OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 11.03.2021 - 9 LB 129/19 - asyl.net: M29557
https://www.asyl.net/rsdb/M29557
Leitsatz:

Weder Gruppenverfolgung noch coronabedingtes Abschiebungsverbot bei yezidischen Personen aus dem Irak:

"1. Eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Tilkaif der Provinz Ninive i.S.d. § 3 AsylG ist derzeit weiterhin nicht beachtlich wahrscheinlich.

2. In dem Distrikt Tilkaif besteht keine außergewöhnliche Situation, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

3. Die vom Bundesverwaltungsgericht etablierte und hier geteilte Rechtsprechung zur Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nimmt eine allein an Opferzahlen orientierte Lageeinschätzung nicht vor. Vielmehr kommt es auf eine wertende, abschließende Gesamtbetrachtung der Gesamtsituation an (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 21).

4. Die humanitären Verhältnisse in der Autonomen Region Kurdistan-Irak begründen auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie für yezidische Einzelpersonen oder für yezidische Familien mit minderjährigen Kindern nicht generell einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Irak, Yeziden, Corona-Virus, Gruppenverfolgung, Tilkaif, extreme Gefahrenlage, Nordirak, subsidiärer Schutz, religiöse Verfolgung, Kurdistan-Irak,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

41 2. Allein die Zugehörigkeit des Klägers zu der Glaubensgemeinschaft der Yeziden lässt seine Verfolgung in Anknüpfung an ein Merkmal i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bei seiner Rückkehr in den Irak derzeit nicht als beachtlich wahrscheinlich erscheinen. [...]

49 Der Senat ist unter Berücksichtigung dieses Maßstabes aufgrund der im für die Bewertung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung verfügbaren Erkenntnisse zu der Überzeugung gelangt, dass eine Gruppenverfolgung von Yeziden in der Herkunftsregion des Klägers nicht beachtlich wahrscheinlich ist (siehe bereits das Urteil des Senats vom 7.8.2019, a.a.O., Rn. 49 ff.). [...]

50 In dem Distrikt Tilkaif sind derzeit Verfolgungshandlungen durch den irakischen Zentralstaat (dazu unter a.), den IS (dazu unter b.) oder sonstige Akteure (dazu unter c.) nicht zu erwarten. 51 a. Eine staatliche Verfolgung von Angehörigen der yezidischen Glaubensgemeinschaft durch den irakischen Zentralstaat wegen deren Religionszugehörigkeit findet im Irak nicht statt (so bereits Urteil des Senats vom 30.7.2019 – 9 LB 133/19 – juris Rn. 61 - 67). [...]

54 Anhaltspunkte für eine unzumutbare und die Annahme einer Verfolgung i.S.d. § 3a AsylG rechtfertigende Beeinträchtigung der Religionsausübung der Yeziden durch den irakischen Zentralstaat bestehen nach diesen Maßstäben nicht. [...]

56 Die Verfassung des irakischen Zentralstaates erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an: Gemäß Art. 2 Abs. 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung, in Abs. 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. [...]

57 Es ist zudem keine staatliche Behinderung der tatsächlichen Religionsausübung für Yeziden – die ausschließlich im Privatbereich erfolgt, da die religiösen Rituale der Yeziden nicht vor Personen, die nicht der Glaubensgemeinschaft angehören, praktiziert werden dürfen (vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Die Yezidi im Irak, Forderungen an die US-amerikanische und irakische Regierung sowie an die Regionalregierung Kurdistan, November 2007, S. 19) – ersichtlich. [...]

58 b. Eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Tilkaif i.S.d. § 3 AsylG durch die Terrormiliz IS ist derzeit ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich.

59 aa) Dies gilt selbst dann, wenn man mit dem Verwaltungsgericht (S. 8 UA) annimmt, dass der Kläger angesichts der Übernahme der territorialen Herrschaft des IS in weiten Teilen der Provinz Ninive im Sommer 2014 und der damit einhergehenden Übergriffe auf die yezidische Bevölkerung, insbesondere im Distrikt Sindjar (vgl. Urteil des Senats vom 30.7.2019, a.a.O., Rn. 69 ff.), bereits vor seiner Ausreise aus dem Irak – auch als Yezide aus dem Distrikt Tilkaif – von einer Gruppenverfolgung bedroht gewesen ist. Die dadurch begründete Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, wäre im Fall des Klägers widerlegt.

