VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 05.08.2002 - 12 UE 2172/99.A - asyl.net: M3182
https://www.asyl.net/rsdb/M3182
Leitsatz:

Seit Anfang 2002 keine Gruppenverfolgung allein wegen kurdischer Volkszugehörigkeit in der Türkei mehr; ein kurdischer Volkszugehöriger ist grundsätzlich bei der Einreise keiner asylerheblichen Verfolgung ausgesetzt; zur sippenhaftähnlichen Gefährdung; hinreichende Gefährdung wegen exilpolitischer Betätigung nur bei exponierten Regimegegnern (umfangreiche Entscheidung mit vielen grundlegenden Ausführungen zum Kurdenkonflikt).(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Sympathisanten, Festnahme, Misshandlungen, Folter, Glaubwürdigkeit, Gruppenverfolgung, Zwangsassimilierung, Separatismus, Vertreibung, Politische Entwicklung, Nachfluchtgründe, objektive Nachfluchtgründe, Notstandsgebiete, örtlich begrenzte Gruppenverfolgung, Bürgerkrieg, Guerilla, Gegenterror, Interne Fluchtalternative, Verfolgungssicherheit, Razzien, Übergriffe, Existenzminimum, Todesschwadrone, Hizbollah, Kontra-Guerilla, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Zurechenbarkeit, Schutzbereitschaft, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Innenministerbriefwechsel, Familienangehörige, Bruder, Asylberechtigte, Sippenhaft, Subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, mesopotamischer Kulturverein, Überwachung im Aufnahmeland, Demonstrationen, Hungerstreik
Normen: GG Art 16a Abs. 1; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat die auf Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung und Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG gerichtete Klage zu Recht abgewiesen.

Die Klägerin, an deren kurdischer Volkszugehörigkeit der Senat Zweifel hat, hat in der Türkei bis zu ihrer Ausreise im September 1992 wegen ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe keine politische Verfolgung erlitten. Nach den Feststellungen des Senats war die Bevölkerungsgruppe der Kurden in der Türkei bis zu diesem Zeitpunkt allgemein dem türkischen Staat zurechenbarer Verfolgung nicht ausgesetzt.

Die Maßnahmen des türkischen Staates in den kurdischen Siedlungsgebieten, insbesondere in den Notstandsgebieten im südöstlichen Grenzgebiet, richteten sich bis zur Ausreise der Klägerin im September 1992 im wesentlichen gegen die Kampfaktionen der PKK. Der Senat hat dazu schon früher festgestellt, dass anlässlich dieser Maßnahmen gehäuft vorkommende illegale oder sogar menschenrechtswidrige Übergriffe auf Zivilpersonen nicht zu der Annahme einer allgemeinen und landesweiten Verfolgung der Kurden in Anknüpfung an ihre Volkszugehörigkeit führten (vgl. Hess. VGH, 23.11.1992 - 12 UE 2590/89 -). Erkenntnisse, die Anlass geben könnten, diese Einschätzung neu zu überdenken, liegen für den hier maßgeblichen Zeitraum nicht vor (vgl. Hess. VGH, 24.01.1994 -12 UE 200/91 -; 19.01.1998 -12 UE 1624/95 -, 27.03.2000 -12 UE 583/99.A -; zuletzt 04.03.2002 - 12 UE 2545/00.A -).

Es kann aufgrund der Angaben der Klägerin zu ihrem Asylantrag vor dem Bundesamt sowie aufgrund ihrer Erklärungen bei der Anhörung vor dem Verwaltungsgericht und aufgrund ihrer Aussagen im Rahmen der Vernehmung im Berufungsverfahren nicht festgestellt werden, dass sie aus individuellen Gründen vor ihrer Ausreise politische Verfolgung erlitten hat oder ihr eine solche vor der Ausreise unmittelbar bevorstand.

Den Angaben der Klägerin in ihrer Vernehmung im Berufungsverfahren, sie sei bei den Sicherheitsbehörden wegen Unterstützung der PKK registriert und vier Mal jeweils zwischen zwei und drei Tagen in Untersuchungshaft gewesen, kann nicht geglaubt werden. Denn dieser Vortrag der Klägerin ist in sich nicht stimmig und teilweise auch gegenüber ihren Vorbringen im Verwaltungsverfahren gesteigert, ohne dass es eine plausible Erklärung hierfür gibt.

