LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Beschluss vom 13.04.2021 - L 4 AY 3/21 B ER - asyl.net: M29534
https://www.asyl.net/rsdb/M29534
Leitsatz:

Keine niedrigere Regelbearfsstufe bei alleinstehenden Leistungsberechtigten in einer Gemeinschaftsunterkunft:

1. Bei wortlautgetreuer Auslegung bestehen Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit von den in § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchst b und § 3a Abs. 2 Nr. 2 Buchst b AsylbLG geregelten Bedarfsstufen für erwachsene Leistungsberechtigte ohne Partner, die in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftseinkünften oder vergleichbaren Unterkünften untergebracht sind.

2. Eine verfassungskonforme Auslegung der Norm gebietet, dass als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten vorausgesetzt wird, wofür die objektive Beweislast (und im Eilverfahren die Darlegungslast) beim Leistungsträger liegt.

3. Bei Personen, die dem Anwendungsbereich der Aufnahmerichtlinie unterfallen, gebietet zudem der Anwendungsvorrang des Unionsrecht die Gewährung der vollen Regelbedarfsstufe, da die Absenkung nicht mit Art. 17 der Aufnahmerichtlinie RL 2013/33/EU zu vereinbaren ist.

(Leitsätze der Redaktion; sich anschließend an LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 11.05.2020 - L 9 AY 22/19 B ER - asyl.net: M28511)

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Bedarfsstufe, Bedarfsgemeinschaft, Sozialrecht, alleinstehend, Gemeinschaftsunterkunft, Sozialstaatsprinzip, Existenzminimum, Gleichheitsgrundsatz, allgemeiner Gleichheitssatz, Bedarf, Regelleistung, Grundleistungen, Analogleistungen, Aufnahmeeinrichtung, Regelbedarf, Gemeinschaftsunterbringung, gemeinsames Wirtschaften, soziokulturelles Existenzminimum, Bargeldbedarf, vorläufiger Rechtsschutz, Schicksalsgemeinschaft, Sammelunterkunft, Verfassungsmäßigkeit, Einspareffekt, Paarhaushalt, verfassungskonforme Auslegung, Auslegung, Leistungskürzung, Aufnahmerichtlinie, Anwendungsvorrang, Zwangsverpartnerung,
Normen: AsylbLG § 3a Abs. 1 Nr. 2b, AsylbLG § 3a Abs. 2 Nr. 2b, GG Art. 1, GG Art. 20 Abs. 1, RL 2013/33/EU Art. 17 Abs., GG Art. 3 Abs. 1,
Auszüge:

 [...]

a) Gemessen an diesem Maßstab hat der Antragsteller für den Zeitraum vom 1. Oktober 2020 bis 11. November 2020 die Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs aus §§ 3, 3a AsylbLG und für den nachfolgenden Zeitraum ab 12. November 2020 aus § 2 AsylbLG auf Gewährung der Leistungen glaubhaft gemacht, die alleinstehenden Erwachsenen ohne die Differenzierung nach Wohnung oder Gemeinschaftsunterkunft zustehen. Eine verfassungskonforme Auslegung der §§ 3, 3a AsylbLG bzw. § 2 AsylbLG ist geboten (2.a)aa)(1)) und mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch möglich (2.a)aa)(2)). Zudem führt der Anwendungsvorrang von Art. 1 und 20 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRC) i.V.m. Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahme-RL) zur Anwendung zur Regelbedarfsstufe 1 (dazu 2.a)bb)). Der Senat verkennt dabei nicht, dass sich sowohl bei der Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung als auch bei der Reichweite des Anwendungsvorrangs der Unionsgrundrechte in Verbindung mit dem Gesetzgebungsauftrag aus Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 Aufnahme-RL um schwierige und streitige Rechtsfragen handelt, geht aber in der Summe zweier unabhängig voneinander für die Anwendung der Regelbedarfsstufe 1 streitender Rechtssätze von einer hinreichenden Erfolgsaussicht aus. [...]

Der Höhe nach beruft sich nach summarischer Prüfung der Antragsgegner zu Unrecht auf § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG. Diese Ausnahmeregelungen zum Grundsatz, dass Alleinstehende Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 bzw. der vergleichbaren Stufe des § 3a AsylbLG beziehen, dürften entweder einer verfassungskonformen Auslegung zu unterziehen sein und wären dann nach dem Auslegungsergebnis nicht erfüllt oder aber wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unanwendbar.

aa)(1) Der Senat hegt erhebliche Zweifel daran, dass § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG bei wortlautgetreuer Auslegung verfassungsgemäß wären. [...]