60 Es sprechen nach der Überzeugung des Senats stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger erneut von einer solchen Gruppenverfolgung bedroht wäre. Die flächendeckenden Übergriffe auf Angehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft, die (zumindest) im Distrikt Sindjar durch Mitglieder des IS erfolgten, wurden erst durch die Eroberung des Gebietes durch die Terrororganisation im Sommer 2014 ermöglicht. Seitdem haben sich die Machtverhältnisse im Irak aber grundlegend geändert. Der IS hat sein Herrschaftsgebiet im Irak nahezu vollständig verloren (aktuelle Karte zu den Machtverhältnissen im Irak unter isis.liveuamap.com/). Er hält dort kein Territorium mehr (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Kakai, Verfolgung und Diskriminierung, staatlicher Schutz, Religionsfreiheit, Niederlassung im Nordirak, 13.12.2018, S. 2 m.w.N.). Es bestehen derzeit auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass der IS in absehbarer Zeit in der Lage wäre, den Distrikt Tilkaif zu erobern und infolgedessen die dort lebenden Yeziden, wie zum damaligen Zeitpunkt (zumindest) im Sindjar, flächendeckend zu verfolgen (so bereits das Urteil des Senats vom 30.7.2019, a.a.O., Rn. 71 - 79; siehe hierzu auch die nachfolgend beschriebenen aktuellen Verhältnisse).

61 bb) Die seit dem vollständigen Verlust seines territorialen Herrschaftsgebietes im Irak ausgeübten Aktivitäten des IS rechtfertigen nicht die Annahme einer Gruppenverfolgung von Yeziden in dem Distrikt Tilkaif, da es dort an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte nach den oben genannten Maßstäben fehlt. [...]

74 (b) Es ergeben sich auch keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, das Fehlen von Übergriffen auf Yeziden sei dem Umstand geschuldet, dass in dem Distrikt nach dem Eroberungsfeldzug des IS keine Yeziden mehr lebten. [...]

80 (c) Angesichts der fehlenden Referenzfälle erbringt eine quantitative Betrachtung – unabhängig von der genauen Anzahl der derzeit in dem Distrikt lebenden Yeziden – keine beachtliche aktuelle Verfolgungswahrscheinlichkeit für alle Yeziden aus dem Distrikt Tilkaif in Anknüpfung an ihre Glaubenszugehörigkeit. [...]

81 c. Ebenso wenig ist eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Tilkaif durch andere Akteure beachtlich wahrscheinlich. [...]

83 3. Dem Kläger droht auch keine individuelle Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Yeziden aus dem Distrikt Tilkaif. Ist eine Verfolgung aller Gruppenangehöriger nicht beachtlich wahrscheinlich, kann sich dies aber aus dem Vorliegen besonderer Gefährdungsmerkmale ergeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a.a.O., Rn. 24; Urteil vom 30.10.1984 – 9 C 24.84 – juris Rn. 12). [...]

85 II. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes.

86 Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. [...]

91 1. Nach diesen Maßstäben droht dem Kläger keine Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG. [...]

94 2. Dem Kläger droht auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. [...]

99 a) Die von dem Kläger geschilderte Flucht vor dem IS aus seinem Heimatdorf Babire im Distrikt Tilkaif vermag eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung im Falle seiner Rückkehr in den Irak nicht zu rechtfertigen, da nicht (mehr) von einer Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Tilklaif auszugehen ist (s. o. unter I. 2.).

100 b) Auch die dortige schlechte humanitäre Lage rechtfertigt nicht die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, da diese nicht auf einen Akteur i.S.d. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG zurückzuführen ist.

101 Trotz der identischen Formulierung in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und Art. 3 EMRK führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der §§ 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. [...]

102 Daher können schlechte humanitäre Bedingungen, die nicht auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zurückzuführen sind, nicht zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 10 ff.; Beschluss vom 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 6, 13; Urteil des Senats vom 24.9.2019, a.a.O., Rn. 66; Beschluss des Senats vom 31.5.2018 – 9 LA 61/18 – juris Rn. 6 - 13; so auch VGH BW, Urteile vom 17.1.2018, a.a.O., Rn. 168 ff.; vom 5.12.2017, a.a.O., Rn. 183 ff.). Sie können nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK (nur) ein nationales Abschiebungsverbot nach sich ziehen. [...]

108 c) Dem Kläger droht im Fall einer Rückkehr in den Irak auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder eine erniedrigende Behandlung i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG aufgrund der allgemeinen Situation der Gewalt im Irak. [...]

