BGH

Merkliste
Zitieren als:
BGH, Urteil vom 12.12.2002 - III ZR 182/01 - asyl.net: M3067
https://www.asyl.net/rsdb/M3067
Leitsatz:

Amtshaftungsanspruch aufgrund rechtswidriger sofort vollziehbarer Ausweisungsverfügung und darauf basierender Abschiebehaft. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Ausländer, Griechen, Unionsbürger, Selbstständige Erwerbstätigkeit, Freizügigkeit, Aufenthaltserlaubnis, Zeitliche Beschränkung, Aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Ausweisung, Sozialhilfebezug, Abschiebung, Ordnungsverfügung, Rechtmäßigkeit, Widerspruch, Wiedereinsetzungsantrag, Rücknahme, Amtspflichtverletzung, Amtshaftung, Schadensersatz, Rechtsanwälte, Prozessbevollmächtigte, Sorgfaltspflichten, Anwaltsvertrag, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: BGB § 839; AufenthG / EWG § 4 Abs. 3; AuslG § 8 Abs. 2; VwVfG § 48 Abs. 1
Auszüge:

Die Revision hat im Umfang der Annahme Erfolg. Dem Kläger steht gegen die Beklagte in dem vom Landgericht ausgeurteilten Umfang ein Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) zu. Im einzelnen gilt folgendes:

Das Berufungsgericht legt seiner Beurteilung zugrunde, daß die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 3. März 1997 materiell rechtswidrig gewesen ist. Das ist richtig. Es weist insoweit zutreffend darauf hin, daß der Kläger im Zeitpunkt des Erlasses dieser Verfügung ein selbständiges Gewerbe ausübte und keine Leistungen der Sozialhilfe mehr bezog. Ihm war damit als Angehörigem eines Mitgliedstaates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG/EWG Freizügigkeit zu gewähren; er hatte nach § 4 Abs. 1, 2 AufenthG/EWG einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis von mindestens fünf Jahren, wie es 1996 für die Zeit bis zum 5. März 2001 geschehen war. Eine zeitliche Beschränkung der Erlaubnis nach § 4 Abs. 3 AufenthG/EWG kam im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids nicht mehr in Betracht. Auch aus § 12 AufenthG/EWG ergaben sich keine Gründe, den Kläger auszuweisen und abzuschieben.

An dieser Beurteilung sind die Gerichte im Amtshaftungsprozeß nicht wegen der Bestandskraft der Ordnungsverfügung gehindert (vgl. Senatsurteil BGHZ 113, 17,19 f), über deren Rechtmäßigkeit im verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Hinblick auf dessen vergleichsweise Erledigung nicht entschieden worden ist.

Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob die Beklagte im Hinblick auf die im März 1998 eingelegten Rechtsbehelfe des Klägers verpflichtet war, die Ordnungsverfügung vom 3. März 1997 gemäß § 48 VwVfG NW zurückzunehmen. Dies ist zu bejahen.

Ein Amtshaftungsanspruch ist nicht, wie das Berufungsgericht angenommen hat, nach § 839 Abs. 3 BGB ausgeschlossen.

Nach der Rechtsprechung des Senats ist der Begriff des Rechtsmittels im Sinne dieser Bestimmung weit zu fassen. Er umfaßt alle Rechtsbehelfe, die sich unmittelbar gegen die schädigende Amtshandlung oder Unterlassung selbst richten und nach gesetzlicher Ordnung ihre Beseitigung oder Berichtigung bezwecken und ermöglichen (vgl. BGHZ 123,1,7; 137, 11,23). Der Widerspruch gegen die Ordnungsverfügung war das gegebene Rechtsmittel, um sie auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Das Berufungsgericht weist im Ausgangspunkt zwar zu Recht darauf hin, daß der Kläger den Widerspruch erst nach Ablauf der Widerspruchsfrist eingelegt hat. Ob ihm Wiedereinsetzung zu erteilen gewesen wäre oder ob die Versäumung dem Kläger als Verschulden zuzurechnen ist, kann aber offenbleiben. Denn auch im letzteren Fall waren der Widerspruch und das Schreiben vom 5. März 1998, was das Berufungsgericht übersieht, geeignete Rechtsbehelfe, um die Beklagte zu veranlassen, in eine Prüfung über die Rücknahme der Ordnungsverfügung einzutreten. Auch diese Prüfung hätte - wie ausgeführt - zum Ergebnis haben müssen, die Ordnungsverfügung als Grundlage für die Abschiebung zu beseitigen.

Der Senat teilt nicht die Auffassung des Berufungsgerichts, dem Kläger stehe nach § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB eine anderweitige Ersatzmöglichkeit zur Verfügung, weil er seinen damaligen Verfahrensbevollmächtigten wegen Verletzung seiner Pflichten aus dem Anwaltsvertrag in Anspruch nehmen könne. Richtig ist zwar die grundsätzliche Überlegung, daß ein Anwalt verpflichtet ist, den für seinen Mandanten sichersten Weg zu wählen, um dessen Rechte zu wahren und dessen Rechtsansprüche durchzusetzen. Das Berufungsgericht beurteilt jedoch die Frage, ob der Anwalt des Klägers diesen Maßstäben gerecht geworden ist, ohne hinreichende Berücksichtigung der konkreten Situation.

