VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 22.10.2002 - 22 B 01.30735 - asyl.net: M3576
https://www.asyl.net/rsdb/M3576
Leitsatz:

Kein Abschiebungshindernis für Roma aus dem Kosovo; Verpflichtung des Bundesamtes zur Feststellung von Abschiebungshindernissen ist zu Unrecht erfolgt.

Schlagwörter: Jugoslawien, Kosovo, Roma, Ashkali, Prizren, Übergriffe, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Albaner, Situation bei Rückkehr, Gefahrenbegriff, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Duldung, Serbien, Sozialleistungen, Versorgungslage
Normen: AuslG § 53 Abs. 6; AuslG § 54
Auszüge:

Die Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Klagen zu Unrecht teilweise stattgegeben, nämlich hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungshindernissen gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG.

Den Angaben der Kläger betreffend das Haus des Vaters des Klägers zu 1 in Prizren lässt sich nicht entnehmen, dass bei ihnen die Voraussetzungen einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib und Leben im Sinn des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erfüllt sind. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass es die angesprochenen albanischen Nationalisten speziell auf die Kläger abgesehen hätten. Was den behaupteten Brand des Hauses (...) angeht, so ist weder erkennbar, dass überhaupt Brandstiftung vorlag, noch ggf., wer dadurch getroffen werden sollte; das Haus war den Angaben der Kläger zufolge bereits durch NATO-Bomben zerstört worden und war nicht mehr von Familienangehörigen der Kläger bewohnt. Zudem ließe sich ggf. eine fortwirkende Bedrohung nicht feststellen. Der Bescheinigung der nationalen Gemeinschaft der Roma aus Pristina, dass albanische Extremisten einem Verwandten des Klägers zu 1 mit der Ermordung des Klägers zu 1 gedroht hätten, schenkt der Verwaltungsgerichtshof keinen Glauben.

Was das übrige Vorbringen der Kläger angeht, so ist die Anwendbarkeit des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG im vorliegenden Fall durch § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG gesperrt. Allgemeine Gefahren im Sinn des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG können auch dann keine Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG begründen, wenn sie einen bestimmten Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise betreffen. Die Anwendbarkeit des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG im Verfahren eines Ausländers ist immer dann gesperrt, wenn dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebezielstaat droht. Solche Fälle sind einer politischen Leitentscheidung der obersten Landesbehörden nach § 54 AuslG vorbehalten (ständige Rechtsprechung des BVerwG, vgl. zuletzt BVerwG vom 12.7.2001, DVB12001, 1772/1773). Dies gilt auch im vorliegenden Fall. Die Gefahren, die nach dem klägerischen Vorbringen für die Kläger bestehen sollen, bestehen unstreitig für eine Vielzahl weiterer Personen im Abschiebezielstaat, nämlich für alle Angehörigen der Bevölkerungsgruppe der Roma im Kosovo, die moslemischen Glaubens sind und albanisch sprechen.

Im vorliegenden Fall gebieten es auch nicht die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, den Klägern Abschiebungsschutz zu gewähren. Eine verfassungswidrige Schutzlücke, aus der sich die Befugnis des BAFI und der Verwaltungsgerichte ergeben würde, auch bei allgemeinen Gefahren im Sinn des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG in entsprechender Anwendung des

§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG im Einzelfall von sich aus Abschiebungsschutz zu gewähren, liegt nicht vor. Eine derartige Zuerkennung von Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG setzt stets sowohl das Nichtbestehen von anderweitigem Abschiebungsschutz aufgrund eines Erlasses als auch das Vorliegen einer sogenannten extremen Gefahrenlage voraus (vgl. zuletzt BVerwG vom 12.7.2001, DVBI 2001, 1531/1532 f.). Im vorliegenden Fall fehlt es jedenfalls an der zweiten Voraussetzung.