111 3. Es ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG droht. [...]

114 Es kann offen bleiben, ob im Distrikt Tilkaif in der Provinz Ninive derzeit ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht. Jedenfalls besteht für den Kläger dort im Rahmen eines etwaigen solchen Konflikts keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt. Dies gilt selbst dann, wenn man die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU für anwendbar hielte, da stichhaltige Gründe dagegen sprächen, dass der Kläger erneut von einem solchen Schaden bedroht ist.

115 In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass und unter welchen Voraussetzungen eine ernsthafte individuelle Bedrohung i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG anzunehmen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.2.2014 – 10 C 6.13 – juris Rn. 24; Beschluss vom 27.6.2013 – 10 B 11.13 – juris Rn. 7; Urteile vom 17.11.2011, a. a. O., Rn. 17 ff.; vom 27.4.2010, a.a.O., Rn. 32 ff.; vom 24.6.2008 – 10 C 43.07 – juris Rn. 34 ff.).

116 Danach genügt es nicht, dass der innerstaatliche bewaffnete Konflikt zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung und zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.2.2014, a.a.O., Rn. 24). Allerdings kann sich eine von einem bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr individuell verdichten und damit die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erfüllen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.6.2008, a.a.O., Rn. 34 zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.). [...]

119 a) Für den Kläger sind bei einer Rückkehr in den Distrikt Tilkaif in der Provinz Ninive besondere gefahrerhöhende Umstände nicht ersichtlich.

120 Aus den aktuellen Erkenntnismitteln ergibt sich nicht, dass Yeziden derzeit bei einer Rückkehr nach Tilkaif nach der Verdrängung des IS einer gegenüber anderen Bewohnern der Region erhöhten Gefahr ausgesetzt wären. Nach den oben bereits im Zusammenhang mit der Frage nach dem Vorliegen einer Gruppenverfolgung getätigten Ausführungen stehen weder der Distrikt Tilkaif noch die Yeziden derzeit im Mittelpunkt der Aktivitäten des IS. Auch in Bezug auf die weiteren Handlungsakteure in der Region, insbesondere der schiitischen Milizen, ist dies nicht ersichtlich. Gezielte Übergriffe schiitischer Milizen gegenüber Yeziden in nennenswertem und im Verhältnis zu anderen Bewohnern des Distrikts überproportionalem Umfang sind den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen (vgl. dazu im Einzelnen ACCORD, ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, 2.10.2020). [...]

123 b) In dem Distrikt Tilkaif besteht auch keine außergewöhnliche Situation, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. [...]

126 Die in einem Vorlagebeschluss an den Gerichtshof der Europäischen Union zum Ausdruck gebrachte Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, wonach die Zuerkennung des subsidiären Schutzes im vorliegenden Zusammenhang nicht allein von einer Mindestzahl an bereits zu beklagenden zivilen Opfern abhängig gemacht werden dürfe (VGH BW, Beschluss vom 29.11.2019 – A 11 S 2374/19, A 11 S 2375/19 – juris), führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar mag diese Auffassung im Ergebnis zutreffend sein (vgl. den Schlussantrag des Generalanwalts im vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg angestrengten Vorabentscheidungsverfahren vom 11.2.2021 – C-901/19 – juris). Die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage verkennt jedoch, dass die vom Bundesverwaltungsgericht etablierte und hier geteilte Rechtsprechung eine allein an Opferzahlen orientierte Lageeinschätzung nicht vornimmt. Vielmehr kommt es auch bisher bereits auf eine wertende, abschließende Gesamtbetrachtung der Gesamtsituation an (BVerwG, Urteil vom 20.5.2020, a.a.O., Rn. 21). Vorliegend sind indes keine Gesichtspunkte vorgetragen oder erkennbar, die in diesem Rahmen zu einem anderen Ergebnis führten.

127 III. Die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG (i.V.m. Art. 3 EMRK) liegen nicht vor. [...]

143 3. Unter Zugrundelegung der dargestellten, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK entwickelten Kriterien sind trotz der widrigen Lebensbedingungen in der Region Kurdistan-Irak die Voraussetzungen für eine Schutzgewährung nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK nicht allgemein für alle aus dem Irak stammende Yeziden gegeben. Die im Zeitpunkt der Entscheidung verfügbaren Erkenntnisse lassen auch nicht den Schluss darauf zu, dass yezidische Personen in Kurdistan-Irak generell ohne Hinzutreten weiterer Umstände so gefährdet wären, dass ihnen bei ihrer Rückkehr stets eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK drohte. Entscheidend für die Frage, ob Art. 3 EMRK einer Abschiebung nach Kurdistan-Irak entgegensteht, sind vielmehr die individuellen Umstände im Einzelfall.