Als glaubhaft angesehen und festgestellt werden kann lediglich, dass die Klägerin vor ihrer Ausreise in ihrem Dorf - weil sie der logistischen Unterstützung der PKK verdächtigt worden war - auf die Wache mitgenommen und dort zwei Tage festgehalten worden ist. Es kann der Klägerin auch geglaubt werden, dass sie hierbei geschlagen und - wie von ihr in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt geschildert - sonst misshandelt worden ist. Diese Maßnahmen der türkischen Sicherheitskräfte brachten die Klägerin aber nicht landesweit in eine aussichtslose Lage, vielmehr konnte sie in (...) leben, ohne weiter von den Sicherheitskräften verfolgt zu werden.

Die somit unverfolgt ausgereiste Klägerin kann ihre Anerkennung als Asylberechtigte auch nicht aufgrund eines im Sinne von § 28 AsylVfG beachtlichen Nachfluchtgrundes verlangen.

Zwar ist festzustellen, dass der Bevölkerungsgruppe der Kurden in den Notstandsprovinzen der Türkei in der Zeit etwa zwischen Mitte 1993 und Anfang 2002 politische Verfolgung in der Form der örtlich begrenzten Gruppenverfolgung gedroht hat. Die Klägerin, die nicht aus einer der Notstandsprovinzen stammt oder dort gelebt hat, gehört jedoch nicht zu dieser von der Gruppenverfolgung bedrohten Gruppe. Unabhängig davon ist der Senat zu dem Ergebnis gelangt, dass etwa seit Beginn des Jahres 2002 eine Gruppenverfolgung kurdischer Volkszugehöriger generell nicht mehr festgestellt werden kann.

Kurdische Volkszugehörige haben grundsätzlich auch die Möglichkeit, ihr Heimatland Türkei zu erreichen, ohne an der Landesgrenze oder am Flughafen der Gefahr asylrelevanter Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein.

Auch in ihrer individuellen Situation kann die Klägerin zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats in die Türkei zurückkehren, ohne mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung befürchten zu müssen.

Im Jahr 1993 wurden im Südosten der Türkei etwa zwei Drittel der Streitkräfte der türkischen Armee einschließlich 80 % der Panzer- und Helikoptereinheiten stationiert, denen etwa 10.000 PKK-Kämpfern gegenüberstanden (KA 38, 45). Die Situation wurde mittlerweile zumindest als bürgerkriegsähnlich charakterisiert (KA 32), wobei die PKK in bestimmten Bergregionen im Südosten und Osten der Türkei sogar schon effektive Gewalt ausübte (KA 54).

Im Zuge der präventiven Bekämpfung von PKK-Einheiten durch türkische Sicherheitskräfte wurden zunehmend unbeteiligte Bewohner in terrorgefährdeten Gebieten der Südosttürkei erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung geschahen häufig bei Dorf- und Räumungsaktionen; dabei kam es auch zu zahlreichen Misshandlungen von Zivilpersonen durch Sicherheitskräfte (KA 55).

Insgesamt verschärfte sich die Menschenrechtslage in den kurdischen Provinzen der Türkei unter der Regierung Ciller. Die Verschleppung und Ermordung von Menschen, teils durch uniformiert auftretende offizielle Sicherheitskräfte, aber auch durch die PKK nahm erschreckende Ausmaße an (KA 56). Die Regierung setzte entgegen einer im Koalitionsprotokoll vom 24. Juni 1993 erklärten Absicht einseitig auf eine militärische Lösung, die staatlichen Handlungen in den Notstandsprovinzen des Südostens und Ostens der Türkei nahmen in der Folge insgesamt den Charakter eines Guerilla-Bürgerkriegs an.

Diese Situation im Südosten der Türkei ab Mitte 1993 war zur Überzeugung des Senats als eine gegen die Kurden als Gruppe in den Notstandsprovinzen gerichtete staatliche Verfolgung, die an ihre Volkszugehörigkeit und damit an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfte, zu bewerten.

