VerfG Brandenburg

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Zitieren als:
VerfG Brandenburg, Beschluss vom 20.03.2003 - VfGBbg 108/02 - asyl.net: M3422
https://www.asyl.net/rsdb/M3422
Leitsatz:

Überlange Verfahrensdauer in Asylrechtsstreit verstößt gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Verfahrensrecht, Asylklage, Verfahrensdauer, Recht auf ein zügiges Verfahren, Untätigkeitsbeschwerde, Rechtsstaatsprinzip, Überlastung des Gerichts, Förderung des Verfahrens
Normen: LV Brandenburg Art. 52 Abs. 4 S. 1
Auszüge:

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der andauernde Verfahrensstillstand in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf ein zügiges Verfahren vor Gericht aus Art. 52 Abs. 4 Satz 1 LV. Im Einzelnen:

1. Artikel 52 Abs. 4 Satz 1 LV ist ein Grundrecht (s. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, st. Rspr. seit Beschluß vom 19. Mai 1994 - VfGBbg 6/93, 6/93 EA -, LVerfGE 2, 105, 112 und Beschluß vom 14. Juli 1994 - VfGBbg 3/94 -, LVerfGE 2, 115 <Leitsatz 1>, 116). Es konkretisiert den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes zu einem Grundrecht auf ein zügiges Verfahren vor Gericht und gewährleistet, daß gerichtliche Entscheidungen in angemessener Zeit ergehen (s. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluß vom 28. März 2001 - VfGBbg 2/01, LVerfGE Suppl. Bbg. zu Bd. 12, 3, 6 ff.).

2. Die angemessene Verfahrensdauer läßt sich nicht generell und abstakt, sondern nur nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles bemessen (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschlüsse vom 14. Juli 1994 - VfGBbg 3/94 - a.a.O., vom 19. Januar 1995 - VfGBbg 9/94 -, LVerfGE 3, 129, 133 und vom 28. März 2001 - VfGBbg 2/01 - a.a.O.). Dabei ist neben dem eigenen prozessualen Verhalten des Beschwerdeführers - etwa wenn er durch verzögernde Anträge (vgl.für einen solchen Fall Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluß vom 19. Januar 1995 - VfGBbg 9/94 - a.a.O.) zur Verfahrensverlängerung beigetragen oder den Arbeitsaufwand durch ungeordnetes und unübersichtliches Vorbringen erhöht hat (vgl. insoweit Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluß vom 28. März 2001 - VfGBbg 2/01 - a.a.O.) - nicht zuletzt die Bedeutung der Angelegenheit für den Beschwerdeführer (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluß vom 28. März 2001 - VfGBbg 2/01 - a.a.O.; BVerfG, Beschluß vom 30. April 1992 - 1 BvR 406/89 - zitiert nach JURIS) zu berücksichtigen. Gegebenenfalls ist auch zu berücksichtigen, daß die Gründe außerhalb der Sphäre des Gerichts liegen (vgl. BVerfG EuGRZ 1982, 75), wie es bei erschwerten Ermittlungen oder z.B. bei Verfahrensunterbrechungen durch äußere Umstände der Fall sein kann. Dagegen ist - im Land Brandenburg nach der Umstrukturierung der Justizorganisation im Rahmen der Wiedervereinigung (vgl. hierzu Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluß vom 28. März 2001 - VfGBbg 2/01 - a.a.O.) - die besondere Situation des angerufenen Gerichts, etwa seine Überlastung, nach nunmehr über 10 Jahren nicht mehr beachtlich. Das Rechtsstaatsprinzip erfordert eine funktionsfähige Rechtsprechung, zu der eine angemessene Ausstattung der Gerichte gehört (s. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluß vom 28.03.2001 - VfGBbg 2/01 - a.a.O. m.w.N.).

3. Vorliegend läßt sich die Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gemessen an dem Anspruch auf ein zügiges Verfahren vor Gericht nicht mehr rechtfertigen. Das Verfahren ist seitens des Verwaltungsgerichts bis zum Anhängigwerden der Verfassungsbeschwerde gut drei Jahre und fünf Monate nicht nennenswert gefördert worden. Eine solche Verfahrensdauer hat das erkennende Gericht freilich in dem seiner Entscheidung vom 28. März 2001 (- VfGBbg 2/01 - a. a. 0.) zugrundeliegenden Ausgangsfall als "noch" nicht gegen Art. 52 Abs. 4 Satz 1 LV verstoßend angesehen. Der damals zu beurteilende Fall lag aber in entscheidenden Punkten anders. Der damalige Kläger hatte durch mehrfache Einreichung von mit dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren in keinem Zusammenhang stehenden Schriftstücken den Arbeitsaufwand, "wenn auch nicht massiv", erhöht. Weiter ergaben sich für den damaligen Beschwerdeführer während des schwebenden Verwaltungsgerichtsverfahrens keine gravierenderen Auswirkungen auf sein tägliches Leben. Vorliegend dagegen kann dem Beschwerdeführer nicht vorgehalten werden, daß er durch die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftstücke das Verfahren verkompliziert und den Bearbeitungsaufwand erhöht hat. Vielmehr betreffen die von seinem Verfahrensbevollmächtigten vorgelegten Zeitungsausschnitte und Informationsmaterialien die politische Situation in Kolumbien und damit unmittelbar den verfahrensgegenständlichen Asylgrund. Sie unterstreichen aus der Sicht des Beschwerdeführers die Dringlichkeit der Sache. Weiter ergeben sich Auswirkungen auf die tatsächliche Situation des Beschwerdeführers. Zwar ist er während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vor Abschiebung sicher, aber die Ungewißheit über den Verfahrensausgang belastet ihn psychisch. Zudem unterliegt er, solange er nicht als asylberechtigt anerkannt ist, beträchtlichen Einschränkungen, z. B in seiner Wohnsitz-, Aufenthalts-, und Bewegungsfreiheit §§ 53, 56 Asylverfahrensgesetz) und bei der Arbeitsaufnahme (§ 60 Abs. 1, 61 Abs. 2 Asylverfahrensgesetz). Auch entsprechen die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (§§ 3: ff.) nicht in jeder Hinsicht denen nach dem Bundessozialhilfegesetz (§§ 8 Abs. 1, 21 ff.).