Im vorliegenden Fall ist zwar unklar, ob eine ausländerrechtliche Erlasslage besteht, die den Klägern einen der Feststellung gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vergleichbar wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt. Das Bayerische Staatsministerium des Innern als zuständige oberste Landesbehörde hat zwar nicht nur, wie vom Beteiligten zu 1 im Antrag auf Zulassung der Berufung ausgeführt, mit Schreiben vom 12. April 2000 Angehörige der Bevölkerungsgruppe der Roma von der geltenden Rückführungsregelung ausgenommen, sondern gemäß den zum Verfahrensgegenstand gemachten weiteren Schreiben vom 4. Dezember 2000 und vom 1. Juni 2001 (vgl. die dortige Nr.9.4) Angehörige von ethnischen Minderheiten aus dem Kosovo, zu denen auch die Roma gehören, von einer zwangsweisen Rückführung in den Kosovo generell ausgenommen. Die Duldungen von Angehörigen von Minderheiten aus dem Kosovo können danach für weitere sechs Monate verlängert werden; danach erfolgt eine erneute Prüfung (vgl. auch BayVGH vom 30.1.2002 - Az. 21 B 94.35490, S. 25 des Urteilsabdrucks). Es ist aber unsicher, ob diese Erlasslage auch auf die Kläger angewendet wird, weil ihre Zugehörigkeit zur Bevölkerungsgruppe der Roma zweifelhaft ist. Zudem ist seit der Tagung der ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 6. Juni 2002 unsicher, ob diese Erlasslage noch längere Zeit fortbesteht. Die Konferenz ging davon aus, dass die Voraussetzungen für eine zwangsweise Rückführung noch im Jahr 2002 gegeben sein werden (Nr. 2 des Beschlusses vom 6.6.2002).

Eine verfassungswidrige Schutzlücke liegt aber jedenfalls deshalb nicht vor, weil die Kläger bei einer Abschiebung in den Kosovo nunmehr keiner extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wären, dass sie gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schweren Verletzungen ausgeliefert wären.

Gegenwärtig hat sich die allgemeine Sicherheitslage für Minderheiten im Kosovo soweit stabilisiert, dass für die Bevölkerungsgruppe der Roma moslemischen Glaubens und albanischer Sprache nicht (mehr) von einer extremen Gefahrenlage im dargelegten Sinn ausgegangen werden kann, wenn auch die Gefahr der Schikanierung und der Einschüchterung weiterhin nicht von der Hand zu weisen ist. Nach der Beurteilung der Situation ethnischer Minderheiten im Kosovo durch den UNHCR die OSZE vom Oktober 2001 (vgl. dort den Abschnitt "Sicherheit und Polizeiaufgaben"), die der Verwaltungsgerichtshof in das Verfahren eingeführt hat, hat sich die allgemeine Sicherheitslage für Minderheiten im Kosovo merklich stabilisiert. Die Zahl der schwerwiegenden Zwischenfälle hat sich für alle Minderheiten in fast allen Regionen des Kosovo verringert. Infolgedessen konnten auch Verbesserungen bei der Bewegungsfreiheit registriert werden. Diese können dahingehend interpretiert werden, dass die Minderheiten als Reaktion auf diese relativ lange Periode, die weitgehend ohne schwerwiegende Zwischenfälle mit Todesopfern blieb, vorsichtig Vertrauen zu fassen scheinen. Wenn sich derzeit noch Angehörige von Minderheiten entschließen, den Kosovo zu verlassen, hängen ihre Motive vielfach mit der Lebensqualität und insbesondere den Beschäftigungsaussichten, jedoch weniger mit unmittelbaren Sicherheitsbedenken zusammen. Soweit einzelne gewaltsame Übergriffe in der Beurteilung des UNHCR und der OSZE vom Oktober 2001 geschildert werden, so betreffen sie vor allem die ethnischen Serben. Die Anzahl der schweren Anschläge gegen Angehörige der Bevölkerungsgruppe der Roma ist demgegenüber im Verhältnis zur Gesamtzahl der Roma gering - insgesamt ist von 65.000 Angehörigen von Roma und anderen Minderheiten im Kosovo auszugehen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 4.9.2001, der vom Verwaltungsgerichtshof in das Verfahren eingeführt wurde, Abschnitt III 3; vgl. dazu auch OVG Nds vom 12.6.2001, S. 29 des Urteilsabdrucks). Die Besserung der allgemeinen Sicherheitslage mag zwar noch nicht zwingend eine substantielle und dauerhafte Wende zum Besseren garantieren, doch stützen stabilitätsfördernde Faktoren wie die zunehmende Wirksamkeit von Polizei und Justiz entsprechende Erwartungen (vgl. die Beurteilung des UNHCR und der OSZE vom Oktober 2001, Abschnitt "Sicherheit und Polizeiaufgaben", Nrn. 5 und 7). Das von den Klägern ins Feld geführte Positionspapier des UNHCR vom April 2002 sowie das Positionspapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 25. April 2002 entkräften diese Beurteilung nicht.

