VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 04.12.2002 - 5 K 2188/95.A - asyl.net: M3038
https://www.asyl.net/rsdb/M3038
Leitsatz:

In Afghanistan besteht auf absehbare Zeit keine staatliche oder quasi-staatliche Herrschaftsmacht; keine konkrete Gefährdung gem. § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG wegen lediglich niederrangiger Tätigkeit für das frühere kommunistische Regime; im konkreten Einzelfall keine Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG in verfassungskonformer Auslegung wegen einer extremen Gefährdungslage, da hinreichender Schutz durch Zusicherung einer Duldung gewährleistet ist.

Schlagwörter: Afghanistan, Kommunisten, Paschtunen, Gebietsgewalt, Quasi-staatliche Verfolgung, Warlords, Übergangsregierung, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Gefahrenbegriff, Allgemeine Gefahr, Versorgungslage, Existenzminimum, Malaria, Infektionsrisiko, Semi-Immunität, Medizinische Versorgung, Extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Duldung, Duldungszusage
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

 

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16 a Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) und auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes (AuslG).

Ungeachtet der Frage, ob das Asylvorbringen zutreffend ist oder nicht, droht dem Kläger nach Auffassung der Kammer in Afghanistan eine politische, d.h. staatliche Verfolgung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, da jedenfalls derzeit nicht davon ausgegangen werden kann, dass in Afghanistan ein Staat oder staatsähnliche Organisationen, die den jeweiligen Staat verdrängt haben oder denen dieser das Feld überlassen hat und die ihn daher insoweit ersetzen, vorhanden ist bzw. sind.

Nach Auffassung der Kammer kann nicht davon ausgegangen werden, dass in Afghanistan derzeit eine de-facto-Gebietsgewalt im vorgenannten Sinne vorhanden ist, die über ein tatsächliches Schutz-und Gewaltmonopol im Innern des Landes verfügt.

Eine solche Gebietsgewalt haben nach der grundlegenden Änderung der Verhältnisse in Afghanistan Ende des Jahres 2001 und auch derzeit nicht die Taliban inne, die militärisch weitgehend besiegt sind und allenfalls noch in wenigen, räumlich begrenzten Bereichen über eine tatsächliche Herrschaft verfügen, wenn auch unklar ist, über welche konkreten Strukturen die Taliban noch im Land verfügen (vgl. auch OVG für NRW, Beschluss vom 9. Januar 2002 - 20 A 4493/01.A -; VG Ansbach Urteil vom 24. April 2002 - AN 11 K 01.31749 -; VG Regensburg, Urteil vom 4. März 2002 - RN 5 K 01.30993 - und Gerichtsbescheid vom 16. Januar 2002 - RN 5 K 01.30993 -; VG Hamburg, Urteil vom 27. Dezember 2001 - 16 VG A 1155/2001 -; SZ vom 2. Dezember 2002).

Bis zum Zusammentreten der traditionellen afghanischen Ratsversammlung Loya-Jirga im Juni 2002 in Kabul bestand in Afghanistan lediglich eine Übergangsregierung unter dem Vorsitz von Ministerpräsident Hamid Karzai, die von tadschikischen Politikern dominiert wurde (SZ vom 5. und 23. April 2002, NZZ vom 19. April 2002).

Sie wurde zwischenzeitlich abgelöst durch eine neue Übergangsregierung, die das Land 18 Monate lang regieren wird. Anschließend soll erneut eine Loya Jirga einberufen werden, um eine Verfasung zu verabschieden und spätestens sechs Monate danach muss ein Parlament gewählt werden, aus dem die erste demokratisch legitimierte Regierung hervorgehen soll.

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die jetzige (neue) Übergangsregierung bereits über eine organisierte, effektive und stabile Gebietsgewalt verfügt oder dies in überschaubarer Zeit tun wird. Insoweit geht die Kammer davon aus, dass sich die tatsächliche Situation allein durch den Amtsantritt der neuen Übergangsregierung nicht wesentlich gegenüber derjenigen zu Zeiten der vormaligen Übergangsregierung geändert hat. Die Autorität der neuen Zentralregierung reicht gegenwärtig nicht allzu weit über Kabul hinaus und wird dies auch auf absehbare Zeit voraussichtlich nicht tun.

