VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.07.2002 - A 12 S 1090/00 - asyl.net: M3107
https://www.asyl.net/rsdb/M3107
Leitsatz:

Auch nach Ablehnung des Dorfschützeramtes besteht für Kurden grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative in der Westtürkei; sippenhaftähnliche Gefährdung wegen exilpolitischer Betätigung eines Familienangehörigen nur, wenn diese Betätigung ein vergleichbares Gewicht wie eine militante staatsfeindliche Betätigung in der Türkei aufweist, was bei einer Leitungsfunktion an zentraler Stelle des kurdischen Widerstands der Fall ist (Bestätigung der st. Rspr. des Senats).(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Gruppenverfolgung, Dorfschützer, Desertion, PKK, Verdacht der Unterstützung, Interne Fluchtalternative, Westtürkei, Verfolgungssicherheit, Fahndungslisten, Haftbefehl, Registrierung, Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Nachfluchtgründe, Sippenhaft, Ehefrau, Exilpolitische Betätigung, Medienberichterstattung, Media-TV
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Bei dem Kläger liegen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht vor.

Er hat vorgetragen, dass er das im (...) übernommene Dorfschützeramt im

(...) aufgegeben habe, indem er seine Waffe bei dem Dorfvorsteher abgegeben habe und sodann nach (...) geflohen sei, von wo aus er das Land im (...) über (...) verlassen habe. Unabhängig von der Frage, ob der Kläger nach der Aufgabe des Dorfschützeramtes asylrelevante Maßnahmen konkret zu befürchten hatte, fehlt es jedenfalls an einer landesweiten individuellen Vorverfolgung; denn ihm war eine inländische Fluchtalternative eröffnet, an der er vor politischer Verfolgung hinreichend sicher war und ihm auch keine sonstigen vergleichbaren Nachteile und Gefahren drohten.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats steht kurdischen Volkszugehörigen in der westlichen Türkei, insbesondere in den dortigen Großstädten, eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung (siehe die vorab mitgeteilten Senatsurteile, insbesondere die Urteile vom 22.07.1999 - A 12 S 1891/97 - und vom 13.09.2000 - A 12 S 2112/99 -, sowie zuletzt das Urteil vom 27.07.2001 - A 12 S 228/99 -). Der Senat befindet sich damit in Übereinstimmung mit der aktuellen Beurteilung durch die Oberverwaltungsgerichte und trägt nicht zuletzt dem gebotenen Interesse einer einheitlichen Würdigung desselben Lebenssachverhalts Rechnung.

Die danach gegebene inländische Fluchtalternative entfällt nicht allein deshalb, weil sich ein Kurde dem Dorfschützeramt entzogen hat, indem er es abgelehnt hat, dieses Amt zu übernehmen oder es nach Bereitschaftserklärung nicht angetreten oder nach Übernahme wieder aufgegeben hat (vgl. Senatsurteile vom 02.12.1996 - A 12 S 3481/95 -, vom 02.07.1998 - A 12 S 3033/96 -, letzteres unter Abgrenzung zu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 03.06.1997 - 25 A 3632/95.A -, vom 22.11.1999 - A 12 S 1013/97 -, vom 23.03.2000 - A 12 S 2281/98 - und vom 13.07.2000 - A 12 S 1096/99 -; vgl. auch OVG Saarland., Urteile vom 14.02.2001 - 9 R 4/99 - und vom 29.03.2000 - 9 R 3/99 -; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 29.04.1999 - A 1 S 155/97 -; Sächsisches OVG, Urteil vom 27.02.1997 - A 4 S 434/96 -; Hessischer VGH, Urteil vom 05.05.1997 -12 UE 500/96 -; Niedersächsisches OVG, Urteil vom 26.11.1998- 11 L 3099/96 -). Hieran hält der Senat auch in Ansehung der Fortführung der Rechtsprechung des OVG Nordrhein-Westfalen (Urteil v. 25.01.2000 - 8 A 1292/96.A -; Beschluss vom 30.01.2001 - 8 A 5803/00.A -) und der zwischenzeitlich eingegangenen Erkenntnismittel fest (vgl. Urteil vom 07.05.2002 - A 12 S 196/00 -).

Der Senat ist weiterhin der Auffassung, dass allein die Ablehnung des Dorfschützeramtes bei den örtlichen Behörden allenfalls zu einem allgemeinen Verdacht der Sympathie für die PKK, nicht aber zu einem konkreten Verdacht der Unterstützung der PKK und nicht zur Aufnahme in eine landesweite Fahndungsliste führt und dem Betroffenen im Falle seiner Abwanderung oder seiner Rückkehr jedenfalls im Westen der Türkei keine asylrelevanten Nachteile drohen. Zu dieser Einschätzung trägt wesentlich bei, dass das Interesse des Staates maßgeblich gerade darin liegt, dass durch eine Loyalitätsüberprüfung und das gegebenenfalls daraus folgende Verlassen des Gebietes eine klarere Einschätzung der Lage, auch im Hinblick auf das militärische Vorgehen, ermöglicht werden soll. Dem wird durch Wegzug aller derjenigen, die sich nicht erkennbar gegen die PKK eingestellt zeigen, aus der Heimatregion genügt (vgl. dazu Senatsurteil vom 02.07.1998, a.a.O.).