Soweit die Kläger in Übereinstimmung mit der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Positionspapier vom 25.4.2000) eine extreme Gefahr für sich bei massenhafter gleichzeitiger Rückführung von ethnischen Minderheiten in den Kosovo annehmen, so ist dem entgegenzuhalten, dass dies eine unrealistische Annahme ist. Da Rückführungen ohnehin nur in Abstimmung mit den internationalen Behörden vor Ort möglich sind und diese ein derartiges Szenario keinesfalls zulassen würden, ist allenfalls die gestaffelte Rückführung begrenzter Kontingente denkbar (vgl. zum Ganzen OVG NW vom 4.7.2002 - Az. 14 A 891/02.A unter Hinweis auf den Erlass des Innenministeriums NRW vom 14.6.2002). Der Beschluss der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 6. Juni 2002 sieht demgemäß in Nr. 3 die schrittweise Rückführung "in Absprache mit UNMIK " vor.

Diese allgemeine Lagebeurteilung ist zu ergänzen durch eine spezielle Lagebeurteilung für die Siedlungen, in denen die Roma trotz der Verringerung ihrer Zahl um mehr als 50 % seit 1999 (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 4.9.2001, Nr. 1II 3) noch immer einen bedeutsamen Bevölkerungsanteil bilden. In solchen Siedlungen werden die speziellen Schutzmaßnahmen für Minderheiten durch KFOR, UNMIK, UNHCR und OSZE wirksam (vgl. Nr. 112 des Lageberichts des Auswärtigen Amts vom 4.9.2001), wenngleich diese nicht immer zuverlässig sein mögen. Die Tatsache, dass die Kläger aus Prizren stammen, gibt Anlass zum Hinweis auf die dortige Situation. Die Kläger würden dort eine Roma-Gemeinschaft vorfinden, die ihnen die Reintegration erleichtern würde. Prizren stellt den heutigen Hauptsiedlungsraum der Bevölkerungsgruppe der albanischen Roma dar, in dem ca. 4500 albanische Roma einschließlich des gewählten Führers der albanischen Roma leben (vgl. OVG Nds. vom 12.6.2001, S. 29 des Urteilsabdrucks). Nach den eigenen Angaben der Kläger sind darunter auch Verwandte von ihnen. In Prizren sind zudem deutsche KFOR- Soldaten stationiert, deren Schutz die dortigen Roma genießen.

Einzugehen ist schließlich noch auf die anderen Landesteile der Bundesrepublik Jugoslawien außerhalb des Kosovo. Dort wird nach dem Sturz von Diktator Milosevic nicht mehr von Repressalien gegen Ashkali berichtet (Antwort des Auswärtigen Amts vom 17.7.2001 an das Verwaltungsgericht Karlsruhe, die vom Verwaltungsgerichtshof in das Verfahren eingeführt wurde; Auskunft des Auswärtigen Amts vom 13.11.2001 an das VG Frankfurt a.M., die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde). Nach der Auskunft vom 13. November 2001 besteht auch kein Grund zu der Annahme, dass die Kläger im Notfall nicht in den Genuss von Leistungen der sozialen Fürsorge kämen. Nach der Auskunft des Auswärtigen Amts vom 30. Juli 2002 an das VG Leipzig, die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde, ist es jugoslawischen Staatsangehörigen albanischer Volkszugehörigkeit mit Heimatwohnsitz im Kosovo uneingeschränkt erlaubt, im übrigen Serbien Wohnsitz zu nehmen. Jugoslawische Staatsangehörige albanischer Volkszugehörigkeit mit Heimatwohnsitz im Kosovo haben unter denselben Voraussetzungen und im gleichen Umfang Zugang zu staatlichen Sozialleistungen und zur Krankenversorgung wie alle anderen Staatsangehörigen der Bundesrepublik Jugoslawien. Sie erhalten unter denselben Bedingungen staatliche Unterstützung zur Sicherung des existenziell Notwendigen an Unterkunft, Lebensmitteln, Kleidung, Hygieneartikeln u.a.. Es gibt diesbezüglich keine Unterschiede für den genannten Personenkreis und die übrige serbische Bevölkerung in Serbien außerhalb des Kosovo. Diese Auskunft handelt zwar unmittelbar nur von den ethnischen Albanern aus dem Kosovo, betont aber die Gleichbehandlung aller Staatsangehörigen der Bundesrepublik Jugoslawien, so dass sie auch hinsichtlich der Ashkali herangezogen werden kann. Die Position des UNHCR und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe kann daher insofern nicht geteilt werden.