144 Der Senat hat im Urteil vom 24. September 2019 (9 LB 136/19) ausgeführt, dass die Sicherheitslage im Irak prekär sei, in der Region Kurdistan-Irak derzeit aber noch keine allgemeine Situation einer solchen extremen allgemeinen Gewalt vorliege, die es rechtfertige, yezidischen Familien generell Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK zu gewähren (a a.O., Rn. 128 - 145). [...]

146 a) Allgemein scheint die Sicherheit in der Region Kurdistan-Irak zumindest in den Grenzregionen indes stärker als bisher gefährdet zu sein, wenngleich etwa das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak vom 17.3.2020, S. 25) die Lage in Erbil und Sulaymaniyah und unmittelbarer Umgebung weiterhin als vergleichsweise besser als in anderen Teilen des Irak bewertet. [...]

147 Anzeichen für ein signifikantes Erstarken des IS, von dem in der Vergangenheit ohnehin ein vergleichsweise moderater Gefährdungsgrad in der Region ausgegangen war, sind nicht ersichtlich (vgl. etwa die graphische Darstellung der Verteilung von IS-Aktivitäten innerhalb des Irak bei EASO, Iraq - Security situation, Oktober 2020, S. 30). [...]

148 Im Hinblick auf innenpolitische Unruhen in Kurdistan-Irak verzeichnet EASO nach einer Auswertung der ACLED-Daten für den Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis zum 31. Juli 2020 539 friedliche sowie acht gewalttätige Demonstrationen (riots) mit den Schwerpunkten jeweils in Sulaymaniyah. [...]

149 Die Minenbelastung in der Region Kurdistan-Irak ist weiterhin hoch. [...]

150 Der Sicherheitsapparat Kurdistan-Iraks wird unverändert als wirksam eingeschätzt. So berichtet etwa das Overseas Security Advisory Council (OSAC) der USA, die Polizei- und Militäreinheiten der Region Kurdistan-Irak könnten schnell auf Sicherheitsvorfälle, Terroranschläge und kriminelle Aktivitäten reagieren. [...]

151 Trotz der erwähnten Verschärfung der Sicherheitslage in den Grenzregionen von Kurdistan-Irak sind die gemeldeten Zahlen an Opfern aus der Zivilbevölkerung weiterhin verhältnismäßig gering. [...]

155 b) Die humanitären Verhältnisse in Kurdistan-Irak begründen für yezidische Einzelpersonen oder für yezidische Familien mit minderjährigen Kindern ebenfalls nicht generell einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK.

156 Dabei ist der Senat weiterhin der Auffassung, dass die Lebensbedingungen in Kurdistan-Irak allgemein schwierig sind. Sie rechtfertigen nach den vorliegenden Erkenntnissen indes nicht für jeden aus dem Ausland in den Irak zurückkehrenden Yeziden die Annahme eines ganz außergewöhnlichen Falles mit der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts wegen der humanitären Bedingungen in der Region Kurdistan-Irak (vgl. zuletzt OVG NRW, Beschluss vom 29.9.2020 – 9 A 949/18.A – juris Rn. 9; Beschluss vom 25.3.2020 – 9 A 2113/18.A – juris Rn. 10; VG München, Urteil vom 9.11.2020 – M 19 K 17.39041 – juris Rn. 39 ff.; VG Magdeburg, Urteil vom 16.10.2019 – 4 A 248/18 – juris Rn. 42 ff.; a. A. hinsichtlich der Zumutbarkeit der Region Kurdistan-Irak als inländische Fluchtalternative VG Gelsenkirchen, Urteil vom 4.3.2020 – 15a K 5013/18.A – juris Rn. 176 ff.). Vielmehr bedarf es im jeweiligen Einzelfall einer umfassenden Abwägung der die Lebensbedingungen erschwerenden sowie begünstigenden Faktoren. Dies gilt grundsätzlich auch für Familien mit kleinen Kindern, wobei hier erschwerende Umstände oftmals ein anderes Gewicht erlangen können als bei einem alleinstehenden, nicht arbeitsunfähigen Mann.

