VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 29.01.2002 - 8 UZ 2908/00.A - asyl.net: M3438
https://www.asyl.net/rsdb/M3438
Leitsatz:

Die Frage, ob die frühere Herrschaft der Taliban über 80 - 90 % des Gebietes von Afghanistan als staatliche oder quasi-staatliche Herrschaftsmacht anzusehen ist, ist aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen und allgemein bekannten politischen Entwicklung in Afghanistan nicht mehr grundsätzlich klärungsbedürftig, und zwar auch nicht im Hinblick auf eine geltend gemachte Vorverfolgung. (amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Afghanistan, Gebietsgewalt, Taliban, Quasi-staatliche Verfolgung, Politische Entwicklung, Änderung der Sachlage, Vorverfolgung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Berufungszulassungsantrag, Verfahrensmangel, Urteilsgründe, Grundsätzliche Bedeutung, Darlegungserfordernis
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 3; VwGO § 138 Nr. 6; AsylVfG § 78 Abs. 4 S. 4
Auszüge:

Die zunächst gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 6 VwGO erhobene Verfahrensrüge des Klägers, das Verwaltungsgericht habe die ablehnende Entscheidung zu § 53 Abs. 1 AuslG unter Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO ohne detailliertes Eingehen auf seinen Vortrag und so "dürftig" begründet, dass die dafür maßgeblichen Überlegungen des Gerichts nicht erkennbar seien, ist nicht berechtigt. Eine Entscheidung ist nach der für eine Berufungszulassung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG insoweit allein maßgeblichen Vorschrift des § 138 Nr. 6 VwGO nur dann "nicht mit Gründen versehen", wenn sie überhaupt keine oder nur gänzlich ungenügende Gründe enthält, die z.B. so unverständlich, verworren, verstümmelt, in wesentlichen Punkten widersprüchlich, formelhaft oder zu einzelnen Ansprüchen unvollständig sind, dass nicht erkennbar ist, welche Gründe für die gerichtliche Entscheidung maßgebend gewesen sind; unzutreffende oder nur oberflächliche, aber inhaltlich noch auf den konkreten Rechtsstreit bezogene Begründungen oder aus dem Gesamtzusammenhang nachvollziehbare Bezugnahmen auf tatsächliche Feststellungen und rechtliche Erwägungen in genau bezeichneten anderen Entscheidungen stellen noch keinen Verfahrensmangel im Sinne dieser Vorschrift dar (vgl. Marx, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 4. Auf!. 1999, Rdnr. 329 ff. zu § 78). Die knappen Entscheidungsgründe auf Seite 3 des angefochtenen Urteils können danach nicht als "gänzlich unzureichend" angesehen werden. Die durch eigene Ausführungen ergänzte Bezugnahme, die auch der Kläger in seinem Zulassungsantrag angesprochen hat, auf genau bezeichnete Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und die abschließende Bezugnahme gemäß § 77 Abs. 2 AsylVfG auf den Inhalt des angefochtenen Asylablehnungsbescheides (vom 25. April 2000) lassen hinreichend deutlich erkennen, dass das Verwaltungsgericht einen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 51 Abs. 1 und § 53 Abs. 4 AuslG, aber auch nach § 53 Abs. 1 AuslG in erster Linie wegen des Fehlens einer staatlichen oder quasi-staatlichen Ordnung in Afghanistan verneint hat.

Die weitere - danach nicht mehr entscheidungserhebliche - Feststellung des Verwaltungsgerichts, es sei nicht ersichtlich, dass darüber hinaus für den Kläger die konkrete Gefahr bestünde, in Afghanistan der Folter unterworfen zu werden, lässt zudem eine Berücksichtigung des individuellen Vorbringens des Klägers erkennen. Dass sie sich damit nicht im Einzelnen explizit und detailliert auseinandersetzt, macht diese Begründung nicht zu einer gänzlich unzulänglichen "Nichtbegründung".

Der Rechtssache kommt schließlich die vom Kläger geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG ebenfalls nicht zu.