Diese Voraussetzungen sind nach Einschätzung des Senats seit etwa Mitte 1993 festzustellen und dauerten in den Notstandsgebieten bis etwa Anfang des Jahres 2002 an. Die Aktionen der Sicherheitskräfte waren jedenfalls seit dieser Zeit bei einer Vielzahl von Angriffen bewusst auch gegen die kurdische Zivilbevölkerung in diesen Gebieten gerichtet und gingen über das hinaus, was im Interesse der Wiederherstellung der staatlichen Friedensordnung notwendig war. Zusammenfassend ist danach festzustellen, dass einem kurdischen Volkszugehörigen, der in dem Zeitraum von Mitte 1993 bis Anfang 2002 in den Notstandsprovinzen des Südostens der Türkei lebte, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung durch Aktionen der türkischen Sicherheitskräfte drohte, da Angriffe der Sicherheitskräfte gezielt auch die Zivilbevölkerung in Anknüpfung an ihre kurdische Volkszugehörigkeit wahllos trafen, um diese von einer gerade aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit für möglich gehaltenen Unterstützung der PKK abzuhalten (a.A. z. B. VGH Baden-Württemberg, 22.07.1999 - A 12 S 1891/97 -; OVG Nordrhein-Westfalen, 25.10.2000 - 8 A 1292/96.A-; offengelassen z. B. von OVG Hamburg, 01.09.1999 - 5 Bf 2/92.A - und NiedersächsischesOVG, 28.01.1999 - 11 L 2551/96 -). Gegen diese Annahme spricht nicht, dass sich die Lage in städtischen Gebieten anders darstellte als auf dem Lande und insbesondere in Grenznähe. Schon wegen der stärkeren Präsenz der Sicherheitskräfte und der Anwesenheit nichtkurdischer Bewohner erübrigten und verboten sich dort militärische Aktionen größeren Stils; dafür waren dort vermehrt repressive Maßnahmen wie willkürliche Festnahmen festzustellen. Wie bereits ausgeführt, ist es auch unerheblich, dass es in der hier maßgebenden Region einzelne Kurden gab, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen und sozialen Stellung oder ihrer Einbindung in den Staat von diesen Aktionen nicht betroffen waren und im wesentlichen unbehelligt leben konnten; denn für diese wäre dann gegebenenfalls die Verfolgungsvermutung als widerlegt anzusehen.

Aus diesen Feststellungen zum Kreis der von der Gruppenverfolgung betroffenen Personen folgt, dass es sich hier nicht um eine regionale, sondern um eine örtlich begrenzte Gruppenverfolgung im Sinne der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts handelte (dazu BVerwG, 09.09.1997 - 9 C 43.96 -, a.a.O.; BVerwG, 30.04.1996 - 9 C 171.95 -, a.a.O.).

Ein kurdischer Volkszugehöriger konnte aber in der Türkei in dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin leben, ohne dass ihm politische Verfolgung drohte, wenn er sich außerhalb der Notstandsprovinzen, vor allem in den Großstädten Ankara und Istanbul, niederließ (vgl. Hess. VGH, 23.11.1992 - 12 UE 2590/89 -,24.01.1994 - 12 UE 200/91 -, zuletzt 04.03.2002 - 12 UE 2545/00.A).

