VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 10.03.2021 - 35 L 55/21 A - asyl.net: M29458
https://www.asyl.net/rsdb/M29458
Leitsatz:

Info-Request über den Stand des Verfahrens setzt keine Zustimmung der Asylsuchenden voraus:

"1. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge kann verpflichtet sein, Ermittlungen zum Stand des Verfahrens in einem anderen Mitgliedstaat anzustellen und hierfür sogenannte Info-Requests zu stellen, um aufzuklären, ob ein erfolgloser Abschluss eines Asylverfahren i.S.d. § 71a Abs. 1 AsylG vorliegt.

2. Ein solcher Info-Request zum Stand des Verfahrens in einem anderen Mitgliedstaat unterliegt nach Art. 34 Abs. 2 lit. g Dublin III-VO nicht der Zustimmungspflicht des/der Antragsteller:in.

3. Die fehlende Zustimmung des/der Asylantragsteller:in zum Datenaustausch hinsichtlich der Gründe des Asylantrags und der Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat nach Art. 34 Abs. 3 Dublin III-VO entbindet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dabei nicht von seiner etwaigen Pflicht, ein Info-Request zum Stand des Verfahrens im Mitgliedstaat einzuholen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Unzulässigkeit, Zulässigkeit, Info-Request, Zweitantrag, Schweden, einstweilige Anordnung, Sachaufklärung, Sachaufklärungspflicht,
Normen: AsylG § 71a, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, VO 604/2013 Art. 34 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 34 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

10 [...] Das Bundesamt durfte in dem angegriffenen Bescheid nach Aktenlage nicht davon ausgehen, dass es sich bei dem Asylantrag der Antragstellerin um einen Zweitantrag handelt. Diese Annahme war Grundlage für die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gem. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG und damit auch für die sofortige Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung. [...]

12 Die Behandlung eines Asylantrags als Zweitantrag setzt eine gesicherte Erkenntnis über den vorangegangenen negativen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat durch bestandskräftige Sachentscheidung oder endgültige Einstellung voraus. Es obliegt dabei dem Bundesamt, den negativen Abschluss des Erstverfahrens im Rahmen der Amtsermittlungspflicht zu belegen; bloße Vermutungen oder Mutmaßungen genügen nicht (vgl. VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 19. August 2020 - VG 9 K 752.17 A -, Beschluss vom 24. Mai 2018 - VG 32 L 74.18 A -; VG Augsburg, Beschluss vom 4. Januar 2018 - Au 7 S 17.35239 -, juris Rn. 41; Sächs. OVG, Beschluss vom 27. April 2020 - 2 A 647/19.A -, juris Rn. 4). Welche Anforderungen im Einzelnen an die Nachforschungspflicht des Bundesamtes (§ 24 Abs. 1 Satz 1 AsylG) zu stellen sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Erforderlich sind grundsätzlich tragfähige Informationen zum Verfahrensstand und zum Tenor einer gegebenenfalls getroffenen Entscheidung in dem Mitgliedstaat. Die hierfür erforderlichen Informationen kann das Bundesamt über sogenannte Info-Requests auf Grundlage des Art. 34 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 lit. g der Verordnung (EU) 604/2013 - Dublin III-VO - von dem anderen Mitgliedstaat erlangen (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 A 7299/16 -, juris Rn. 26; Sächs. OVG, a.a.O.). Kann das Bundesamt trotz aller möglichen und zumutbaren Ermittlungen keine gesicherte Erkenntnis über den Ausgang des Erstverfahrens erlangen, muss es dem/r jeweiligen Antragsteller: in entsprechend den europarechtlichen Vorgaben die Möglichkeit einräumen, das Verfahren fortzuführen, ohne dass es als Folge- bzw. Zweitantragsverfahren behandelt wird (VG Augsburg, Beschluss vom 1. März 2017, a.a.O., juris Rn. 31 m.w.N.).

