OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Beschluss vom 11.02.2003 - 3 EO 387/02 - asyl.net: M3263
https://www.asyl.net/rsdb/M3263
Leitsatz:

1. Die dem Beschwerdegericht durch § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO aufgegebene Prüfung nur der in der Beschwerde rechtzeitig dargelegten Gründe bindet wegen der grundsätzlichen Aufgabe des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO und des Gebots effektiven Rechtsschutzes nicht streng und ausnahmslos.

2. Dem Instanzgericht ist es nicht verwehrt, bei im erstinstanzlichen Eilverfahren strittig gebliebenen Tatsachen, die in der Beschwerdeschrift aufgegriffen werden, im Einzelfall die – vorläufigen – tatsächlichen Feststellungen zu treffen, um Entscheidungsreife herzustellen.

3. Die ausländerrechtliche Aufforderung zur Ausreise enthält kein selbständiges Gebot, das Bundesgebiet zu verlassen, sondern verlautbart nur die von Gesetz wegen bestehende Ausreisepflicht gemäß § 42 Abs. 1 AuslG.(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Ausländer, Verfahrensrecht, Aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Ausreiseaufforderung, Abschiebungsandrohung, Rechtscharakter, Auslegung, Widerspruch, Suspensiveffekt, Minderjährige, Visumspflicht, Gesetzesänderung, Übergangsregelung, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerung, Klage, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Beschwerdeverfahren, Beschwerdegericht, Sachprüfung, Prüfungskompetenz, Prüfungsumfang, Darlegungserfordernis, Rechtsweggarantie
Normen: DVAuslG i.d.F. der 8. VO zur Durchführung des AuslG vom 02. 04. 1997; DVAuslG § 2 Abs. 2; VwGO § 146 Abs. 4
Auszüge:

An den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zu den aufenthaltsrechtlichen Tatsachen - insoweit vorläufig für das Eilverfahren - ist der Senat nicht durch § 146 Abs.4 Satz 6 VwGO gehindert, wonach das Oberverwaltungsgericht in Beschwerdeverfahren nur die dargelegten Gründe prüft.

Der Wortlaut der Vorschrift legt nahe, dass der Gesetzgeber mit dieser durch das Gesetz zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess - RmBereinVpG - vom 20. Dezember 2001 (BGBI. I, S. 3987) in die VwGO eingefügten Vorschrift die eigenständige Sachprüfung durch das Beschwerdegericht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren an den für die Begründetheit streitenden Gesichtspunkten im Beschwerdevorbringen ausgerichtet hat (vgl. Seibert, NVwZ 2002, 265, 268; Bader, VBIBW, 2002, 471, 474; Eyermann, VwGO, Nachtrag zur 11. Auflage, 2002, § 146 N 4, Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 13. Auflage, 2003, § 146 Rn. 43). Die besondere Regelung in Satz 6 schließt systematisch an die die Zulässigkeit der Beschwerde regelnden Bestimmungen in § 146 Abs. 4 S. 1 bis 5 VwGO an. Indem der Prozessgesetzgeber zusätzlich das Prüfprogramm in § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO für die Reichweite der Begründetheitsprüfung vorgibt und die "dargelegten Gründe" maßgebend werden lässt, verbindet er die dem Darlegungsgebot genügende Begründungspflicht nach S. 3 mit dem Umfang der Sachprüfung in der Beschwerdeinstanz. Den Regelungen ist immanent, dass ihre zusätzlichen Anforderungen an die Beschwerdebegründung das Eilverfahren beschleunigen und auf die wesentlichen Fragen konzentrieren soll. Enthält die Beschwerde entsprechend S. 3 der Vorschrift keinen bestimmten Antrag, legt sie die Gründe nicht dar, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und setzt sie sich mit der angefochtenen Entscheidung nicht auseinander, ist sie nach § 146 Abs.4 S.4 VwGO als unzulässig zu verwerfen. Eine Prüfung der Begründetheit soll dann nicht stattfinden.

Ergänzt der Gesetzgeber zugleich die allgemeinen Vorschriften für den Beschwerdegegenstand in Verfahren nach §§ 80, 80a und 123 VwGO, die in § 146 Abs. 4 S. 1 VwGO in Bezug genommen werden, durch eine Sonderregelung in S. 6 zur Begründetheit, will er damit einen eigenständigen - am Prozessstoff des Darlegungsgebotes orientierten - allgemeinen Prüfungsrahmen vorgeben, der sich in die für den Gesetzgeber insgesamt maßgebend gewesenen Ziele der Neuordnung des Beschwerdeverfahrens einfügt.