Im Falle einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung stellt sich anders als bei einer regionalen Gruppenverfolgung nicht die Frage nach einer zumutbaren inländischen Fluchtalternative (vgl. BVerwG, 30.04.1996 - 9 C 171.95 -, BVerwGE 101,134 = EZAR 203 Nr. 8; BVerwG, 09.09.1997 - 9 C 43.96 -, BVerwGE 105,204 = EZAR 203 Nr. 11; BVerwG, 08.03.2000 - 9 B 620.99 -). Da Grundlage für die Relevanz einer inländischen Fluchtalternative und deren Voraussetzungen die Überlegung ist, dass ein von regionaler politischer Verfolgung betroffener Bürger eines Staats erst dann politisch Verfolgter ist, wenn er dadurch landesweit in eine ausweglose Lage gerät, weil er in anderen Teilen seines Heimatlandes eine zumutbare Zuflucht nicht finden kann, ist im Unterschied zur regionalen Verfolgung bei örtlich begrenzter Verfolgung die Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung außerhalb des örtlich begrenzten Verfolgungsgebiets schon dem Begriff nach nahezu ausgeschlossen. Da nämlich die Verfolgung von vornherein strikt auf bestimmte Gebiete begrenzt ist und der Verfolgerstaat nicht nur aufgrund von Praktikabilitätsüberlegungen von der Verfolgung in einem anderen Gebiet absieht, sind Verfolgungen dort nicht wahrscheinlich; denn anders als bei regionaler Verfolgung hat der Staat die verfolgte Gruppe nicht landesweit in den Blick genommen und lässt sie nicht nur aus opportunistischen oder ähnlichen Gründen im übrigen Staatsgebiet unbehelligt. Bei einer Person, die zwar der ethnisch, religiös oder sonst abgegrenzten Gruppe angehört, jedoch nicht zu der Personengruppe zu rechnen ist, die örtlich begrenzt verfolgt wird, kann deshalb von vornherein angenommen werden, dass sie ohne Gefahr kollektiver Verfolgung in ihrer Heimatregion oder sonst außerhalb des Verfolgungsgebiets leben kann. Auf die Möglichkeit eines nicht von existenziellen Risiken anderer Art bedrohten Lebens kommt es für sie nicht an (grundsätzlich hierzu: Hess. VGH, 07.12.1998 - 12 UE 2091/98.A -; vgl. auch Hess. VGH, 27.01.1999 - 6 UE 1253/96.A -). Offenbleiben kann dabei, ob es für die aus dem Verfolgungsgebiet stammenden und daher der Gruppenverfolgung unterliegenden Personen ebenfalls nicht hierauf ankommt (ebenso schon Hess. VGH, 07.12.1998 -12 UE 232/97.A -; Hess. VGH, 31.01.2000 - 12 UE 176/99.A -; Hess. VGH, 27.03.2000 - 12 UE 1562/99.A -; zuletzt 04.12.2000 - 12 UE 968/99.A -), da zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin Kurden, soweit sie in ihrer Heimat allenfalls der marginalen Unterstützung der PKK verdächtig waren, ohne sich aktiv und hervorgehoben für separatistische Bestrebungen einzusetzen, insbesondere in der Westtürkei grundsätzlich unbehelligt leben und dort auch eine hinreichende Existenzmöglichkeit finden konnten.

Bei einer Rückkehr in die Türkei hat die Klägerin eine gruppenbezogene Verfolgung nicht zu befürchten; denn nach den Feststellungen des Senats hat sich die Lage im Südosten der Türkei in den letzten Monaten so verändert, dass eine Gruppenverfolgung kurdischer Volkszugehöriger seit etwa Beginn des Jahres 2002 nicht mehr angenommen werden kann. Damit kann der Klägerin als kurdischer Volkszugehörigen ohne Weiteres die Rückkehr in ihre Heimatregion oder in andere Gebiete in der Türkei ohne Gefahr einer Verfolgung zugemutet werden; auf das Bestehen einer zumutbaren inländischen Fluchtalternative und die Möglichkeit, dort das notwendige Existenzminimum zu erzielen, kommt es insoweit nicht (mehr) an.

Seit der Verhaftung und Verurteilung Öcalans zeichnen sich einige Veränderungen in der Kurdenpolitik ab. So wurde das noch in fünf Provinzen bestehende Notstandsrecht zum 1. Dezember 1999 auch in der Provinz Siirt aufgehoben (KA 211). Zum 30. Juni 2002 war die Aufhebung des Notstandsrechts für die Provinzen Hakkari und Tunceli geplant (KA 216), in absehbarer Zeit sollen die dann noch unter Notstandsrecht stehenden Provinzen Diyarbakir und Sirnak folgen (KA 216).

Die Drangsalierung der kurdischen Bevölkerung, wenn diese die Unterstützung verweigert oder gar den türkischen Staat aktiv unterstützt haben (KA 111, 114, 118, 134) und von der Dorfschützer sowie ihre Familien, Sicherheitsbeamte, Staatsanwälte, Richter und Lehrer besonders betroffen (KA 134) waren, hat offenbar nachgelassen.

