VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 09.03.2020 - 1 A 49/17 HAL - asyl.net: M29403
https://www.asyl.net/rsdb/M29403
Leitsatz:

§ 25 b AufenthG trotz jahrelanger "Identitätstäuschung".

1. Der Antragsteller lebt bereits mehr als doppelt so lange in Deutschland wie für die Inanspruchnahme des Bleiberechts notwendig.

2. Er hat seine richtige Identität aus eigenem Antrieb, ohne dass eine Aufdeckung unmittelbar drohte, offengelegt.

3. Die Tatsache, dass er nicht ausgereist ist, ist nicht allein auf die Identitätstäuschung zurückzuführen, sondern auch auf die mangelnde Rückübernahmebereitschaft seines Herkunftslandes, Benin.

4. Er spricht ausreichend Deutsch und bestreitet seinen Lebensunterhalt ausschließlich aus eigener Erwerbstätigkeit.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Identitätstäuschung, Bleiberecht, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Integration,
Normen: AufenthG § 25b
Auszüge:

[...]

Der Kläger erfüllt die Anforderungen des § 25b Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AufenthG an dem Voraufenthalt. Er hält sich seit Mai 2004 und damit seit annähernd 16 Jahren ununterbrochen geduldet oder gestattet im Bundesgebiet auf. Dem steht nicht entgegen, dass der Aufenthalt des Klägers im September und Oktober 2019 eine Lücke von etwa 30 Tagen aufweist, in denen er weder geduldet noch gestattet noch sein Aufenthalt von einer Aufenthaltserlaubnis gedeckt gewesen ist. Minimale Unterbrechungen sind wegen ihres Bagatellcharakters als unschädlich anzusehen; sie begründen keine anspruchsschädliche Unterbrechung, ohne dass es einer behördlichen Ermessensentscheidung analog § 85 AufenthG hierzu bedarf (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2019, a.a.O., Rn. 48 ff.). [...]

Zwingende Versagungsgründe im Sinne vom § 25b Abs. 2 AufenthG stehen der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift ist die Aufenthaltserlaubnis zu versagen, wenn der Ausländer die Aufenthaltsbeendigung durch vorsätzlich falsche Angaben, durch Täuschung über die Identität oder Staatsangehörigkeit oder Nichterfüllung zumutbarer Anforderung an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen verhindert oder verzögert (Nr. 1) oder wenn ein Ausweisungsinteresse Im Sinne vom § 54 Abs. 1 oder Abs. 2 Nr. 1 und 2 besteht (Nr. 2). Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben.

§ 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG setzt ein aktuelles Fehlverhalten des Ausländers voraus. Dies folgt schon aus der Präsensform des Wortlautes der Norm und entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 44). Zwar soll mit der Regelung keine Amnestie für jedes Fehlverhalten in den vorangegangenen Verfahren verbunden sein. Dies ändert aber nichts an der vorstehenden Auslegung des zwingenden Versagungsgrundes, sondern verweist der Sache nach darauf, dass Mitwirkungspflichtverletzungen oder Täuschungshandlungen, die nicht mehr fortwirken, unter Umständen ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfüllen (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2019, a.a.O. Rn. 56).

Nach diesen Grundsätzen liegt kein Versagungsgrund im Sinne vom § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG vor, da die letzte Täuschungshandlung über die Identität Inzwischen mehrere Jahre zurückliegt. [...]

Nach der Systematik des § 25 b Abs. 1 Satz 1 besteht in der Regel ein Anspruch auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis. Diese "soll" erteilt werden, wenn - wie beim Kläger der Fall - von einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 25 b Abs. 1 Satz 2 Nummern 1 bis 5 auszugehen ist. Nur wenn ein atypischer Fall vorliegt, kann trotz Vorliegens der Voraussetzungen ausnahmsweise von der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abgesehen werden (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, a.a.O., § 25 b AufenthG Rn. 4; BT-Drs. 18/4097 S. 42).

Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung können in der Vergangenheit liegende Täuschungshandlungen des Ausländers dazu führen, dass solch ein atypischer Ausnahmefall vorliegt, in dem von der Titelerteilung nach Satz 1 des § 25b Abs. 1 AufenthG abgesehen werden kann (vgl. OVG LSA, Beschluss vom 23. September 2015 - 2 M 121/15 -, juris Rn. 10; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21. Juli 2015 -18 B 486/14 - , juris Rn. 8 ff.). Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Regelung des § 25b AufenthG "keine Amnestie für jegliches Fehlverhalten in den vorangegangenen Verfahren" darstellt und in der Vergangenheit liegende falsche Angaben nur bei "tätiger Reue" außer Betracht bleiben sollen (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 44 und 53 f.). Von dem Versagungstatbestand des § 25b Abs. 2 AufenthG nicht erfasste (zurückliegende) Täuschungen und Straftaten stehen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis dann entgegen, wenn sie nach ihrer Art oder Dauer so bedeutsam sind, dass sie das Gewicht der nach § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG relevanten Integrationsleistungen für die nach Abs. 1 Satz 1 maßgebliche Annahme der nachhaltigen Integration beseitigen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 21. Juli 2015 - 18 B 486/14 -, juris Rn. 15).

Es müssen somit besondere Umstände vorliegen, um die Erteilung trotz vorliegender nachhaltiger Integration ausnahmsweise zu versagen (vgl. zur Bedeutung einer Soll-Regelung: BVerwG, U.v. 17.12.2015 - 1 C 31.14 - juris Rn. 21 f.). Die Frage, ob ein atypi scher Ausnahmefall vorliegt, bei dem der Verwaltung ein Rechtsfolgenermessen eröffnet ist, unterliegt nach ständiger Rechtsprechung in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung und ist in diesem Sinne im ersten Schritt eine rechtlich gebundene Entscheidung (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 21).

Solche besonderen Umstände liegen im Fall des Klägers nicht vor. Dabei lässt das Gericht nicht unberücksichtigt, dass der Kläger erst im Jahr 2016 - und somit zwölf Jahren nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland - seine richtigen Personalien durch Vorlage seiner Geburtsurkunde offenbart hat. Zuvor hatte er ein Asylverfahren unter falschen Personalien, jedoch ebenfalls als beninischer Staatsangehöriger, durchgeführt und im Jahr 2006 bei der Beantragung der Duldung diese falschen Personalien beibehalten. Diese Täuschungshandlungen führen jedoch nach Auffassung des Gerichts nicht zu einer Entkräftung der Integrationsleistungen im Sinne von § 25b Abs. 1 AufenthG. Zwar kann die Dauer des "nicht legalen Voraufenthalts" ein erhebliches Indiz für das Vorliegen eines Ausnahmefalls sein, zumal wenn er erst vor relativ kurzer Zeit beendet wurde. Jedoch war die Täuschungshandlung nicht allein kausal für die lange Aufenthaltsdauer. In diesem Zusammenhang muss zum einen berücksichtigt werden, dass der Staat Benin grundsätzlich kein großes Interesse an der Rückführung/-nahme eigener Staatsangehöriger hat und deshalb Personalersatzpapiere oder den Nationalpass nur sehr zögerlich ausstellt. Zum anderen hat der Beklagte den Kläger innerhalb von zehn lediglich zweimal zu Mitwirkungshandlungen aufgefordert und ansonsten den Kläger anstandslos weitere Duldungen ausgestellt.

Auch eine Verletzung der geforderten Mitwirkungspflichten kann dem Kläger nicht in einem solchen Umfang  vorgeworfen werden, der das Gewicht der genannten Integrationsleistungen entkräften könnte. [...] Zudem hat er seine wahre Identität freiwillig im Jahr 2016 bzw. 2017 offenbart, so dass er mit diesem Verhalten - aus freien Stücken und ohne dass eine Aufdeckung erkennbar gedroht hat - tätige Reue bewiesen hat. Auch dieser Umstand hat nach dem Willen des Gesetzgebers erhebliches Gewicht (vgl. BTDrs. 18/4097, S. 44 und BR-Drs. 505/12, S.7; vgl. auch VG Saarland, im Beschluss vom 18. August 2016 - 6 L 966/16 -, juris Rn. 16 ff.). [...]