Zusammenfassend ist festzustellen, dass bei wortlautgetreuer Auslegung der Gesetzgeber ohne sachlichen Grund sein eigenes, mit dem RBEG geschaffenes Prinzip durchbrechen würde, wonach "die Neuabgrenzung der Regelbedarfsstufen für Erwachsene (…) auf der einfachen Unterscheidung [basiert], ob Erwachsene allein oder in einer Mehrpersonenkonstellation in einer Wohnung leben und im Falle der Mehrpersonenkonstellation, ob sie als Partner zusammenleben." Denn "tatsächlich sollte es nach dem Willen des Gesetzgebers allein auf die tatsächliche und nachweisbare finanzielle Beteiligung an der Haushaltsführung ankommen" (BT-Drs. 18/9984, S. 84).

(2) Unterstellt der Senat für die weitere Prüfung die Verfassungswidrigkeit einer wortlautgetreuen Auslegung der genannten Vorschriften, so erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die genannten Regelungen einer verfassungskonformen Auslegung dahingehend zugänglich sind, dass sie im Wege der teleologischen Reduktion (ergebnisgleich: ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal) nicht auf Wohnsituationen Anwendung finden, in denen die Betroffenen nicht tatsächlich mit zumindest einer Person zusammen wirtschaften (so LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 10. Juni 2020 - L 9 AY 22/19 B ER - juris Rn. 19; SG Berlin, Beschluss vom 19. Mai 2020 - S 90 AY 57/20 ER - juris Rn. 28 ff. - zumindest während der COVID-19- Pandemie; SG Bremen, Beschluss vom 3. Juli 2020 – S 39 AY 55/20 ER –, juris; SG Landshut, Urteil vom 14. Oktober 2020 – S 11 AY 39/20 –, juris; SG Marburg, Beschluss vom 28. August 2020 - S 9 AY 20/20 ER - juris Rn. 58; SG München, Beschluss vom 10. Februar 2020 - S 42 AY 82/19 ER - juris Rn. 56 f.; vgl. auch Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 3a AsylbLG Rn. 44; im Ergebnis auch (u.a. im Wege Folgenabwägung): Sächsisches LSG, Beschluss vom 23. März 2020 – L 8 AY 4/20 B ER – juris Rn. 38; SG Frankfurt am Main, Beschluss vom 14. Januar 2020 – S 30 AY 26/19 ER –, juris; SG Hannover, Beschluss vom 20. Dezember 2019 – S 53 AY 107/19 –, juris; SG Kassel, Beschluss vom 13. Juli 2020 – S 12 AY 20/20 ER). Damit korrespondiert eine Analogie, wonach § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 a) AsylbLG auf die Wohnsituationen Anwendung finden, in denen die Betroffenen nicht tat-sächlich mit zumindest einer Person zusammen wirtschaften bzw. die Ausnahmevorschrift des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG im Wege der teleologischen Reduktion keine Anwen-dung findet, sodass § 2 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AsylbLG anzuwenden sind. Insoweit bedürfte es der Prüfung im Einzelfall, ob eine "tatsächliche und nachweisbare finanzielle Beteiligung an der (gemeinsamen) Haushaltsführung" im Sinne der Konzeption des RBEG vorliegt (Frerichs, in: jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 3a AsylbLG Rn. 44), d.h. ob der Leistungsberechtigte mit anderen zusammenlebt und wirtschaftet (z.B. gemeinsame Einkäufe und Essenszubereitung) und hierdurch geringere Bedarfe etwa an Lebensmitteln, aber auch an Freizeit, Unterhaltung und Kultur bestehen. Zweifel gingen zu Lasten des Leistungsträgers nach dem AsylbLG (Träger der objektiven Beweislast).

Die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung ergeben sich aus den anerkannten Auslegungsmethoden. Ein Normverständnis, das im Widerspruch zu dem klar erkennbar geäußerten Willen des Gesetzgebers steht, kann auch im Wege der verfassungskonformen Auslegung nicht begründet werden (BVerfGE 130, 372 <397 ff.> m.w.N.). [...]

Diese Zweifel, ob die methodischen Grenzen der verfassungskonformen Auslegung überschritten werden, stellt der Senat im einstweiligen Rechtsschutz jedoch zurück.