Das Vorbringen des Klägers zu diesem Zulassungsgrund genügt schon nicht dem Darlegungserfordernis des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG, weil die ausdrückliche Formulierung einer konkreten Rechts- oder Tatsachenfrage und die Darlegung Ihrer über den Einzelfall hinausgehenden Bedeutung und Ihrer Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit fehlt.

Aber auch inhaltlich rechtfertigen seine Ausführungen vom 16. August 2000 die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nicht. Zwar kann ihnen die Frage entnommen werden, ob die seinerzeit bestehende Herrschaft der Taliban über 80-90 % des gebites von Afghanistan und die Herrschaft der Anti-Taliban-Allianz unter Führung von Burhanuddin Rabbani über das restliche Territorium als staatliche oder quasi-staatliche, zur politischen Verfolgung im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG befähigende Herrschaftsmacht anzusehen ist. Diese Frage ist durch die nach Erlass des angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Urteils erfolgte Aufhebung des vom Verwaltungsgericht zitierten Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. November 1997 durch Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. August 2000 - 2 BvR 260/98, 2 BvR 1353/98 (- NVwZ 2000 S. 1165 ff.) und die Aufhebung des Urteils des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Juli 1996 - 13 UE 962/96.A - durch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Februar 2001 - 9 C 20.00 - (DVBI. 2001 S. 997) auch zunächst wieder klärungsbedürftig geworden. Sie ist aber jedenfalls aufgrund der danach eingetretenen und allgemein bekannten Entwicklung in Afghanistan nicht mehr grundsätzlich klärungsbedürftig und auch für den vorliegenden Rechtsstreit nicht mehr entscheidungserheblich.

Eine während eines anhängigen Antragsverfahrens für den Antragsteller asylrechtlich ungünstige entscheidungserhebliche Verbesserung der Verfolgungssituation in seinem Heimatland führt aber generell zur Antragsabweisung, weil die Berufungszulassung zur grundsätzlichen Klärung der insoweit maßgeblichen Tatsachen nur dann in Betracht kommt, wenn die vom Rechtsmittelführer geltend gemachte (verfolgungsrelevante) tatsächliche Situation zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Zulassungsantrag noch besteht und nicht durch die zwischenzeitliche Entwicklung (im Sinne einer eindeutigen und endgültigen Beendigung der Verfolgungsgefahr) überholt ist (vgl. Hess. VGH, Beschlüsse vom 4. Oktober 1996 - 7 UZ 3840/95 - und vom 17. November 1997 - 13 UZ 1644/95 -; Marx, a.a.O., Rdnr. 41 und 42 zu § 78; Berlit, Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz 1992, 1999, Rdnr. 145 zu § 78; vgl. auch VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 4. Juli 1990 - A 13 S 206/90 - VBIBW. 1991 S. 94).

Etwas anderes ergibt sich hier auch nicht unter dem Gesichtspunkt, dass sich die Klärungsbedürftigkeit und Entscheidungserheblichkeit tatsächlicher früherer Verhältnisse aus der Notwendigkeit ergeben kann zu entscheiden, ob ein Asylbewerber vorverfolgt ausgereist und daher für die Verfolgungssicherheit bei Rückkehr der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde zu legen ist (vgl. Berlit, a.a.O., Rdnr. 146 zu § 78). Die Notwendigkeit asylrechtsrelevanter Tatsachenfeststellungen für vergangene Zeiträume vermag die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung schon im Hinblick auf die Vorschrift des § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG im Allgemeinen nicht zu rechtfertigen (vgl. OVG NW, Beschluss vom 25. Oktober 1995 - 25A 6146/95.A - juris <LS>. Hinzu kommt, dass für die Frage der Vorverfolgung auf die jeweils unterschiedlichen Zeitpunkte der Ausreise der Asylbewerber aus ihrem Herkunftsstaat und damit auf unterschiedliche allgemeine Verfolgungssituationen abzustellen ist, so dass die Klärung der zurückliegenden Verfolgungssituation nicht für eine Vielzahl anderer Asylverfahren von Bedeutung ist.