Nach der Verhaftung Öcalans am 16. Februar 1999 und seiner Inhaftierung in der Türkei

kam es zu einer Welle von Festnahmen im ganzen Land, wobei hauptsächlich Mitglieder und Anhänger der HADEP sowie Gewerkschaften betroffen waren. Etwa 3.000 Personen sollen nach Angaben des IHD vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen worden sein, davon allein 1.400 in Diyarbakir (KA 193).

Weiterhin kommt es bei solchen Polizeirazzien mit zahlreichen vorläufigen Festnahmen in Großstädten im westlichen oder südlichen Teil der Türkei zu Übergriffen seitens der Sicherheitskräfte (KA 1932).

Auch nach den zwischenzeitlichen Reformen wie der Erhöhung des Strafmaßes für Folter in Polizeihaft aufgrund eines am 10. August 1999 vom Rechtsausschuss des türkischen Parlaments verabschiedeten Gesetzes gewinnt die strafrechtliche Aufklärung und Ahndung von Übergriffen nur langsam an Konsequenz.

Auch nach 1999 bleibt die Situation in der Türkei immer wieder von dem verschärften Vorgehen staatlicher Organe gegen Oppositionelle und insbesondere Kritiker der Kurdenpolitik der Regierung geprägt.

Insgesamt 13 Medien wurden bis Anfang 2001 verboten (KA 171), darunter das seit Mai 2000 existierende prokurdische Blatt Yeni Gündem.

Insbesondere Menschenrechtsaktivisten müssen auch weiterhin mit Verhaftungen rechnen.

Immer wieder werden Maßnahmen gegen führende HADEP-Mitglieder durchgeführt.

Auch an dem Vorgehen gegen Journalisten hat sich nichts Wesentliches geändert. Der türkische Menschenrechtler Akin Birdal wurde zu einer einjährigen Haftstrafe wegen "separatistischer Äußerungen" verurteilt und musste diese im Juni 1999 trotz der nach einem Attentat verbliebenen erheblichen Gesundheitsschäden antreten.

Die Autorin und der Herausgeber eines Buches über die Erfahrungen türkischer Soldaten im Kampf gegen PKK-Rebellen wurden in einem Gerichtsverfahren wegen des Vorwurfs der Herabsetzung der Streitkräfte (KA 136) zwar freigesprochen, die Anklage wollte allerdings Revision einlegen (KA 183). Im August 2000 wurden sechs als prokurdisch bzw. linksgerichtet bezeichnete Journalisten verhaftet und Sendesperren über drei Radiosender sowie eine Fernsehstation verhängt (KA 1801).

Anfang Februar 2002 wurde gegen die Filiale des Türkischen Menschenrechtsvereins (TIHV) in Diyarbakir Anklage wegen § 526 tStGB (Ungehorsam gegen die Anordnungen zuständiger

Behörden) erhoben, weil ein Behandlungszentrum für Folteropfer ohne die erforderliche

Genehmigung zum Betrieb eines Krankenhauses eröffnet worden sei (KA 211).

Die nach wie vor auch im Westen feststellbaren Übergriffe (KA 115, 116, 193) rechtfertigen aber weiterhin nicht die Annahme, Kurden seien in der Westtürkei generell von asylrechtsrelevanten staatlichen Verfolgungsmaßnahmen bedroht. Auch die Festnahme und Verurteilung Öcalans im Jahr 1999 bewirkten keine grundsätzliche Änderung der Situation. Die Fortsetzung der Auseinandersetzungen zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der PKK nach dem Rückzugsangebot 1999 (KA 100,103, 112, 137, 138, 193), führten zu keinen andauernden Rückwirkungen auf das allgemeine Verhältnis zu der kurdischen Bevölkerung außerhalb der Notstandsgebiete. Die danach festzustellenden Verhaftungswellen im Westen der Türkei betrafen insbesondere Mitglieder der HADEP (KA 131, 132,133, 193), nach deren Angaben im November 1998 ca. 2000 Mitglieder in Polizeigewahrsam verbracht wurden (KA 173). Im Übrigen handelt es sich meist um Verhaftungen anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes Newroz oder um sonst anlassbezogene Maßnahmen, wie beispielsweise im Vorfeld der türkischen Parlaments- und Kommunalwahlen vom 18. April 1999 (KA 132) oder die Festnahme von 50 Frauen bei einer prokurdischen Kundgebung in Istanbul, weil sie eine Presseerklärung in kurdischer Sprache abgeben wollten (KA 196). In Istanbul wurden im März 2002 100 Kurden festgenommen, die für kurdischsprachigen Unterricht demonstriert hatten (KA 214).