Zum einen wird in der Entwurfsbegründung im maßgeblichen Absatz auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen aus BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 371/11 – juris, Rn. 53 Bezug genommen (BT-Drs. 19/10052, S. 24). Insoweit bestehen bei einer Gesamtschau Zweifel daran, dass allein wegen der Betonung der Obliegenheit, "alle zumutbaren Anstrengungen zu unternehmen, um miteinander in der Sammelunterkunft aus-zukommen", dem Gesetzgeber unterstellt werden soll, er möchte damit Ausnahmslosigkeit im Sinne auch verfassungswidriger Ergebnisse erzielen. Zum anderen geht zwar nicht der Gesetzgeber, jedoch die Bundesregierung als Entwurfsverfasser der Erwägungen, die gegen eine verfassungskonforme Auslegung sprechen, aktuell von der Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung aus (BT-Drs. 19/20984, S. 4): "Vor dem Hintergrund der im Gesetzgebungsprozess nicht vorhersehbaren Pandemie-Situation vertritt die Bundesregierung indes die Auffassung, dass in Ausnahmefällen eine teleologische Reduktion des § 3a Absatz 1 Nummer 2b sowie Absatz 2 Nummer 2b AsylbLG übergangsweise in Betracht kommen kann. Eine teleologische Reduktion der Norm mit der Folge der Anwendung der Bedarfsstufe 1 nach §§ 3a Absatz 1 Nummer 1 und Absatz 2 Nummer 1 AsylbLG kommt dabei in Betracht, soweit unter Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles, insbesondere der spezifischen räumlichen und organisatorischen Umstände in den einzelnen Sammelunterkünften, aus Gründen des Infektionsschutzes erforderliche Maßnahmen ergriffen wurden, die die Möglichkeit eines gemeinsamen Wirtschaftens in erheblichem Umfang einschränken." Zwar ist diese Meinungsäußerung der Bundesregierung nicht auslegungsleitend. Angesichts der Vielzahl gewichtiger Stimmen, die für eine verfassungskonforme Auslegung sprechen und angesichts einer Verwaltungspraxis, die in einzelnen Land-kreisen beginnt, wegen der COVID-19-Pandemie der Stellungnahme der Bundesregierung entsprechend zu handeln, kann der Senat in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die hinreichenden Erfolgsaussichten allein wegen methodischer Bedenken nicht verneinen. Vielmehr erscheint es durchaus möglich, dass der Weg über die verfassungskonforme Auslegung sich trotz der methodischen Bedenken zur vorherrschenden Rechtsansicht entwickeln wird. [...]

(3) Die Voraussetzungen der verfassungskonform ausgelegten § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG sind nicht erfüllt (zur daraus folgenden Anspruchshöhe siehe unten cc)).

Nach seinen unwidersprochen gebliebenen, für den Senat nachvollziehbaren Ausführungen, lebt der Antragsteller in der Gemeinschaftsunterkunft auf Distanz zu den übrigen sehr viel jüngeren Mitbewohnern. Er lebt in einem Einzelzimmer mit eigener Küchenzeile. Lediglich das Bad teilt er sich mit einer vierköpfigen türkischen Familie mit zwei Kindern, die in dem Zimmer gegenüber leben. Mit der Familie teilt er sich weder Hygieneartikel noch Nahrungsmittel oder anderes. Angesichts der Wohnsituation in der Gemeinschaftsunterkunft, die durch jeweils eigene Küchenbereiche gekennzeichnet ist, liegt ein gemeinsames Kochen mit der benachbarten Familie auch praktisch eher fern.

bb) § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG sind bei wortlautgetreuer Auslegung nach summarischer Prüfung nicht mit Art. 1 GRC, Art. 20 GRC i.V.m. Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 Aufnahme-RL zu vereinbaren (dazu bb)(1), (2)und (3)). Wegen des gleichzeitigen Verstoßes gegen Unionsgrundrechte greift hier nicht lediglich die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, die den gleichen Restzweifeln unterliegt wie die verfassungskonforme Auslegung. Vielmehr führt der Anwendungsvorrang von Art. 1 und Art. 20 GRC zur Nichtanwendung der unionsrechtswidrigen Ausnahmeregelungen der § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG und zur wohnsituationsunabhängigen Anwendung der Regelbedarfsstufen bei Alleinstehenden (dazu bb)(4)).

(1) Der Antragsteller unterfällt nach Art. 3 Abs. 1 Aufnahme-RL dem persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie. [...]

(2) Nach summarischer Prüfung sind § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG nicht mit dem von Art. 1 GRC, Art. 20 GRC i.V.m. Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 Aufnahme-RL geforderten Leistungsniveau in Einklang zu bringen. [...]

