VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 28.12.2020 - A 4 K 10160/17 - asyl.net: M29366
https://www.asyl.net/rsdb/M29366
Leitsatz:

Keine Ablehnung des Asylantrags als "unzulässig", wenn einer Familie mit sieben Kindern bei Rückkehr nach Italien menschenunwürdige Bedingungen drohen:

"1. Zur Zulässigkeit von Asylanträgen, die eine syrische Familie mit sieben Kindern vor mehr als drei Jahren gestellt hat, nachdem sie in Italien bereits internationalen Schutz erhalten hatte.

2. Zu dem Umstand, dass das Bundesamt es unterlassen hat, für ein im Bundesgebiet nachgeborenes weiteres Kind rechtzeitig ein Aufnahmeersuchen an Italien zu richten, und zu den Auswirkungen auf die zuvor gestellten Asylanträge der weiteren Familienangehörigen.

3. Zu den Aufnahmebedingungen für Familien, welche nach Italien abgeschoben werden und die entweder in Italien internationalen Schutz bereits erhalten oder diesen bestandskräftig versagt bekommen hatten oder deren Asylverfahren in Italien noch nicht abgeschlossen ist.

4. Im Einzelfall kann ein Anspruch eines Asylantragstellers auf Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO bestehen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 13.10.2016 - A 11 S 1596/16 -, juris, Rn. 46 ff.); dafür maßgeblich sein kann auch eine unangemessen lange Dauer des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens (wie VG Freiburg, Urt. v. 14.12.2020 - A 4 K 8024/17 -).

5. Lässt sich nicht feststellen, dass eine Überstellung tatsächlich möglich wäre, ist eine auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gestützte Unzulässigkeitsentscheidung aufzuheben (wie VG Freiburg, Urt. v. 14.12.2020 - A 4 K 8024/17 -)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, Dublinverfahren, Asylverfahrensdauer, Verfahrensdauer, Selbsteintritt, Unzulässigkeit,
Normen: VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

24 a) Einer Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG steht aber entgegen, dass die ganze Familie bei einer Überstellung nach Italien aus heutiger Sicht (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG - insoweit kann sich, da die Dublin III-Verordnung für die Rückführung von anerkannten Schutzberechtigten nicht anwendbar ist, nicht die Frage stellen, ob die Verordnung in Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 den maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage auf den Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung bzw. den Zeitraum bestimmt, in dem eine Überstellung regelmäßig zulässig ist, vgl. dazu VG Freiburg, Urt. v. 14.12.2020 - A 4 K 8024/17 -, noch nicht veröffentlicht) mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht etwa als Asylantragsteller, sondern als anerkannte Schutzberechtigte aufgenommen würden mit der Folge, dass sie nicht wie Asylbewerber (für die Dauer eines Verfahrens und unmittelbar im Anschluss daran) behandelt und unterhalten würden, sondern vielmehr - wie schon bei ihrem ersten Aufenthalt in Italien im Anschluss an das dort durchlaufene Asylverfahren - weitgehend auf sich selbst gestellt wären, allenfalls mit der ungewissen Aussicht darauf, dass sie an dem Ort, dem sie zugewiesen würden, von kirchlichen Stellen, Nichtregierungsorganisationen oder sonst Privaten unterstützt würden. Dabei ist unwahrscheinlich, dass die Familie bei einer Rückführung nach Italien wie Asylantragsteller deshalb behandelt würde, weil ihr jüngstes Kind in Italien noch kein Asylverfahren durchlaufen hätte. Die Lebensbedingungen der Familie einschließlich des jüngsten Kindes der Familie, das aufgrund seines Alters zum Kreis der vulnerablen Personen gehört, insbesondere eine rasche Erlangung von Obdach, wären damit nach verbreiteter Auffassung, der sich die Kammer anschließt (zu den Einzelheiten vgl. unten), so ungewiss, dass eine Überstellung gegen Art. 4 EUGrCh bzw. Art. 3 EMRK verstieße, sofern nicht im Wege einer individuellen Zusicherung Italiens gesichert wäre, dass die Kläger einschließlich des jüngsten Kindes der Familie im raschen Anschluss an eine Überstellung Obdach und Grundversorgung erhielten. Eine solche individuelle Zusicherung Italiens hat die Beklagte aber nicht eingeholt. Hätten die Kläger damit in Italien Lebensumstände zu erwarten, die einer unmenschlichen oder erniedrigende Behandlung im Sinn von Art. 4 EUGrCH gleichkämen, können ihre Asylanträge nicht unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG sein (vgl., im Anschluss an die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 33 RL 2005/85/EU n.F. - Verfahrensrichtlinie - BVerwG, Urt. v. 17.06.2020 - 1 C 35.19 -, juris, Rn. 23 m.w.N.).