Vor allem die Sicherheitslage ist angespannt und unklar, sie variiert je nach Einfluss der jeweiligen lokalen Warlords. Lokale Machthaber (Warlords) haben - variierend je nach Einflussgebiet in vielen Landesgebieten noch die Macht inne, im Westen, Nordwesten und Südwesten Ismail Khan, im Norden General Dostum mit seinen Verbündeten. Jedoch sind die Koalitionäre ehemalige Todfeinde, die Zweckbündnisse eingehen, die jederzeit wieder zerbrechen und in gewaltsame Auseinandersetzungen übergehen können. Nach Presseberichten soll die Macht der Warlords teilweise bis in die Hauptstadt reichen, wo Waffen und Sprengstoff an den Kontrollposten der internationalen Schutztruppe vorbei in die Stadt geschmuggelt würden.

Über zunehmende - vor allem ethnische - Spannungen und Auseinandersetzungen, zu denen das Gericht auch Übergriffe der mehrheitlich tadschikischen Nordallianz gegen andere, insbesondere paschtunische Volksangehörige zählt, sowie auch von Übergriffen auf Soldaten der internationalen Schutztruppe wird berichtet.

Auch auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG besteht kein Anspruch, da eine erhebliche, konkrete und individiuelle Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers in Afghanistan nicht glaubhaft gemacht ist.

Bei einer Tätigkeit für das frühere kommunistische Regime kommt es darauf an, wo der Rückkehrer leben wird, welche Position bzw. welchen Rang er früher eingenommen hatte und ob ihm die Zentralregierung oder Stammes- und Kriegsfürsten Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen vorwerfen. So können Rückkehrer, die keine hochrangige Stellung in Militär, Geheimdienst oder in der DVPA hatten und die nicht mit Menschenrechtsverletzungen und/oder Kriegsverbrechen in Verbindung gebracht werden, mit relativer Sicherheit im Land leben. Es reicht nicht aus, nur dem kommunisitischen Regime gedient zu haben (Dr. Danesch, Gutachten an VG Schleswig vom 5. August 2002; Dr. Glatzer an VG Schleswig vom August 2002).

Abschiebungsschutz kann auch nicht aufgrund des verbleibenden unterhalb der Schwelle der konkreten, erheblichen und individuellen Gefahr liegenden Risikos, Opfer von Übergriffen zu werden, gewährt werden. Zwar kann nach den vorliegenden Erkenntnissen davon ausgegangen werden, dass die Sicherheitslage in Afghanistan je nach Landesteil mehr oder weniger problematisch, insgesamt aber fragil ist. Dabei handelt es sich jedoch ebenso wie bei den je nach Örtlichkeit unterschiedlich stark ausgeprägten humanitären Problemen, insbesondere der Lebensmittel-, Wohnungs- und medizinischen Versorgung, um Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe der Paschtunen, der der Kläger angehört, allgemein ausgesetzt ist und die zunächst allein im Rahmen einer Leitentscheidung nach § 54 AuslG zu berücksichtigen sind.

Auch bei der vom Kläger geltend gemachten Gefahr einer Erkrankung an Malaria und der nicht bestehenden medizinischen Behandlungsmöglichkeiten in Afghanistan handelt es sich nicht um eine individuelle und konkrete Gefahr für den Einzelnen, sondern um eine allgemeine Gefahr, denn sie droht grundsätzlich jedem Mitglied der Bevölkerung.

Dem Kläger kann auch nicht wegen allgemeiner Gefahren in verfassungskonformer Auslegung und Anwendung des § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG Abschiebungsschutz gewährt werden. Dabei bedarf es keiner Entscheidung darüber, ob derzeit die Voraussetzungen hierfür vorliegen in Gestalt einer extremen Gefahrenlage, in der jeder einzelne Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen überantwortet wäre. Die Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG, wonach solche allgemeinen Gefahren (allein) bei Entscheidungen nach § 54 AuslG zu berücksichtigen sind, kann im Wege einer verfassungskonformen Auslegung nur dann durchbrochen werden, wenn der einzelne Ausländer sonst gänzlich schutzlos bliebe. Dies ist aber dann nicht der Fall wenn eine andere ausländerrechtliche Erlasslage oder eine aus individuellen Gründen erteilte Duldung dem betroffenen Ausländer einen vergleichbar wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, NVwZ 2001, 1420 ff.). Ein solcher anderweitiger gleichwertiger Schutz vor Abschiebung liegt in der Person des Klägers vor. Zwar ist er derzeit noch nicht tatsächlich im Besitz einer asylverfahrensunabhängigen Duldung, jedoch liegt eine schriftliche Erklärung der zuständigen Ausländerbehörde vom 8. November 2002 vor, wonach dem Kläger im Falle des negativen Ausgangs des Asylverfahrens aufgrund der aktuellen Lage in Afghanistan eine zunächst auf drei Monate befristete Aufenthaltsduldung gem. § 55 Abs. 2 AuslG erteilt wird.