Es lässt sich aber nach wie vor nicht feststellen, dass Kurden allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit verhaftet, verhört und gefoltert werden. Aus den zwischenzeitlich recherchierten Fällen ergibt sich zwar weiterhin, dass im Südosten geborene und/oder von dort kürzlich zugezogene Personen leichter als andere Staatsangehörige in den Verdacht geraten, "Separatisten" zu sein, mit "Separatisten" zu sympathisieren oder Mitglied einer bewaffneten Bande zu sein (KA 193). Nach wie vor kommt es zu längerdauernder Verhaftung und asylrechtlich relevanten Beeinträchtigungen - von einzelnen Fällen abgesehen - in aller Regel jedoch nur bei Vorliegen entsprechender Verdachtsmomente, auch wenn diese bis heute häufig als vage und willkürlich erscheinen oder auf nicht rechtsstaatliche Weise erlangt wurden. In der Zahl der zwischenzeitlich ermittelten Fälle (KA 79, 119, 131, 193) ist auch heute festzustellen, dass bei den länger Inhaftierten individuell begründete Verdachtsmomente vorlagen, wie beispielsweise die HADEP-Mitgliedschaft oder bei Verwendung kurdischer Farben und/oder Symbole, dem Singen kurdischer Lieder und ähnliche Begebenheiten wie beispielsweise das Spielen einer kurdischen Musikgruppe (KA 164). Ein Zusammenhang besteht oft auch mit früherenVerhaftungen von Freunden, Bekannten oder Verwandten, so dass - möglicherweise unter Folter erzwungene - Denunziationen der Anlass hierfür sein können.

Für die ungeklärten politischen Morde werden von Menschenrechtsorganisationen und kurdennahen Oppositionskreisen Todesschwadronen verantwortlich gemacht, bezeichnet als "Kontra-Guerilla" oder "Hizbollah", die über enge Verbindungen zum staatlichen Sicherheitsapparat verfügen sollen. Seitens türkischer Menschenrechtsgruppen wird den Strafverfolgern eine bewusste Verschleppung der Ermittlungen vorgeworfen, ein zur Aufklärung dieser Morde eingesetzter parlamentarischer Untersuchungsausschuss beendete seine Arbeiten jedoch ergebnislos.

Im Jahr 2001 ist die Hizbollah nicht mehr deutlich in Erscheinung getreten (KA 211).

Es fehlen auch weiterhin genügende Anhaltspunkte dafür, dass Ausschreitungen und Übergriffe Privater vom türkischen Staat veranlasst oder geduldet werden.

Da Kurden demnach in der gesamten Türkei zum Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats grundsätzlich verfolgungsfrei leben können, sind Feststellungen zu der Frage, ob sie im Bereich außerhalb der unter Notstandsrecht stehenden Provinzen die für eine bescheidene Lebensführung ausreichende wirtschaftliche und finanzielle Grundlage schaffen können, entbehrlich.

Ein kurdischer Volkszugehöriger hat grundsätzlich die Möglichkeit, sein Heimatland Türkei zu erreichen, ohne dass ihm die Gefahr droht, an der Landesgrenze oder am Flughafen asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein.

Auch nach neuen Erkenntnissen muss ein als Asylbewerber identifizierter Rückkehrer bei der Einreise regelmäßig damit rechnen, dass er zunächst festgehalten und einer intensiven Überprüfung unterzogen wird (KA 60, 64, 66, 111, 118, 126, 134, 179, 211).

Dies gilt insbesondere, wenn gültige Reisedokumente nicht vorgewiesen werden können.