So kann der Senat schon in der Einlegung des mit einem Wiedereinsetzungsantrag verbundenen Widerspruchs kein Verhalten des Anwalts sehen, mit dem er die Interessen seines Mandanten nicht ausreichend wahrnahm. Zwar hatte der Wiedereinsetzungsantrag im Widerspruchsverfahren keinen Erfolg, und das Verwaltungsgericht ließ im Zusammenhang mit seinem Vergleichsvorschlag seine Auffassung durchblicken, der Kläger habe die ihn betreffende Ordnungsverfügung aller Voraussicht nach bestandskräftig werden lassen, so daß die erhobenen Rechtsbehelfe wahrscheinlich keine Aussicht auf Erfolg hätten. Dennoch fehlen Feststellungen, nach denen sich für den Verfahrensbevollmächtigten des Klägers bei seiner Mandatierung - der Kläger befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Polizeigewahrsam - die geringe Erfolgsaussicht dieses Antrags erschließen musste.

Das Berufungsgericht hat es für den sichereren Weg gehalten, dem Kläger zur Beantragung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unter Rücknahme der Ordnungsverfügung zu raten.

Dieses Begehren war jedoch in den beiden für den Kläger angebrachten Rechtsbehelfen ohne weiteres enthalten. Denn hierin wurde die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung mit Umständen bestritten, aus denen sich klar ergab, daß es der Ordnungsverfügung von vornherein an einer tragfähigen Grundlage mangelte. Wäre sie - wie geboten - nach § 48 VwVfG NW zurückgenommen worden, hätte es des vom Berufungsgericht für notwendig erachteten Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht bedurft.

Das Berufungsgericht wirft dem Verfahrensbevollmächtigten des Klägers schließlich vor, er hätte im Wege einstweiligen Rechtsschutzes eine Aussetzung der Abschiebung bis zur Entscheidung über eine Aufenthaltserlaubnis und eine Rücknahme der Ordnungsverfügung erwirken müssen. Hieran ist richtig, daß dann, wenn man die Ausweisungsverfügung als bestandskräftig ansah, ihre Rücknahme ein geeigneter Weg gewesen wäre, den Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik sicherzustellen. Unterließ die Beklagte eine Überprüfung im Rahmen des § 48 VwVfG NW, hätte dem Kläger die Möglichkeit offengestanden, sich gemäß § 123 VwGO mit einem Antrag an das Verwaltungsgericht zu wenden. Bei einer rückschauenden Beurteilung hätte eine solche Antragstellung die Abschiebung am 12. März 1998 möglicherweise verhindern können. Wenn auch nicht zu übersehen ist, daß eine solche Maßnahme durch die zur Sicherung der Abschiebung vorgenommene Inhaftnahme des Klägers nahegelegt sein konnte, sieht der Senat in ihrem Unterlassen unter Würdigung aller Umstände keinen Verstoß gegen die Pflichten aus dem Anwaltsvertrag und keine Grundlage für eine anderweitige Ersatzmöglichkeit für den Kläger.

Der Verfahrensbevollmächtigte des Klägers stand selbst unter hohem Zeitdruck. Mit dem Widerspruch erhob er auch das Rechtsmittel, das ihm gegen die Verfügung zu Gebote stand. Darüber hinaus stellte er die Sachlage so eindrücklich dar, daß er - gerade auch in der nur knapp bemessenen Zeit - davon ausgehen durfte, die Beklagte werde ihre Ordnungsverfügung überprüfen, was ihr angesichts des einfach strukturierten Sachverhalts und des Umstandes, daß ihr in ihrem Bereich alle notwendigen Informationen zugänglich waren, ohne weiteres möglich war. Er mußte daher nicht damit rechnen, daß sich die Beklagte gegen Recht und Gesetz über seinen Vortrag hinwegsetzte und ihre Tätigkeit offenbar als bereits abgeschlossen betrachtete, ehe sie sie überhaupt begonnen hatte. Auch wenn man berücksichtigt, daß die Abschiebehaft des Klägers bis zum 20. März 1998 befristet war, mußte der Verfahrensbevollmächtigte des Klägers nicht in Rechnung stellen, sich bereits vor dem 12. März 1998 - dem Tag der Abschiebung - mit dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung an das Verwaltungsgericht wenden zu müssen.

Daß der Verfahrensbevollmächtigte des Klägers in der knapp bemessenen Zeit noch einen anderen Rechtsbehelf hätte ergreifen können, um die Beklagte von einer Aussetzung der Vollziehung abzuhalten, ist angesichts ihres Verhaltens nicht erkennbar.