Zwar erscheint es als vorrangiges Ziel des Drucks, Dorfschützer zur direkten Abwehr der Guerillas zu gewinnen. Zielrichtung des Zwangs bei der Gewinnung von Dorfschützern ist es jedoch auch, die Loyalität von Betroffenen zu testen, sei es dadurch, dass ein "Neutraler" gezwungen wird, Haltung für den Staat zu beziehen, oder dass er sich entschließt, nach der Verweigerung durch Flucht in die Berge zur PKK seinen Standpunkt zu erkennen zu geben.

Da bekannt ist, dass die PKK auch unfreiwillige Dorfschützer als Verräter bestraft, wird dabei auch beabsichtigt, mindestens in Kauf genommen, dass Neutrale keine andere Möglichkeit sehen, als das Gebiet zu verlassen. Damit wird der Entsiedlung, die das Ziel hat, der PKK die logistische Unterstützung zu entziehen, gedient (Senatsurteil vom 02.07.1998, a.a.O., m.w.N.; s.a. Kaya, 24.06.1995 an VG München, 14.12.1998 an VG Braunschweig und 22.12.2000 an VG Sigmaringen; Rumpf, 01.02.1998 an VG Berlin; Rat der EU-Delegation des Vereinigten Königreiches an Cirea vom 30.08.2001).

Dass sich die Sicherheitskräfte damit begnügen, zeigt die Erkenntnislage, wonach in den Westen abgewanderte "Dorfschützerverweigerer" dort nicht gesucht und zur Rückkehr und Annahme der Dorfschützerposition gebracht werden sollen. Den vorliegenden Erkenntnisquellen (vgl. Oberdiek, 26.05.1995 an VG München, 14.03.1997 an VG Berlin und 02.04.1997 an OVG Mecklenburg-Vorpommern; Kaya, 11.04.1995 an VG Aachen und 24.06.1995 an VG München; ai, 21.08.1997 an VG Berlin) lässt sich zwar entnehmen, dass in einer großen Zahl von Fällen kurdische Bewohner des Ostens der Türkei u.a. mit Hilfe des Drucks, das Dorfschützeramt zu übernehmen, zur Abwanderung in den Westen der Türkei gedrängt worden sind; genügende Anhaltspunkte dafür, dass sie dort nicht hinreichend sicher wären, sind jedoch nicht gegeben.

Zu berücksichtigen ist schließlich, dass die Ablehnung des Dorfschützeramtes grundsätzlich keine strafrechtlichen Sanktionen nach sich zieht, so dass gegen die Betreffenden auch kein Haftbefehl erlassen und keine Fahndung eingeleitet wird (Auswärtiges Amt, 01.09.1995 an VG Würzburg, 15.11.1996 an VG Stuttgart und 07.04.1997 an OVG Mecklenburg-Vorpommern; Kaya, 30.11.1995 an VG Freiburg; Rumpf, 01.02.1998 an VG Berlin). Nichts anderes gilt für Dorfschützer, die ohne ordnungsgemäße Kündigung aus dem Amt ausscheiden (Auswärtiges Amt, 02.11.1995 an VG Karlsruhe). Dies gilt jedenfalls dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - die übergebene Waffe zurückgegeben worden ist (vgl. Kaya, 02.05.2001 an VG Bremen; s.a. OVG Saarland, Urteil vom 14.02.2001, a.a.O).

Es bestehen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Verweigerer des

Dorfschützeramtes - unabhängig davon, ob sie kurzfristig inhaftiert worden sind - bei den jeweiligen örtlichen Polizeibehörden im Südosten der Türkei in einer Weise registriert sind, dass sie bei einer Nachfrage durch Sicherheitsbehörden aus dem Westen mit menschenrechtswidriger Behandlung zu rechnen hätten.

Bei der Rückkehr in die Türkei droht dem Kläger auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit individuelle politische Verfolgung. Zurückkehrende kurdische Asylbewerber sind grundsätzlich, sofern in ihrer Person keine Besonderheiten vorliegen, bei ihrer Einreise in die Türkei sogar hinreichend sicher davor, an der Grenze oder auf dem Flughafen asylrelevanten staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein. Besonderheiten lassen sich im Falle des Klägers nicht feststellen.