Der Gesetzgeber hat damit eine generelle Vorgabe gesetzt, die angesichts der fehlenden Einordnung in das System des einstweiligen Rechtsschutzes der VwGO durch weitere Vorschriften erst durch die Rechtsprechung in einen tragfähigen Anwendungszusammenhang durch Auslegung gebracht werden muss. Art und Umfang der den Gerichten aufgegebenen Sachprüfung sind bisher in der Rechtsprechung nicht hinreichend geklärt. Drei grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen werden vertreten:

Nach der einen Auffassung soll § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO etwa dazu zwingen, dass das Beschwerdegericht weder zu Gunsten noch zu Lasten des Beschwerdeführers andere tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte prüfen, ermitteln und verwerten kann (so der Hessische VGH, Beschluss vom 5. Juli 2002 - 12 TG 959/02- AuAS 2002, 234). Eine damit allein dem jeweiligen Rechtsmittelführer auferlegte, durchgängige Beibringungslast steht mit den grundlegenden Funktionen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens nicht im Einklang. Die - dem Wortlaut verpflichtete - Beschränkung wird auch nicht durch die Vorläufigkeit der Regelungen im summarischen Verfahren getragen; sie ist auch nicht durch den Vertretungszwang im Beschwerdeverfahren gemäß § 67 VwGO zu rechtfertigen.

Die Prüfung muss deshalb nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG der Aufgabe verpflichtet bleiben, irreparable Folgen, die sonst durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme vor deren abschließender Entscheidung entstehen könnten, möglichst auszuschließen (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 16. März 1999 - 2 BvR 2135/99 - NVwZ 1999, Beilage Nr.6, 49 = InfAuslR 1999, 256 = DVBI. 1999, 1204). Auslegung und Anwendung der gesetzgeberisch eingeschränkten Prüfungspflicht haben deshalb dem Gebot effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. September 2002 - 2 BvR 857/02 - DVBI. 2002, 1633 m. w. N.; vgl. zu diesen verfassungsrechtlichen Maßgaben für die Auslegung der Vorschrift auch Hessischer VGH, Beschluss vom 23. Oktober 2002 - 9TG 2712/02- zitiert nach juris). Mithin ist eine einschränkende Auslegung und Anwendung der den Gerichten auferlegten Prüfungspflicht nach § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO geboten.

Auch die Beurteilungsmaßstäbe aus der bisher bekannt gewordenen Rechtsprechung des Bayerischen VGH erreichen diesen Ausgleich zwischen der gesetzgeberischen Maßgabe und den Erfordernissen eines funktionsfähigen einstweiligen Rechtsschutzes nicht. Nach seiner Auffassung ist die Befugnis der Gerichte zur umfassenden Interessenabwägung und zur vollständigen Prüfung der entscheidungserheblichen Tatsachen und Rechtsfragen durch die Neuregelung nicht berührt worden (vgl. Beschluss vom 23. Januar 2002 - 25 Cs 02/172 - BayVBI. 2002, 306). Danach würde das Anliegen des Gesetzgebers, soweit es Art und Umfang der Sachprüfung des Beschwerdegerichts betrifft, nicht umgesetzt, sondern die Rechtsprechung bliebe den bisherigen Grundsätzen der Sachprüfung insgesamt verpflichtet.

Eine dritte Auffassung geht dahin, dass dann, wenn die Beschwerde die erstinstanzliche Entscheidung fristgerecht mit zutreffenden Erwägungen in Frage gestellt habe, es im Übrigen bei den Prüfelementen bleibe, wie sie auch bei einer uneingeschränkten Beschwerdemöglichkeit anzuwenden sind (so OVG Nordrhein- Westfalen, Beschluss vom 8. Mai 2002 - 1 B 241/02 - NVwZ-RR 2003, 50). Diese Auffassung des OVG Nordrhein-Westfalen findet inzwischen in der Rechtsprechung vermehrt Zustimmung. Danach soll sich die der Beschwerdeinstanz aufgegebene Prüfung nach § 146 Abs.4 S.3 und 6 VwGO in zwei Stufen vollziehen. Ist die Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung erfolgreich in Zweifel gezogen worden, könne das Oberverwaltungsgericht umfassend und über die Darlegungen in der Beschwerdebegründung hinaus die Erfolgsaussichten einer eigenen Sachprüfung unterziehen. Dies ergebe sich insbesondere daraus, dass der Zugang zur zweiten Instanz durch die Rechtsänderung nicht weiter habe geöffnet werden sollen als für das Hauptsacheverfahren (vgl. Hessischer VGH, Beschlüsse vom 3. Dezember 2002 - 8 TG 2413/02 - und vom 23. Oktober 2002 - 9 TG 2712/02 - sowie ähnlich OVG Berlin, Beschluss vom 12. April 2002 - 8 S 41.02 - jeweils zitiert nach juris). Ob dem generell so zugestimmt werden kann, mag offen bleiben. Dem Anliegen des Gesetzgebers, wegen der Vorläufigkeit der Entscheidung im Eilverfahren auch die Überprüfung im Beschwerdeverfahren zu begrenzen, würde jedenfalls auf der zweiten Stufe keine Bedeutung mehr zukommen.