Gemessen daran ist hier die verstrichene Verfahrensdauer von gut drei Jahren und fünf Monaten zu lang. Die hier gezogene Grenze bezieht sich allerdings nur auf den konkreten Fall, sie gilt nicht generell. Es kann durchaus Gründe dafür geben, daß sich eine Rechtsstreitigkeit, auch innerhalb ein und derselben Instanz, über Jahre hinzieht, etwa dann, wenn eine umfängliche Beweisaufnahme, etwa auch durch Einholung von Gutachten und Obergutachten, veranlaßt ist, Zeugen im Ausland zu vernehmen sind und Ähnliches. In derartigen Fällen, in denen sich die Bearbeitung aus in dem Verfahren selbst wurzelnden Gründen in die Länge zieht, bedeutet das Grundrecht auf ein zügiges Verfahren vor Gericht nicht mehr - aber auch nicht weniger - als daß das Gericht das Verfahren angemessen fördern muß und in dem jeweils anstehenden nächsten Verfahrensschritt keine unangemessenen Verzögerungen eintreten dürfen. Im Falle des Beschwerdeführers ist jedoch das verwaltungsgerichtliche Verfahren, ohne daß hierfür Gründe aus diesem selbst heraus erkennbar wären, gut drei Jahre und fünf Monate nicht nennenswert gefördert worden. Nach Lage des Falles ist hier der Anspruch auf ein zügiges Verfahren vor Gericht verletzt.

4. Für die hier zu treffende Entscheidung kommt es nicht darauf an, worauf die Verfahrensverzögerung im Einzelnen und worauf sie etwa "letzten Endes" zurückzuführen ist. Sie kann verschiedene Gründe haben. Eine Verfahrensverzögerung kann an dem einzelnen befassten Richter, an dem Spruchkörper, an der Verwaltung und/oder dem Präsidium des betreffenden Gerichts, an der Justiz-Mittelbehörde, an dem zuständigen Ministerium, am Kurs der Landesregierung, am Haushaltsgesetzgeber oder an einer Kombination solcher denkbaren Ursachen liegen. Der einzelne Richter steht in der Pflicht, durch jeden zumutbaren Einsatz die ihm anvertrauten Verfahren in angemessener Zeit der Erledigung zuzuführen. Überlastung ist anzuzeigen und löst ggfs. den Vertretungsfall aus. Unbeschadet dessen ist innerhalb des Spruchkörpers für eine gleichmäßige Auslastung der Berichterstatter zu sorgen. Bei Überlastung des Spruchkörpers ist dem Gerichtspräsidenten oder dem Präsidium Anzeige zu machen, damit das Präsidium bei ungleichmäßiger Belastung - unter Beachtung der gerichtsverfassungsrechtlichen Vorgaben - einen Ausgleich innerhalb des Gerichts herbeiführen kann. Die Justiz- Mittelbehörden müssen darauf achten, daß die ihnen zugeordneten Gerichte in der dem jeweiligen Geschäftsanfall gerecht werdender Weise gleichmäßig ausgestattet werden. Das Ministerium hat sich für die benötigten Stellen zu verwenden. Und Landesregierung und Haushaltsgesetzgeber haben zu akzeptieren, daß die Personalausstattung der Gerichte die Einlösung des Grundrechts auf ein zügiges Verfahren vor Gericht ermöglichen muß und daß es sich dabei um einen staatlichen Auftrag handelt, der manchen anderen staatlichen Aufgaben eben deshalb vorgeht, weil ein Grundrecht in Frage steht; Grundrechte "binden" auch die Regierung und die Gesetzgebung (so Art. 5 Abs. 1 LV im Einklang mit Art. 1 Abs. 2 Grundgesetz) und stehen damit nicht oder nur bedingt unter dem "Vorbehalt des Möglichen ".

Vorliegend muß offenbleiben, welche der genannten Ursachen für die den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf ein zügiges Verfahren vor Gericht verletzende Verfahrensverzögerung ausschlaggebend verantwortlich ist. Das Landesverfassungsgericht hat nur zu entscheiden, ob und ggfs. daß - der Anspruch auf ein zügiges Verfahren vor Gericht verletzt ist.

Die gemäß § 50 Abs. 2 Satz 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg festzustellende verfassungsverletzende "Handlung oder Unterlassung" liegt in der verzögerten Bearbeitung des zugrundeliegenden Verfahrens durch das Verwaltungsgericht. Es ist nicht die Aufgabe des Landesverfassungsgerichts, etwaigen über den Tatbestand einer Verletzung des Anspruchs auf ein zügiges Verfahren vor Gericht hinausgehenden Ursachen und Hintergründen nachzugehen.

Es ist Sache des Verwaltungsgerichts, aus der festgestellten Verletzung des Anspruchs des Beschwerdeführers in seinem Recht aus Art. 52 Abs. 4 Satz 1 LV Schlüsse zu ziehen und unbeschadet der richterlichen Unabhängigkeit, die unberührt bleibt, auf eine Beendigung des in dieser Sache eingetretenen landesverfassungswidrigen Zustandes hinzuwirken.