13 Ob das Bundesamt den Asylantrag der Antragstellerin zu Recht als Zweitantrag nach § 71a AsylG behandelt hat, kann derzeit nicht abschließend beurteilt werden. Der Bescheid des Bundesamtes vom 4. Februar 2021 stellt darauf ab, dass die schwedische Dublin-Einheit in ihrem Schreiben vom 31. Oktober 2017 ihre Zuständigkeit für die Wiederaufnahme der Antragstellerin gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-VO erklärt habe (vgl. Bl. 115 des Verwaltungsvorgangs der Beklagten - VV -). Daraus lässt sich indes lediglich schließen, dass der Asylantrag der Antragstellerin in Schweden abgelehnt worden ist, nicht aber, ob diese Ablehnung tatsächlich auch unanfechtbar geworden ist. Zwar gab die Antragstellerin selbst im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt zur Zulässigkeit ihres Antrags am 13. Oktober 2017 (Bl. 61 VV) an, dass ihre Klage gegen die Ablehnung in Schweden abgewiesen worden sei und dass sie nunmehr habe abgeschoben werden sollen, was dafür spricht, dass die ablehnende Entscheidung unanfechtbar geworden war. Indes sind diese Angaben der zumindest in der Vergangenheit an erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen leidenden Antragstellerin, die auch im Rahmen ihrer Anhörungen mehrere Erinnerungslücken offenbarte (vgl. bspw. Bl. 328 f. VV), allein nicht geeignet, um als ausreichende Tatsachengrundlage für eine Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG herangezogen zu werden. Denn Antragsteller:innen können oftmals keine verlässlichen Angaben zu dem Verfahrensablauf im anderen Mitgliedstaat machen (vgl. BayVGH, Urteil vom 3. Dezember 2015 - 13a B 15.50069, 13a B 15.50070, 13a B 15.50071 -, juris Rn. 22). Möglich erscheint, dass das Verfahren in Schweden noch fortgeführt oder wiederaufgenommen werden könnte. Ob und ggf. wann Bestandskraft eingetreten ist, vermag das Gericht nach Aktenlage nicht sicher zu beurteilen.

14 In dieser unsicheren Erkenntnislage wäre das Bundesamt verpflichtet gewesen, weitere Ermittlungen anzustellen und ein Info-Request an Schweden zu stellen. Dies intendierte das Bundesamt ausweislich seines Aktenvermerks vom 20. Oktober 2020 auch (Bl. 354 VV), gab seine Bemühungen jedoch auf, nachdem die Antragstellerin der Aufforderung vom 10. November 2020, eine diesbezügliche Einwilligungserklärung zu unterschreiben, nicht nachgekommen war (vgl. Bl. 355 ff. VV). Diese angeforderte Einwilligung bezog sich entsprechend der Normierung in Art. 34 Abs. 3 Dublin III-VO indes lediglich auf den Datenaustausch zu den Gründen, die dem Asylantrag in Schweden zugrunde lagen, sowie zu den Gründen für die bezüglich des Asylantrags getroffene Entscheidung. Keine Zustimmung zum Datenaustausch ist jedoch nach Art. 34 Abs. lit. g Dublin III-VO für ein Info-Request hinsichtlich des Standes des Verfahrens im Mitgliedstaat erforderlich, wozu auch die hier relevante Frage zählt, ob das Verfahren endgültig abgeschlossen ist. Das Bundesamt war daher nicht rechtlich gehindert, dieses Info-Request an Schweden zu stellen (vgl. VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 9. April 2020 – 10 K 9560/18.A -, juris Rn. 46 f.), und hätte dies im Rahmen seiner Aufklärungspflicht tun müssen. Dagegen kann auch nicht eingewandt werden, dass für eine Entscheidung über einen Zweitantrag i.S.d. § 71a AsylG immer sowohl die Information über den endgültigen Abschluss des Verfahrens (nicht zustimmungspflichtig nach Art. 34 Abs. 2 lit. g Dublin III-VO) als auch die Kenntnis der Gründe der Entscheidung (zustimmungspflichtig nach Art. 34 Abs. 3 Dublin III-VO) erforderlich seien, weswegen bei fehlender Mitwirkung der Antragstellerin dies als einheitliche Obliegenheitsverletzung gesehen werden könne, die ihrer Sphäre zuzuordnen sei und zu ihren Lasten gehe. Denn vorliegend hat das Bundesamt in seinem Bescheid vom 4. Februar 2021 ausgeführt, dass die Antragstellerin bereits keinen relevanten Wiederaufgreifensgrund nach § 51 Abs. 1 VwVfG vorgetragen habe, sodass die Kenntnis der Gründe der ursprünglichen Entscheidung in Schweden entbehrlich sei. Dies zeigt, dass in gewissen Konstellationen – wie hier – die Information über den endgültigen Abschluss des Verfahrens ausreichend sein kann, um über einen Zweitantrag entscheiden zu können (vgl. auch VG München, Beschluss vom 26. September 2017 - M 21 S 17.47365 -, juris Rn. 16; VG Regensburg, Beschluss vom 9. Oktober 2017 - RN 5 S 17.34611 -, juris Rn. 15 ff.; VG Sigmaringen, Urteil vom 15. Februar 2021 - A 13 K 1353/18 -, juris Rn. 39). [...]