157 Der Senat hat die humanitäre Lage für Rückkehrer in die Region Kurdistan-Irak in seinem Urteil vom 24. September 2019 (9 LB 136/19) eingehend unter den Gesichtspunkten "Unterkunft" (a.a.O., Rn. 149 - 210), "Arbeitsmarkt" (a.a.O., Rn. 211 - 226), "Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen" (a.a.O., Rn. 227 - 241) sowie "staatliche und nichtstaatliche Unterstützung" (a. a. O., Rn. 242 - 247) analysiert. Auf diese Ausführungen wird verwiesen. Die Entwicklungen seit dem Erlass der Entscheidung geben – auch unter Berücksichtigung der Corona-Pandemie – keinen hinreichenden Anlass zu einer im Ergebnis anderen Bewertung.

158 Allgemein ist zunächst zu konstatieren, dass die Zahl der in Kurdistan-Irak untergekommenen Binnenvertriebenen sukzessive abnimmt, wenngleich aufgrund der beschriebenen Konflikte in den Grenzregionen auch Fluchtbewegungen innerhalb der Region zu verzeichnen sind (EASO, Iraq - Security situation, Oktober 2020, S. 165 f.). [...]

159 IOM (Displacement Tracking Matrix Dataset Round 118, November 2020) geht davon aus, dass landesweit aktuell 69 % der inländisch vertriebenen Haushalte in Privatwohnungen, 23 % in Vertriebenenlagern und 8 % in kritischen Unterkünften leben. [...]

160 Allerdings muss hierbei beachtet werden, dass die irakische Regierung in letzter Zeit stärker dazu übergeht, die schon länger angekündigte Schließung oder Zusammenlegung von Vertriebenenlagern umzusetzen (vgl. United Nations Human Rights Council [UNHRC], Visit to Iraq – Report of the Special Rapporteur on the human rights of internally displaced persons vom 23.5.2020, Rn. 27 f.). [...]

161 Kritisch ist derzeit die Lage von Binnenvertriebenen, denen zu Unrecht eine Zusammenarbeit mit dem IS unterstellt wird (siehe allgemein: EASO, Iraq: Treatment of Iraqis with perceived affiliation to ISIL, Oktober 2020). [...]

162 Die wirtschaftliche Lage in der Region Kurdistan-Irak, die über ein vergleichsweise großes Ölvorkommen verfügt, ist allgemein von einem derzeitigen Einbruch des Ölpreises bestimmt (EASO, Key socio-economic indicators for Bagdad, Basra and Erbil, September 2020, S. 40).

163 Weiter in die Betrachtung einzubeziehen sind die aus der derzeitigen Corona-Pandemie folgenden humanitären Bedingungen im Irak. Auch diese können grundsätzlich in ganz besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprechen, zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen (vgl. den Beschluss des Senats vom 13.1.2021 – 9 LB 150/20 – juris Rn. 26). [...]

183 Unter Berücksichtigung und Gewichtung der vorstehenden Ausführungen ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger aufgrund der aktuellen humanitären Verhältnisse in Kurdistan-Irak kein Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK zusteht. Auch wenn die derzeitige Lage angespannt ist, wird es dem Kläger gelingen, eine eigenständige Existenz aufzubauen. Zum einen hat er bereits vor seiner Ausreise einen wirtschaftlichen Betrieb eigenständig und mit Erfolg geführt, sodass er die für einen Wiederaufbau notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen oder zumindest für den Arbeitsmarkt weitaus attraktiver sein dürfte als andere Rückkehrer. Zum anderen besteht durch die in der Autonomen Region Kurdistan-Irak noch immer betriebenen Vertriebenenlager und die internationale Unterstützung des Irak für den Kläger und gegebenenfalls seine Familie eine hinreichende Basis bei einer Rückkehr.

184 c) Auch eine Gesamtbetrachtung der Sicherheitslage und der humanitären Situation in Kurdistan-Irak führt nach Einschätzung des Senats unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel noch nicht dazu, dass allgemein alle aus dem Irak stammenden Yeziden bzw. yezidischen Familien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wären bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten müssen, wenn sie nach Kurdistan-Irak zurückkehrten. Zwar ist sowohl die Sicherheitslage als auch die humanitäre Lage in der Region angespannt, es lässt sich aber für den vorgenannten Personenkreis noch keine Extremsituation feststellen, die es rechtfertigt, ihnen generell Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK zu gewähren. [...]