25 b) Offenbleiben kann danach, ob einer Ablehnung der Asylanträge als unzulässig auch Art. 2 des Europäischen Übereinkommens (Straßburger Übereinkommen) vom 16.10.1980 über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge entgegenstünde (vgl. dazu VG Karlsruhe, Urt. v. 14.09.2020 - A 9 K 3639/18 -, juris, Rn. 25 ff. m.w.N.), dies jedenfalls deshalb, weil Überwiegendes spricht, dass Italien sich weigern würde, die Familie nach so langer Zeit und nach der Geburt eines weiteren Kindes in Deutschland wieder aufzunehmen, zumal es für dessen Asylantrag jedenfalls nicht (mehr) zuständig ist, nachdem die Beklagte für jenes Kind innerhalb der Frist des Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO kein - erforderliches - Aufnahmeersuchen an Italien gerichtet hatte (vgl. Urteil der Kammer im Verfahren des jüngsten Kindes vom 28.12.2020 - A 4 K 3052/20 - m.w.N.). [...]

27 2. Als unzulässig hätte die Beklagte die Asylanträge der Kläger im Übrigen auch dann nicht ablehnen dürfen, falls die italienischen Asylbehörden über deren im Jahr 2016 dort gestellten Asylanträge doch noch nicht bestandskräftig entschieden hätten.

28 a) Einer Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG stünde bereits Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO entgegen, da bei einer Überstellung gemäß Art. 18 Abs. 1b Dublin III-VO zu befürchten wäre, dass den Klägern einschließlich ihres jüngsten Kindes in Italien für einen nicht unerheblichen Zeitraum Obdachlosigkeit drohte. [...]

32 bb) Aber auch wenn man auf den Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung der Kammer abstellte, spräche Überwiegendes dafür, dass eine solche Gefahr auch heute noch für die Kläger einschließlich des jüngsten Kindes der Familie bestünde, wenn sie in absehbarer Zeit nach Italien abgeschoben würden, und dass eine solche Gefahr sich angesichts der Vulnerabilität des jüngsten Kindes der Familie, der Klägerin im Verfahren A 4 K 3052/20, nur vermeiden ließe, wenn die italienischen Behörden individuell zusichern würden, dass im Rahmen ihrer Rücküberstellung Vorkehrungen zu ihrem Schutz getroffen sein würden, insbesondere hinsichtlich einer unverzüglichen und hinreichenden Unterbringung, aber auch zur Versorgung mit Lebensmitteln und ärztlicher Behandlung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.09.2014 - 2 BvR 1795/14 - juris Rn. 14; Beschl. v. 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 16 und Beschl. v. 07.10.2019 - 2 BvR 721/19 - juris Rn. 20 ff.; vgl. BVerwG der Schweiz, Urt. v. 17.12.2019 - E-962/2019; Nds. OVG, Beschl. v. 20.12.2019 - 10 LA 192/19 -, juris, Rn. 21; vgl. Bayer. VGH, Beschl. v. 19.10.2020 - 13a ZB 18.30891 -, juris, Rn. 4; etwa VG Freiburg, GB. v. 27.08.2020 - A 1 K 7629/17 -, juris, Rn. 33 m.w.N. sowie Urt. v. 11.02.2020 - A 5 K 8464/18 -, VG Karlsruhe, Urt. v. 14.09.2020 - A 9 K 3639/18 -, juris, Rn. 36).

