VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 29.01.2021 - 37 K 13/20 A - asyl.net: M29483
https://www.asyl.net/rsdb/M29483
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Personen, die in der Türkei bei Gülen-nahen Institutionen beschäftigt waren:

1. Schutzsuchenden, die in einem Gülen-nahen Verlag beschäftigt waren und denen aufgrund der präsidialen Notverordnung nach dem Militärputsch 2016 gekündigt wurde, droht in der Türkei staatliche Verfolgung.

2. Türkische Behörden und Gerichte ordnen Personen nicht nur dann als terroristisch ein, wenn sie tatsächlich aktive Mitglieder der Gülen-Bewegung sind, sondern auch dann, wenn sie persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind.

3. Weitere Indizien für die Einleitung strafrechtlicher Verfolgung in der Türkei sind das Nutzen der verschlüsselten Kommunkations-App "ByLock", eine Geldeinlage bei der Asya-Bank nach dem 25.12.2013, ein Abonnement bei der Nachrichtenagentur "Cihan" oder der Zeitung "Zaman", Spenden an den Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen, Anmeldung der Kinder in Gülen zugeordneten Schule, Kontakte zu oder Anstellung bei Gülen zugeordneten Gruppen, Organisationen oder Firmen sowie die Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, politische Verfolgung, Gülen, Berufsgruppe, Gülen-Bewegung, Vorverfolgung, legale Ausreise, Asya-Bank, ByLock, Cihan, Zaman, Schulen, Lehrkräfte, Versammlungen,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[..]

34 Gemessen an diesen Grundsätzen steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Kläger vorverfolgt aus ihrer Heimat geflohen sind und keine stichhaltigen Gründe dafür sprechen, dass sie nicht erneut verfolgt werden würden.

35 Die Kläger sind in der Türkei politisch verfolgt worden und würden bei einer Rückkehr auch weiterhin verfolgt. Die Kläger zu 1. und 2. waren bis zum 12. August 2016 bei dem Verlag Anafen (Abkürzung für Anadolu Fen Egitim Isl. Ticaret As. – Anatolische Bildungseinrichtung für naturwissenschaftliche Bildung HandelsAG) in Istanbul beschäftigt und sind an diesem Tag aufgrund einer präsidialen Notverordnung gekündigt worden. [...]

36 Nachdem am 15. Juli 2016 angeblich von Gülen-Anhängern im Militär ein Putschversuch gegen die türkische Regierung unter Präsident Erdogan unternommen worden war, wurde in der Folge der Staatsapparat "gesäubert" und Gülen-Anhänger in großer Zahl verfolgt. Hierzu gehörte in großem Maßstab die Entlassung Staatsbediensteter in der Justiz, im Schulwesen, in den Sicherheitsbehörden und im Militär, aber auch die Schließung zahlreicher privater Einrichtungen der Gülen-Bewegung oder Einrichtungen, die ihr nahestanden. So sind aufgrund der Notverordnung mit Gesetzesrang Nr. 667 vom 22. Juli 2016 in großem Umfang private Gesundheitseinrichtungen und –organisationen, Erziehungseinrichtungen und Wohnheime geschlossen worden. Bis zum Oktober 2017 waren es 1284 Privatschulen, 15 Universitäten, 800 Wohnheime, 54 private Hospitäler, 195 Medienfirmen, 19 Gewerkschaften 560 Stiftungen und 1125 Vereinigungen (IRB - Immigration and Refugee Board of Canada vom 6. Januar 2020, Turkey: The Hizmet movement, S. 4). Die Verfolgung betraf imd betrifft nicht nur die Einrichtung selbst, sondern knüpft auch an die vermutete politische und weltanschauliche Einstellung der Bediensteten an. Bis heute sind 512.000 Personen wegen ihrer Verbindungen zur Gülen-Bewegung verhaftet worden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – BfA -, Länderinformationsblatt vom 29. November 2019 – S. 12). 31.000 Personen sind noch in Haft und über 19.000 Personen wurden wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verurteilt. Gegen weitere 22.000 Menschen sind Haftbefehle ausgestellt worden. Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger dauert  an (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 14. Juni 2019; BfA a.a.O.). So wurden am 5. November 2019 in Ankara 106 vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung verhaftet, acht von 43 Angeklagten, meist Mitglieder der Luftwaffenschule, als vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung wegen Unterstützung des Putschversuchs im Juli 2016 zu schweren lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Entlassungen von Gülen-Unterstützerinnen aus dem öffentlichen Dienst haben auch Angaben des Auswärtigen Amtes auch in den Jahren 2019 und 2020 angedauert (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 24. August 2020, S. 9; VG Berlin, Urteil vom 11. Juli 2019 – VG 37 K 180.18 A – S. 9). Die Behörden haben hierfür Listen mit den Namen entlassener Gülen-Anhängern veröffentlicht und sie in das Registrierungssystem der staatlichen Sozialversicherung aufgenommen, wodurch ihre Chancen, anderweitig Arbeit zu finden, empfindlich geschmälert werden (Accord, Türkei: COI-Compilation, 12/2020, S. 221).

37 Die drohende Gefahr politischer Verfolgung hat sich daher nicht nur einmalig in der Entlassung beider Kläger realisiert, sondern droht auch weiterhin. Der Umstand, dass der Kläger zu 1. ab August 2017 erneut für ein Jahr in einer privaten Bildungseinrichtung als Lehrer beschäftigt worden ist, spricht nicht dagegen. Vielmehr schwebte er in diesem Jahr seiner letzten Beschäftigung in der Türkei durchgängig in der Gefahr, aufgrund seiner nachweislichen Tätigkeiten für Einrichtungen der Gülen-Bewegung erneut entlassen und/oder strafrechtlich verfolgt zu werden. Gleiches gilt für die Klägerin zu 2., die es schwer hatte, überhaupt eine Anstellung zu finden und diese auf Dauer halten zu können. Die drohende Verfolgung erstreckte sich auch in ihrem Fall nicht allein auf die reduzierten Arbeitsmöglichkeiten, sondern gleichermaßen auf Möglichkeit, infolge einer anonymen Anzeige, Opfer politisch motivierter Strafverfolgung zu werden(BfA, a.a.O. S. 12).

38 Wie das Gericht bereits entschieden hat, gibt es eine Reihe von Indizien, die einen Anhalt für eine wahrscheinliche Verfolgung geben. Türkische Behörden (bzw. Gerichte) ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind, sondern auch dann, wenn diese z. B. lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind. In der Regel reicht schon das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher "Gülenist" einzuleiten:

39 - Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App ByLock;

40 - Geldeinlage bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013;

41 - Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman;

42 - Spenden an den Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen;

43 - Besuch Gülen zugeordneter Schulen durch Kinder;

44 - Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen (inkl. abhängige Beschäftigung);

45 - Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung.

46 Eine Verurteilung setzt in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24. Juni 2019, S. 5 und 9 f., vgl. auch Human Rights Watch, Lawyers on trial: Abusive Prosecution an Erosion of Fair Trial Rights in Turkey, 2019 – Human Rights Watch, Lawyers on Trial -, S. 13). Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 entschied das Gericht jedoch, das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden. Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, denen vorgeworfen wurde, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein. Das Oberste Berufungsgericht entschied, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fethullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten. Zusätzlich zur Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung können Gülen-Anhänger noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (BfA, a.a.O., S. 14). Von den mit Stand Oktober 2018 verurteilten 34.926 Gülen-Anhängern wurden 12.617 zu Gefängnisstrafen verurteilt, während der Rest gegen Kaution frei kam (Länderinformationsblatt, S. 15). [...]