Ein allgemeiner Maßstab, der dem Grundanliegen des Gesetzgebers Rechnung trägt, dass es im Regelfall für das Beschwerdeverfahren in Anwendung des § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO bei der Gegenüberstellung der dargelegten Gründe mit den tragenden Begründungselementen im angefochtenen Beschluss verbleibt, könnte etwa darin liegen, dass bei offenkundiger Unrichtigkeit, mithin greifbarer Gesetzwidrigkeit, eine weitergehende Prüfung in Anwendung der allgemeinen Grundsätze der Rechts- und Sachprüfung im Beschwerdeverfahren stattzufinden hat (vgl. etwa OVG Schleswig, Beschluss vom 31. Juli 2002 - 3 M 34/02 - NördÖR 2002, 423 und Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., Rn. 43 zu § 146). Dies wird indessen erst die Spruchpraxis zeigen müssen. Denkbar ist auch, dass nur für bestimmte Fallgruppen ein erweiterter Prüfungsrahmen im Hinblick auf die beschriebenen Aufgaben des einstweiligen Rechtsschutzes in Betracht zu ziehen ist.

So sollen etwa dann, wenn im Beschwerdeverfahren neue Fragen auftreten, diese zum Gegenstand des Beschwerdeverfahrens gemacht werden können (vgl. Geiger, BayVBI. 2003, 65, 76).

Die eingeengte Prüfungspflicht des Beschwerdegerichts wird nach der Neuregelung nicht ausschließen können, dass tatsächlichen Fragen im gegebenen Fall nachgegangen werden kann, soweit die Darlegungen zum geltend gemachten Anspruch dies tragen. Dies zeigt sich nicht zuletzt an Fallgestaltungen, wo nach dem bisherigen Sach- und Streitstand im Eilverfahren offen ist, ob die vom jeweiligen Beteiligten geltend gemachten Tatsachen zutreffen. Auch dann würde das Hauptsacheverfahren in der Berufungsinstanz durch Zulassung des Rechtsmittels dazu dienen, diesen offenen tatsächlichen Fragen nachzugehen (vgl. insoweit zum Streitstand für den Zulassungsgrund der tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten gemäß § 124 Abs.2 Nr.2 VwGO nur ThürOVG, Beschluss vom 17. August 2000 - 4 ZKO 1145/97 - NVwZ 2001, 448 = ThürVBI. 2001, 37 m. w. N.). Diesen erforderlichen Rechtsschutz hat auch das Eilverfahren zu gewährleisten.

Eine allein wortlautbezogene Auslegung des § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO dahin gehend, dass die Prüfungspflicht sich allein auf den Prozessstoff verengt, wie er dargelegt worden ist, scheidet daher aus.

Bei Fallgestaltungen - wie hier -, die dadurch gekennzeichnet sind, dass die wesentlichen tatsächlichen Behauptungen während des erstinstanzlichen Eilverfahrens strittig geblieben und die erforderlichen Unterlagen der Verwaltungsbehörden - zu Beweiszwecken - nicht beigezogen worden sind, kann die Einengung des Prüfungsrahmens daher nicht dazu führen, dass das Beschwerdegericht von jedweden tatsächlichen Ermittlungen und Feststellungen (auch aus dem Akteninhalt) absieht, um Entscheidungsreife hinsichtlich des Ergebnisses des Verfahrens herzustellen, nämlich, ob die angefochtene Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sich nach den Darlegungen im Beschwerdeverfahren - wie hier der Vortrag zum Eingreifen der Übergangsregelung in der DVAuslG - solche weiteren Ermittlungen aufdrängen.