33 Vulnerabel im Sinn dieser Rechtsprechung sind neben Familien mit Kleinstkindern, wie hier, auch minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Hochschwangere, erheblich kranke oder behinderte Menschen und sonstige vergleichbar gefährdete Personen (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.07.2019 - A 4 S 749/19 -, juris, Rn. 41; BVerfG, Beschl. v. 31.07.2018 - 2 BvR 714/18 - juris Rn. 18 f.).

34 Zwar hat die Beklagte bestritten, dass die aktuellen Aufnahmebedingungen für Asylantragsteller in Italien (auch heute noch) systemische Mängel aufweisen. Insoweit führt sie die Ergebnisse eines Berichts "zur Aufnahme Situation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien" vom 02.04.2020 an, den sie aus Anlass der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.10.2019 von dem Verbindungsbeamten des Bundesamts beim italienischen Innenministerium und von dem Austauschbeamten des Bundesministeriums des Innern, für Heimat und Bau beim italienischen Innenministerium hat fertigen lassen. Dieser Bericht erscheint aber nicht ohne Weiteres als geeignet, die Gesichtspunkte zu widerlegen, welche die Gerichte bislang bewogen haben, für vulnerable Dublin-Rückkehrer nach Italien eine Garantieerklärung der italienischen Behörden für notwendig zu halten. Die Schlussfolgerung dieses Berichts, es sei die Sorge unbegründet, dass Familien mit minderjährigen Kindern nach ihrer Dublin-Rückkehr nicht unmittelbar angemessen untergebracht würden, unter anderem weil strukturierte Abläufe und Strukturen zwischen relevanten Akteuren nach der Ankunft bis zu unter Unterbringung bestünden, wird im Bericht selbst relativiert durch die Feststellung, dass (immer noch) regionale Unterschiede und "Reduzierungen" durch das "Salvini-Dekret" vorhanden seien, die aber durch Reformen der neuen Regierung angepasst würden. Auch wird in dem Bericht über eine Vielzahl von formellen Beanstandungen anlässlich von Inspektionen der Aufnahmestrukturen berichtet, welche im Übrigen häufiger in den südlichen Regionen wie Sizilien und Sardinien aufgetreten seien. Auch die Formulierung, der Umstand, dass Familien mit minderjährigen Kindern während des Asylverfahrens nicht mehr Aufnahme in den so genannten SIPROIMI- Einrichtungen und zusätzliche Integrationsmaßnahmen erhalten könnten (was im Zuge der Corona-Pandemie nun nicht mehr gelten soll), bedeutet noch nicht, dass ihre Aufnahme nicht den Standards der EU-Aufnahmerichtlinie entspräche, legt allerdings nahe, dass jedenfalls nicht gewährleistet ist, dass vulnerable Personen entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit untergebracht werden. Dass die "Salvini-Dekrete" am 05.10.2020 teilweise aufgehoben worden sind, genügt für sich allein noch nicht, eine Änderung in den allgemeinen Aufnahmeverhältnissen für Asylantragsteller festzustellen, welche in einen anderen Mitgliedstaat weitergewandert sind und von diesem nach Italien zurücküberstellt werden.

35 b) Unabhängig hiervon hätten die Kläger jedenfalls einen Anspruch darauf, dass die Beklagte ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zu ihren Gunsten ausübte.

36 Dabei geht die Kammer von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg aus, in der, anders als in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urt. v. 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 38; vgl. zuvor auch BVerwG, Urt. v. 09.08.2016 - 1 C 6.16 -, Leitsatz 4 dazu, dass ein Asylantragsteller jedenfalls dann Anspruch auf Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG hat, wenn nicht positiv feststeht, dass der ersuchte Mitgliedstaat aufnahmebereit ist), bereits geklärt ist, dass eine auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gestützte Unzulässigkeitsentscheidung aufzuheben ist, wenn ein Anspruch auf einen Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 17 Abs. 1 GG besteht (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 13.10.2016 - A 11 S 1596/16 -, juris, Rn. 46 ff., für den Fall, dass, bezogen auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, innerhalb der nächsten sechs Monate bis zum Ablauf der Überstellungsfrist eine Überstellung nicht mehr durchgeführt werden kann oder absehbar nicht mehr durchgeführt werden wird).