In diesem Falle erfolgt regelmäßig eine genaue Personalienfeststellung (unter Umständen mit einem Abgleich der Angaben der Personenbestandsbehörde und des Fahndungsregisters) hinsichtlich Grund und Zeitpunkt der Ausreise aus der Türkei, Grund der Abschiebung, eventueller Vorstrafen in Deutschland, Asylantragstellung und Kontakten zu illegalen türkischen Organisationen im In- und Ausland (KA 59, 111, 118, 126,134,179). Diese Einholung von Auskünften, während der der Rückkehrer meist in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache festgehalten wird, kann bis zu mehreren Tagen dauern. Da den türkischen Behörden bekannt ist, dass viele türkische Staatsbürger aus wirtschaftlichen Gründen mit dem Mittel der Asylantragstellung versuchen, in Deutschland ein Aufenthaltsrecht zu erlangen, werden Verfolgungsmaßnahmen nicht allein deshalb durchgeführt, weil der Betroffene in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, sondern nur, wenn sich konkrete Anhaltspunkte für eine Mitgliedschaft oder Unterstützung der PKK ergeben (KA 59,111, 118, 126, 134, 179, 193, 211). Liegt gegen den Betroffenen nichts vor, so wird er in der Regel nach spätestens zwei oder drei Tagen wieder freigelassen. Anders ist es, wenn Personen wegen konkreter Anhaltspunkte für die Begehung von Straftaten, insbesondere durch Unterstützung der PKK, durch die politische Abteilung der Polizei in Haft genommen werden; dann besteht die reale Gefahr von asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen bis hin zum Verschwinden von Personen (KA 60, vgl. auch KA 116, 134).

Die in einem Briefwechsel zwischen dem türkischen Innenminister und dem Bundesinnenminister enthaltene Erklärung der Republik Türkei (Text in BT -Drs. 13/1434, S. 2 bis 4) hat keine Auswirkung auf die Beurteilung der Frage, ob für kurdische Volkszugehörige in der Türkei ein Leben ohne politische Verfolgung möglich ist (vgl. Hess. VGH, 07.12.1998 - 12 UE 2185/97.A -; siehe dazu auch OVG Nordrhein-Westfalen , 03.06.1997 - 25 A 3631/95.A - und 28.10.1998 - 25 A 1284/96.A -).

Der Klägerin droht auch unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.

Zu ihren Gunsten kann nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass ihr politische Verfolgung deshalb droht, weil ihr Bruder als PKK-Unterstützer bekannt und deshalb als Asylberechtigter in Deutschland anerkannt worden ist, ebensowenig weil Cousins und weitere Verwandte mit gleichem Nachnamen wie sie als Asylberechtigte oder Flüchtlinge nach § 51 AuslG anerkannt worden sind, wobei einer dieser Cousins sich in der Türkei für die TDKP betätigt habe.

Ein Institut der Sippenhaft gibt es im türkischen Strafrecht, das in seinen wesentlichen Zügen dem italienischen Strafrecht nachgebildet ist, zwar nicht (81, 10, 22, 32, 36, 37, 38; KA 173), sondern Verfolgungsmaßnahmen sind auch gegenüber Familienangehörigen von Straftätern grundsätzlich unzulässig (S 10). Obwohl die Sippenhaft dem türkischen Recht insgesamt unbekannt ist, spielt der Zugriff auf Angehörige in der Polizeiermittlungspraxis jedoch eine große Rolle, wie zahlreiche Beispiele zeigen (S 11, 18, 24, 38). Unter Umständen werden Verwandte von Gesuchten polizeilich zu deren Aufenthaltsort vernommen (S 12; KA 173), sodass es auch möglich erscheint, dass die Ehefrau eines flüchtigen Straftäters in Polizeigewahrsam genommen, verhört und bedroht und auf die eine oder andere Art und Weise genötigt wird (S 5). Insbesondere nach 1990 wurde die Unterdrückung von Angehörigen gesuchter Personen verstärkt, wie zahlreiche Beispiele belegen (S 8, 9). Verwandte von gesuchten Personen müssen bei Razzien zum Zwecke der Festnahme der gesuchten Personen damit rechnen, unter Druck gesetzt, geschlagen und schikaniert zu werden (S 3).

Unmittelbar bei der Rückkehr besteht die Gefahr einer Festnahme wegen PKK-Aktivitäten Verwandter nach Auskunft von Kaya (S 21) nicht, da den Grenzstationen keine Listen derjenigen, die sich der Guerilla angeschlossen haben, mitgeteilt werden und dies auch bei den üblichen Nachforschungen nicht bekannt werden dürfte. Allerdings kann dies bei Rückkehr in die Heimatgemeinde durch dortige Nachforschungen bekannt werden und zur Festnahme führen (S 21).