(3) Gemessen an diesem Maßstab sind die Leistungshöhen der § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG nach summarischer Prüfung unionsrechtswidrig. Wie oben gezeigt, beruht die geringere Regelleistungshöhe von 90 Prozent gegenüber in einer Wohnung lebenden Alleinstehenden nicht auf dem Unterschied zwischen Sach- und Geldleistungsgewährung i.S.d. Art. 17 Abs. 5 Aufnahme-RL. Sie betrifft ausnahmslos die Geldleistungsgewährung. Sie entstehen auch unabhängig von der Sachleistungsgewährung in Gestalt der Unterbringung in der Gemeinschaftsunterkunft (zu den bereits herausgerechneten weiteren Bedarfen siehe unten cc). Wie ebenfalls bereits im Rahmen der verfassungsrechtlichen Würdigung geprüft, beruht die zehnprozentige Absenkung weder auf der Kürzung einer über dem Existenzminimum liegenden Zielsetzung des Leistungssystems, denn das RBEG, das der Leistungshöhe zugrunde liegt, dient gerade der Bemessung des menschenwürdigen Existenzminimums, noch ist sie durch die besondere Bedarfssituation der Asylbewerberinnen und Asylbewerber gerechtfertigt. Selbst wenn man davon ausginge, dass insoweit jeder sachliche Grund mit Bedarfsbezug ausreichte, so fehlte es an einem solchen, da der Gesetzgeber ohne empirische Grundlage sein eigenes Bemessungssystem zur Bestimmung der Regelbedarfsstufen durchbrochen hat. Denn der Gesetzgeber fordert im Vergleich zu anderen Anwendungsfällen der Regelbedarfsstufe 2 bzw. der Parallelregelungen in § 3a AsylbLG nicht das tatsächliche gemeinsame Wirtschaften als Voraussetzung. Zudem fehlt am Maßstab von Art. 20 GRC, der auch Gleichheit gegenüber dem Gesetzgeber garantiert, der sachliche Grund für eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung mit anderen alleinstehenden Antragstellerinnen und Antragstellern, denn es ist nicht nachvollziehbar, warum in einer Gemeinschaftsunterkunft lebende alleinstehende, um internationalen Schutz suchende Personen niedrigere Leistungen erhalten als in einer Wohngemeinschaft lebende, alleinstehende Personen in der gleichen Situation.

(4) In der Rechtsfolge ist der Senat verpflichtet, die Normen, die gegenüber Regelbedarfs-stufe 1 (bzw. deren Äquivalent in § 3a AsylbLG) zu einer Absenkung führen, unangewendet zu lassen.

Zwar handelt es sich bei Art. 17 Aufnahme-RL bei isolierter Betrachtung um einen von den mitgliedstaatlichen Gerichten nicht unmittelbar anwendbaren Gesetzgebungsauftrag [...]

Indes wurde oben gezeigt, dass Art. 17 Aufnahme-RL im Wesentlichen nur Art. 1 GRC und Art. 20 GRC konkretisiert. Die Chartagrundrechte aus Art. 1 und Art. 20 GRC sind unmittelbar einklagbare subjektive Rechte (zu Art. 1 Jarass, GRC, 4. Aufl. 2021, Art. 1 Rn. 2 und Art. 20 Rn. 2, jeweils m.w.N.). Sie sind vorliegend für den Senat als mitgliedstaatliches Gericht bindend anzuwenden, da es sich bei der Frage, ob § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG dem Gesetzgebungsauftrag aus Art. 17 Aufnahme-RL genügen, um eine Frage der "Durchführung des Rechts der Union" im Sinne des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 letzter Hs. GRC handelt. [...]

Rechtsfolge des Anwendungsvorrangs ist die Nichtanwendung des die Unionsrechtswidrigkeit begründenden Tatbestandsmerkmals oder der Teilnorm. Da es sich nach der Systematik des AsylbLG – wie insbesondere die Binnensystematik des § 2 AsylbLG und das grundsicherungsrechtliche System der Regelbedarfsbemessung zeigen – bei § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG um Ausnahmevorschriften handelt, ist der Antragsteller so zu stellen, dass auf ihn die Vorschriften über Alleinstehende Anwendung finden, die nicht in Gemeinschaftsunterkünften wohnen.

cc) Da entweder die Voraussetzungen der verfassungskonform ausgelegten § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG nicht erfüllt sind oder wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts der Antragsteller so gestellt werden muss wie Alleinstehende, die nicht in Gemeinschaftsunterkünften wohnen, bemisst sich die Leistungshöhe nach § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 a) AsylbLG bzw. § 2 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AsylbLG. [...]

b) Angesichts der Differenz der gewährten Leistungen zu den glaubhaft gemachten Anordnungsansprüchen in Höhe von zuletzt monatlich 64,17 € kann der Anordnungsgrund nicht verneint werden. Die Differenz zum Anordnungsanspruch liegt aktuell bei 14,4 Prozent der Regelleistung und dies für einen unbestimmten Zeitraum. Zwar mag im Einzelfall auch ein höherer prozentualer Fehlbetrag am Maßstab von Art. 19 Abs. 4 GG trotz des Gewichts der Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG hinnehmbar erscheinen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Oktober 2020 – 1 BvR 1106/20 –, juris), wenn es beispielsweise um eine Einmalleistung oder geringfügige Beträge geht, deren Nichtzahlung keinen wesentlichen Nachteil besorgen lässt; eine dauerhafte Unterdeckung von 14,4 Prozent ist aber nicht hinzunehmen. [...]