Nichts anderes gilt in Ansehung des jüngsten Lageberichts vom 20.03.2002. Dort teilt das Auswärtige Amt nun - gleichsam abschließend - mit (S. 44 f.), dass es in den vergangenen Jahren stets Fällen, in denen Behauptungen von Misshandlung oder Folter in die Türkei abgeschobener Personen (vor allem abgelehnter Asylbewerber) konkret vorgetragen worden seien, im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten durch eigene Nachforschungen durch die Auslandsvertretungen in der Türkei nachgegangen sei. In den meisten Fällen habe der Sachverhalt nicht zuverlässig aufgeklärt werden können. In vielen Fällen habe das Auswärtige Amt erhebliche Zweifel an der behaupteten Folter oder Misshandlung. Gleichwohl gehe es davon aus, dass es ganz vereinzelt Fälle gegeben habe, in denen abgeschobene Personen misshandelt worden seien bzw. bei denen eine Misshandlung nicht ausgeschlossen werden könne; Misshandlung oder Folter nur aufgrund der Tatsache, dass in Deutschland Asylantrag gestellt worden sei, schließe es allerdings aus. Bezüglich Abschiebungen, die nach Oktober 2000 stattgefunden hätten, seien an das Auswärtige Amt nur noch ganz vereinzelt Fälle herangetragen worden, in denen Misshandlung oder Folter abgeschobener Asylbewerber behauptet oder vermutet worden sei; insgesamt habe es sich dabei um sechs Fälle gehandelt. Das Auswärtige Amt habe auch in diesen Fällen Nachforschungen angestellt. Eine Misshandlung bei Einreise oder nach Einreise habe bei diesen wenigen Fällen nicht festgestellt werden können. Auch im Übrigen geben die Ausführungen des Auswärtigen Amtes in den Lageberichten vom 24.07.2001 und 20.03.2002 sowie die sonstigen bekannt gewordenen und zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel dem Senat keine Veranlassung, seine bisherige Rechtsprechung zu ändern.

Der Senat hält vielmehr an seiner bisherigen Überzeugung fest, dass - unabhängig von den Problemen einer verlässlichen Feststellung der berichteten Geschehnisse und des Vorliegens der diese möglicherweise maßgeblich erst auslösenden besonderen Umstände - die Zahl der Fälle, bei denen aus Deutschland in die Türkei zurückkehrende Personen einer über die Routinebefragung hinaus gehenden Behandlung durch Sicherheitskräfte unterzogen worden sind, angesichts der hohen Zahl der Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber nicht den Schluss auf eine beachtliche Rückkehrgefährdung kurdischer Asylbewerber zulässt.

Besonderheiten ergeben sich nicht im Hinblick darauf, dass der Kläger seine Tätigkeit als Dorfschützer aufgegeben hat. Es ist nicht festzustellen, dass bei der Wiedereinreise, etwa über einen Flughafen, anders als bei der oben dargelegten Situation der inländischen Fluchtalternative, nunmehr ein hinreichender Grund für die Annahme einer gesteigerten Verfolgungsgefahr gegeben wäre (vgl. auch Senatsurteil vom 02.07.1998, a.a.O.).

Besonderheiten - unter dem Gesichtspunkt der Srppenhaft - ergeben sich schließlich nicht aus dem Vorbringen des Klägers, seine Ehefrau habe an einer Veranstaltung teilgenommen, über die in der Heilbronner Stimme vom xxxxxxxxxx berichtet worden sei, und sei am xxxxxxxxxx in einer Sendung von Medya- TV aufgetreten, woraufhin am nächsten Tag das Haus ihrer Mutter in xxxxxxxxxxx überfallen worden sei.

Die Gefahr sippenhaftähnlicher Maßnahmen aufgrund von in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführten exilpolitischen Aktivitäten von Angehörigen kann nicht schon dann angenommen werden, wenn die exilpolitische Betätigung in der Bundesrepublik als exponiert einzustufen ist (s. Senatsurteil vom 05.04.2001 - A 12 S 198/00 -; Senatsbeschluss vom 23.10.2000 - A 12 S 1959/99 -; OVG Nordrhein- Westfalen, Urteil vom 25.01.2000 - 8 A 1292/96.A-, RdNr. 374). Vielmehr kommt insoweit die Gleichstellung eines exilpolitisch Aktiven mit einem aufgrund einer Betätigung in der Türkei per Haftbefehl gesuchten "PKK-Aktivisten" nur dann in Betracht, wenn die verfolgungsauslösende exilpolitische Betätigung im Bundesgebiet der Sache nach ein vergleichbares politisches Gewicht aufweist wie eine militante staatsfeindliche Betätigung in der Türkei selbst (Senatsurteil vom 05.04.2001 -A 12 S 198/00-; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25.01.2000, a.a.O.). Davon ist erst dann auszugehen, wenn die betreffende Person in Deutschland eine politische Leitungsfunktion an zentraler Stelle des kurdischen Widerstands ausübt (OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.; Senatsurteil vom 27.07.2001 - A 12 S 228/99 -). Dies kann mit Blick auf die Demonstrationsteilnahme der Ehefrau des Klägers und ihren Auftritt in einer Sendung von Medya-TV - unabhängig davon, dass sie dadurch nicht in exponierter Weise hervorgetreten sein dürfte - ersichtlich nicht festgestellt werden.