Unter Berücksichtigung dieser Umstände droht der Klägerin bei der Rückkehr in die Türkei, selbst wenn man diese Vermutung auch auf Geschwister ausdehnt, schon deshalb keine politische Verfolgung, weil diese Vermutung dann widerlegt ist. Die Klägerin wird unmittelbar bei ihrer Rückkehr oder danach aus dem Grund, dass ihr Bruder als PKK- Unterstützer bekannt sein könnte und als Asylberechtigter in Deutschland anerkannt ist, nicht der Gefahr einer Befragung ausgesetzt. Hierfür spricht schon wesentlich, dass weder im Vortrag der Klägerin noch sonstwie ersichtlich irgendein Zusammenhang zwischen der - unterstellten - Verfolgung ihres Bruders und ihrer eigenen Person besteht. Dazu kommt, dass der Bruder nunmehr bereits seit (...) Jahren aus der Türkei ausgereist ist und seit (...)Jahren als Asylberechtigter in Deutschland lebt. Ein Ermittlungsinteresse der türkischen Behörden in Bezug auf den Bruder der Klägerin dürfte unter diesen Umständen - sollte es überhaupt einmal bestanden haben - kaum mehr bestehen.

Auch aufgrund der geltend gemachten exilpolitischen Tätigkeiten hat die Klägerin bei ihrer Rückkehr keine politische Verfolgung zu gewärtigen.

Aufgrund dieser Auskunftslage nimmt der Senat in ständiger Rechtsprechung an, dass untergeordnete politische Betätigungen in Deutschland türkischen Sicherheitskräften in der Regel nicht bekannt werden und deshalb nicht zu Ermittlungen und Verfolgungsmaßnahmen in der Türkei führen. Eine politische Verfolgung aufgrund exilpolitischer Aktivitäten in Deutschland droht demgemäß erst dann mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit, wenn diese Betätigung für die kurdische Sache in hervorgehobener Weise erfolgt und den türkischen Sicherheitskräften bekannt geworden ist. Dies kommt regelmäßig erst dann in Betracht, wenn der Aktivist als exponiertes Mitglied einer staatsfeindlichen Gruppe innerhalb oder außerhalb dieser Gruppe einen Bekanntheitsgrad erlangt, der die Aufmerksamkeit eines möglichen Spitzels innerhalb der Gruppe oder von Mitarbeitern des türkischen Geheimdienstes außerhalb der Gruppe erregt. Es muss sich also bei ihm um einen exponierten Regimegegner handeln (vgl. dazu grundsätzlich: Hess. VGH, 23.11.1992 -12 UE 2590/89 -, 24.01.1994 -12 UE 200/91 -, 05.02.1996 -12 UE 4176/95 -; im Ergebnis ebenso: VGH Baden-Württemberg, 22.07.1999 -A 12 S 1891/97-, 07.10.1999 - A 12 S 1021/97 -,05.04.2001 - A 12 S 198/00 -; OVG Hamburg, 05.04.1994 - Bf V 12/92 -; Niedersächsisches OVG, 05.11.1998 - 11 L 1599/96 - und 16.05.1995 - 11 L 6012/91 -; OVG Rheinland-Pfalz, 11.06.1999 - 10 A 11424/98.0VG -,09.03.2001 - 10 A 11679/00 -; OVG des Saarlandes, 28.06.1996 - 9 R 80/93 -und 26.06.1996 - 9 R 70/92 -, 27.11.2000 - 9 Q 243/99 -; OVG Nordrhein-Westfalen, 28.10.1998 - 25 A 1284/96 -,15.09.1999 - 8 A 2285/99.A -; OVG Bremen, 12.12.1997 - 2 BA 78/94 -; OVG Mecklenburg-Vorpommern, 22.04.1999 3 L 3/95 -); eine bloße Teilnahme an Vereinsversammlungen und Demonstrationen genügt dagegen nicht.

Im Fall der Klägerin vermag die Mitgliedschaft im (...) und die Teilnahme an Hungerstreik und Demonstrationen, über die in Medien berichtet worden ist, kaum die Aufmerksamkeit türkischer Sicherheitskräfte auf sie gezogen haben.