Leistungsrechtliche Einstufung alleinstehender Bewohner*innen von Gemeinschaftsunterkünften in Bedarfsstufe 2 vermutlich verfassungswidrig:
Die Einstufung alleinstehender Leistungsberechtigter, die eine Gemeinschaftsunterkunft bewohnen, in die Regelbedarfsstufe 2 ist nach summarischer Prüfung verfassungswidrig, denn der verringerte Bedarf kann vom Gesetzgeber nicht in einem transparenten Verfahren belegt werden.
(Leitsätze der Redaktion)
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Die Anwendung der Bedarfsstufe 2 allein wegen gemeinschaftlicher Unterbringung wird in Rechtsprechung und Literatur zu Recht kritisiert. Eine pauschale (prozentuale) Ableitung der Bedarfe zur Sicherung des Lebensunterhalts - etwa wie bei Partnern oder Kindern bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres - setzt bislang eine familiäre Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft als Anknüpfungspunkt für wirtschaftliche Rechtsfolgen voraus (vgl. ausführlich Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 3a AsylbLG, Rn. 41 ff.; Siefert/Siefert, AsylbLG, 2. Aufl., § 3a Rn. 14, 16; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 09. Juli 2020 - L 8 AY 52/20 B ER -, Rn. 29 f., juris; Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 10. Juni 2020 - L 9 AY 22/19 B ER -, Rn. 17 f., juris; aber auch Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 23. März 2020 - L 8 AY 4/20 B ER -, Rn. 38, juris).
Es wird zudem berichtet, dass die Bemessung der Geldbeträge für Leistungsberechtigte in Sammelunterkünften nach der Bedarfsstufe 2 im Gesetzgebungsverfahren u.a. unter dem Stichwort "Zwangsverpartnerung" ·auf massive Kritik gestoßen sei. Durch keine Stellungnahme werde bestätigt, dass der Gesetzgeber insoweit die tatsächlichen Verhältnisse zutreffend beurteilt bzw. seine wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs in Sammelunterkünften an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausgerichtet habe (vgl. Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 3a AsylbLG, Rn. 42).
Falls aber der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, muss er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichten (vgl. BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, juris, Rn. 67). Das muss folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden können (vgl. BVerfG a.a.O., Rn. 69). Bei der Ausgestaltung der Leistungen zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums ist er gehalten, die entsprechenden Bedarfe der Hilfebedürftigen zeit- und realitätsgerecht zu erfassen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 2016 - 1 BvR 371/11 -, juris, Rn. 38).
Die Kombination aus der dargestellten Kritik am Gesetzgeber und der hier herangezogenen Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts lässt bereits nach der gebotenen summarischen Prüfung den rechtlichen Schluss als wahrscheinlich erscheinen, dass § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b und Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG nicht mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar ist, weil der Gesetzgeber bei der Bemessung der Geldbeträge für Leistungsberechtigte, die in Sammelunterkünften untergebracht sind, den tatsächlichen Bedarf gerade dieser Gruppe nicht anhand eines inhaltlich transparenten Verfahren belegen kann.
Verminderte Bedarfssätze der Bedarfsstufe 2 sind allenfalls dort denkbar, wo [sich] eine gemeinschaftliche Haushaltsführung mehrerer Leistungsberechtigter in Sammelunterkünften stattfindet. Allein die Vielfalt denkbarer Möglichkeiten personeller Konstellationen, die sich in einer Sammelunterkunft ergeben können, steht der generellen Annahme des ·Gesetzgebers, es würden sich Menschen dort zusammenfinden, die gezwungen seien, gemeinsam zu wirtschaften und dies auch täten, entgegen. In der Rechtsprechung (vgl. Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern a.a.O., Rn. 19) wird eine verfassungskonforme Auslegung des § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylbLG und § 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG für möglich gehalten. Als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal könne man die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten zur Voraussetzung machen. Die Bedarfsstufe 2 sei einschlägig, wenn Leistungsberechtigte tatsächlich mit anderen Personen in der Gemeinschaftsunterkunft zusammen wirtschaften würden, in Gestalt gemeinsamer Einkäufe und Essenszubereitung, wodurch Synergie-Effekte durch geringe Kosten beim Einkauf der Lebensmittel etc. anfielen. Hierfür liege allerdings nach den allgemeinen Beweisregeln die objektive Darlegungs- und Beweislast beim Leistungsträger. [...]