37 Soweit der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hiervon abweichend entschieden hat (Urt. v. 29.07.2019 - A 4 S 749/19 -, juris, Rn. 39), die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 4 EUGrCh führe nicht zwingend unmittelbar zum Selbsteintritt, da ein Mitgliedstaat verpflichtet sei, die Zuständigkeitsprüfung fortzusetzen, trifft dies nur in den Fällen zu, in denen die Frist für ein Aufnahme- bzw. Wiederaufnahme - ersuchen an den weiteren Mitgliedstaat nicht schon abgelaufen ist, was aber regelmäßig der Fall sein dürfte (wenn das Bundesamt nicht von vornherein gleich mehrere mögliche Mitgliedstaaten zur Aufnahme bzw. Wiederaufnahme ersucht hat). Im Übrigen ist - was der Verwaltungsgerichtshof a.a.O selbst bemerkt - dieser Gedanke schon vom Europäischen Gerichtshof dahin eingeschränkt worden, dass für eine Weiterführung des Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nur ein angemessener Zeitraum zur Verfügung steht und danach ein Anspruch auf Selbsteintritt begründet ist.

38 Es wäre rechtswidrig, wenn die Beklagte einen Selbsteintritt gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO im Fall der Kläger versagte. Denn eine Überstellung der Kläger, bestehend aus den Eltern und acht Kindern, darunter einem Kleinkind, das noch kein Jahr alt ist, widerspricht dem Schutz von Familien, der in verschiedenen Erwägungsgründen und Regelungen der Dublin III-Verordnung seinen Niederschlag gefunden hat. Es kann nicht im Sinn der Verordnung sein, dass eine solche - öffentlicher Unterstützung in starkem Umfang bedürftige - Familie, die mit hoher Wahrscheinlichkeit, unabhängig vom Ausgang eines ersten Asylverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat, jedenfalls subsidiären Schutz beanspruchen kann, nach mehr als dreijährigem Aufenthalt in einem Mitgliedstaat, währenddessen insbesondere die Kinder sich in erheblicher Weise integriert haben dürften, darauf verwiesen wird, in den für ihr Asylverfahren zunächst zuständigen Mitgliedstaat zurückzukehren, wenn - wie hier - die Familie es nicht zu vertreten hat, dass ihre - was sich schon im Erfolg ihres Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz zeigt, Aussicht auf Erfolg bietende - Klage gegen den Überstellungsbescheid wegen der Überlastung des Gerichts, wegen der Schwierigkeit der sich stellenden Fragen und wegen einer fortwährenden Änderung der Verhältnisse und ihrer Beurteilung durch andere Gerichte und Stellen nicht früher entschieden werden konnte. Dem kann die Beklagte nicht entgegenhalten, es könne ihr nicht zur Last gelegt werden, dass das Klageverfahren mehrere Jahre gedauert habe. Denn die Dublin III-VO nimmt nur den ersuchenden Mitgliedstaat "als solchen" in den Blick, auf seine Binnenorganisation kommt es nicht an (vgl., zur innerhalb der Frist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO unterbliebenen Überstellung eines Asylantragstellers, welcher sich in ein "Kirchenasyl" begeben hatte, welches die Landesbehörden respektiert hatten, BVerwG, Beschl. v. 08.06.2020 - 1 B 19.20 -, juris, Rn. 7). Im Übrigen hat die Beklagte das Klageverfahren der Familie nur zögerlich begleitet, auf verschiedene Anfragen des Gerichts über längere Zeit nicht geantwortet und insbesondere nicht zeitnah aufgeklärt, ob die Familie in Italien tatsächlich bereits internationalen Schutz erhalten hatte. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Kläger mit ihrer Sekundärmigration die Dublin-Regeln umgangen haben; denn Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO lässt erkennen, dass der Verordnungsgeber Regelverstöße nur in begrenztem Umfang sanktionieren will. [...]