VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 14.09.2020 - 1 K 123/19 Me - asyl.net: M29396
https://www.asyl.net/rsdb/M29396
Leitsatz:

Familienasyl trotz Ruhen der elterlichen Sorge:

Die Mutter eines minderjährigen anerkannten Flüchtlings hat Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz, auch wenn vor ihrer Einreise das Ruhen der elterlichen Sorge wegen faktischer Unmöglichkeit, diese auszuüben, angeordnet wurde. Dies gilt auch dann, wenn der Beschluss nach der Einreise der Mutter nicht aufgehoben wird, sie aber mit ihrem Sohn zusammenlebt und sich im Alltag um ihn kümmert.

(Leitsätze der Redaktion, vgl. auch VG Freiburg, Urteil vom 16.04.2019 - A 5 K 2488/18 - asyl.net: M27318)

Schlagwörter: Familienschutz, Sorgerecht, Ruhen der elterlichen Sorge, Vormundschaft,
Normen: AsylG § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5, BGB § 1674 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Entgegen der Ansicht der Beklagten hat die Klägerin bis zum Erreichen der Volljährigkeit auch die Personensorge für den als Flüchtling anerkannten Sohn innegehabt. Zwar ruht nach § 1674 Abs. 1 BGB die elterliche Sorge eines Elternteils, wenn das Familiengericht feststellt, dass er auf längere Zeit die elterliche Sorge tatsächlich nicht ausüben kann, allerdings führen das Ruhen der elterlichen Sorge für einen minderjährigen Flüchtling nach § 1674 Abs. 1 BGB wegen des Unvermögens der Eltern, diese wegen der fluchtbedingten Trennung tatsächlich auszuüben, und die darauf beruhende Bestellung eines Amtsvormunds für den Minderjährigen durch das Familiengericht nicht zum Verlust der elterlichen Sorge. Die Eltern bleiben in diesem Fall weiterhin Inhaber der elterlichen Sorge im Sinne von § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG; sie sind lediglich rechtlich an der Ausübung gehindert (vgl. auch VG Freiburg/Breisgau, U. v. 16.04.2019 - A 5 K 2488/18 -, juris unter Bezugnahme auf Staudinger, BGB, 2016, § 1675 Rdnr. 2; Erman, BGB, 15. Auflage 2017, § 1675 Rdnr. 1, m.w.N.).

Im Fall des damals minderjährigen Sohnes der Klägerin hat das Amtsgericht Erfurt dazu in seinem Beschluss vom 12.11.2015 das Ruhen der elterlichen Sorge der allein sorgeberechtigten Kindesmutter festgestellt und einen Vormund bestellt. In den Gründen hat es u.a. dazu ausgeführt, dass der am ... 2001 in Aleppo/Syrien geborene Jugendliche am 03.10.2015 ohne Sorgeberechtigten nach Deutschland eingereist sei, zuletzt in Afrin/Syrien mit der Mutter und den Geschwistern gelebt habe und der Vater bereits verstorben gewesen sei. Das zuständige Jugendamt Erfurt habe den Jugendlichen in Obhut genommen und es bestehe regelmäßiger telefonischer Kontakt des Jugendlichen zur Mutter. Gemäß § 1674 BGB sei festzustellen gewesen, dass die elterliche Sorge eines Elternteils ruhe, sofern ein Elternteil auf längere Zeit die elterliche Sorge tatsächlich nicht ausüben könne. Es sei anerkannt, dass ein Auslandsaufenthalt mit schwierigen Verkehrsbedingungen und/oder politischen Verhältnissen ein tatsächliches Ausübungshindernis darstellt. Vorliegend komme der Jugendliche aus Syrien. Zwar bestehe Kontakt zur Kindesmutter, die Mutter spreche aber nur kurdisch. Darüber hinaus halte sie sich im Kriegsgebiet in Syrien auf. Die elterliche Sorge könne daher durch die Kindesmutter zurzeit nicht ausgeübt werden.

Somit ist bei der Klägerin gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG maßgeblich, dass sie weiter Inhaberin des elterlichen Sorgerechts gewesen ist, dieses aber wegen des tatsächlichen Ausübungshindernisses nur geruht hat. Deshalb hat sie einen von ihrem damals minderjährigen Sohn, abgeleiteten Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 26 Abs. 3 und Abs. 5 AsylG. [...]