Straftaten durch den Ausländer selbst an. Für neue, generalpräventive Erwägungen ist insoweit kein Raum. Dies folgt aus der Funktion des § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG als einer den Interessen des Ausländers dienenden Norm, die einen späteren Wechsel des Ausweisungszwecks zu seinem Nachteil ausschließt.

2. Unter Zugrundelegung dieser rechtlichen Maßstäbe hat das Verwaltungsgericht zunächst die Frage einer vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr geprüft und in nicht zu beanstandender Weise ausgeführt, dass vom Kläger weiterhin eine nicht unerhebliche Wiederholungsgefahr ausgehe. Die Kammer hat hierbei eingestellt, dass auch bei der Prüfung der Voraussetzungen für ein Entfallen oder eine Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG einem kriminalprognostischen Gutachten, welches zur Vorbereitung einer Entscheidung im Rahmen der Strafvollstreckung erstellt worden ist, eine tatsächliche Bedeutung für die ordnungsrechtliche Entscheidung zukommt. Beruht allerdings ein kriminalprognostisches Gutachten in wesentlichen Punkten auf unzutreffenden tatsächlichen Annahmen oder ist es in zentralen Punkten nicht schlüssig oder etwa auch aufgrund neuerer Erkenntnisse überholt, so hat es keine entscheidungserhebliche Bedeutung. Insoweit gilt nichts anderes als bei der Prognose der Wiederholungsgefahr im Rahmen der Ausweisung (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.12.2012 - 1 C 20.11 -, juris Rn. 22 f.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.04.2011 - 11 S 189/11 -, juris Rn. 64; Bauer in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 53 Rn. 52, 54 - jeweils zum Umgang mit kriminalprognostischen Äußerungen im Zusammenhang mit einer Entscheidung über die Aussetzung der Strafvollstreckung bei einer Ausweisung).

Soweit das Verwaltungsgericht dem im Auftrag der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Freiburg erstatteten kriminalprognostischen Gutachten der Psychologin B. vom 23.01.2018, wonach es "sehr unwahrscheinlich" sei (Gutachten S. 42 f.), dass der Kläger erneute Straftaten begehen werde, nicht gefolgt ist, weil das Gutachten in einigen Punkten zugunsten des Klägers unzutreffende Anknüpfungstatsachen zugrunde lege (im Einzelnen UA S. 10 bis 12, 2. Absatz), zeigen die Ausführungen im Zulassungsantrag nicht auf, dass dies ernstlich zweifelhaft ist; solches ist auch nicht ersichtlich. [...]