OLG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OLG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 28.04.2003 - 2 W 207/02 - asyl.net: M3637
https://www.asyl.net/rsdb/M3637
Leitsatz:

Ist eine Person zur Identitätsfeststellung in Gewahrsam genommen worden, ist die Feststellung aufgrund des hohen Rechtsguts Freiheit so schnell wie möglich durchzuführen; die vom Gesetz angegebene Höchstdauer von zwölf Stunden bedeutet nicht, dass diese Frist in jedem Fall ausgeschöpft werden darf.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Ausländer, Illegale Einreise, Ingewahrsamnahme, Identitätsfeststellung, Freiheitsentziehung, Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung, Abschiebungshaft, Haftanordnung, Nachholung der Haftanordnung, Unverzüglichkeit, Feststellungsantrag, Feststellungsinteresse, Zuständigkeit, Freiwillige Gerichtsbarkeit, Sofortige weitere Beschwerde
Normen: AuslG § 92 Abs. 1; FGG § 27; ZPO § 546; FEVG § 13 Abs. 2; GG Art. 19 Abs. 4; GG Art. 104; StPO § 163c Abs. 1 S. 2; LVwG § 181 Abs. 4
Auszüge:

Das Rechtsmittel ist nach Maßgabe des Ausspruchs begründet. Die angefochtenen Entscheidungen beruhen auf Verletzungen des Rechts (§§ 27 FGG, 546 ZPO). Das Feststellungsinteresse ist in Fällen tiefgreifender, jedoch nicht mehr fortwirkender Grundrechtseingriffe - wie hier - nach Art. 19 Abs. 4 GG gegeben (BVerfG NJW 1999, 3773).

Die angefochtene Entscheidung ist insoweit fehlerhaft, als das Landgericht einzelne Voraussetzungen der zulässigen behördlichen Freiheitsentziehung verkannt hat.

Es besteht allerdings kein Zweifel, daß die Polizei zunächst berechtigt war, den Betroffenen am 26.08.2002 gegen 13.30 Uhr wegen des Verdachts einer Straftat nach § 92 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 6 AuslG (§§ 127, 163 b Abs. 1 StPO) bzw. zur Abwendung einer im einzelnen Falle bevorstehenden Gefahr (§ 181 Abs. 1 LVwG S-H; vgl. zum Gefahrbegriff: Foerster/Friedersen/Rohde, § 162 Anm. 1 a; § 174 Anm. 9) zum Zwecke der Identitätsfeststellung durch erkennungsdienstliche Maßnahmen festzuhalten und zur Dienststelle zu verbringen. Diese Maßnahme ist als Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 104 GG zu werten (BVerfG NJW 2002, 3161; Kleinknecht/ Meyer-Großner, § 163 b Rn. 7). Die betroffene Person darf jedoch nach den genannten Vorschriften nicht länger festgehalten werden, als es zur Feststellung ihrer Identität erforderlich ist, höchstens auf die Dauer von zwölf Stunden. Der vom Landgericht festgestellte Sachverhalt und auch der Inhalt der Akten lassen nicht erkennen, weshalb die Gewißheit über die Identität des Betroffenen durch das Telex des Bundeskriminalamtes erst um 23.31 Uhr erlangt werden konnte, mithin für diese Maßnahme ca. zehn Stunden erforderlich waren. Es ist schon nicht ersichtlich, weshalb zwischen 14.00 und 16.00 Uhr diese Überprüfung nicht eingeleitet wurde. Die Auskunft der Kriminalpolizeistelle vom 23.10.2002 für die Zeit ab 16.00 Uhr (Band II Blatt 130 d. A.), wegen der "Einsatzbelastung" sei die Maßnahme erst ab 20.00 Uhr durchführbar gewesen, vermag die Erforderlichkeit der Dauer entgegen der in anderem Zusammenhang dargelegten Auffassung des Landgerichts (Beschluß -Seite 7, 2. Absatz) nicht zu begründen, denn sie läßt nicht erkennen, weshalb diese "Einsätze" vorrangig waren und der Vorgang nicht beschleunigt werden konnte. Dabei ist davon auszugehen, daß die Rechtsordnung dem Rechtsgut der Freiheit einen hohen Rang beimißt, dem gegenüber andere weniger wichtige Rechtsgüter zurücktreten müssen. Die vom Gesetz angegebene Höchstdauer von zwölf Stunden bedeutet nicht, daß diese Frist in jedem Fall ausgeschöpft werden darf. Vielmehr kann es sich wegen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in aller Regel nur um einen kurzfristigen Gewahrsam von wenigen Stunden handeln (Marschner/Nolckart, Rn. 55, 56; OVG Münster NJW 1980, 138, 1392).

Ferner sind die Ausführungen des Landgerichts über die nachträgliche Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung über die Freiheitsentziehung gemäß §§ 181 Abs 4 L VwG; 163 c Abs. 1 Satz 2 StPO (vgl. auch Art. 104 Abs 2 GG und § 13 Abs. 1 FEVG) rechtsfehlerhaft. Die gesetzlich erlaubte Ausnahme (BVerfG NJW 2002, 3161, 3162) der Nachholung dieser

Entscheidung ist mehrfach eingeschränkt. Zum einen ist die richterliche Entscheidung unverzüglich - das heißt ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen läßt (BVerfG a.a.O.) - nachzuholen. Solche Gründe sind weder dem vom Landgericht festgestellten Sachverhalt noch den Akten sonst zu entnehmen. Wie zur Frage der erforderlichen Dauer der Identitätsfeststellung (siehe oben) fehlen Angaben, wie die Verzögerung zwischen 14.00 Uhr und 16.00 Uhr zu erklären ist, und ist die "Einsatzbelastung" als Rechtfertigungsgrund einer Verzögerung nicht überzeugend erläutert. Die fehlende Möglichkeit, einen Richter zu erreichen, beurteilt sich entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht danach, ob und inwieweit ein Bereitschaftsdienst eingerichtet ist oder nicht, sondern allein nach den Ausführungen des in anderem Zusammenhang von ihm zitierten BVerfG in seinem Beschluß vom 15.05.2002 a.a.O.. Danach trifft den Staat die verfassungsrechtliche Verpflichtung, die Erreichbarkeit eines zuständigen Richters jedenfalls zur Tageszeit (§§ 188 Abs. 1 ZPO, 104 Abs. 3 StPO), also in der Zeit vom 1.04. bis zum 30.09. von 4.00 Uhr bis 21.00 Uhr zu gewährleisten. Scheitert die gebotene Vorführung daran, daß in dieser Zeit ein zuständiger Richter nicht erreichbar ist, so wird die Freiheitsentziehung rechtswidrig, und ist der Betroffene zu entlassen. Die nach dieser Maßgabe gebotene Vorführungspflicht entfällt (nur), wenn anzunehmen ist, daß die richterliche Entscheidung erst nach Wegfall des Grundes der polizeilichen Maßnahmen ergehen würde (§ 181 Abs. 4 Satz 2 LVwG) bzw. - was gleichbedeutend ist - wenn die Herbeiführung der richterlichen Entscheidung voraussichtlich längere Zeit in Anspruch nehmen würde, als zur Feststellung der Identität erforderlich wäre (§ 163 c Abs. 1 Satz 2 StPO). Im Ergebnis wird danach immer dann eine Vorführung geboten sein, wenn diese einschließlich der richterlichen Entscheidung - diese hat die Voraussetzungen der Identitätsfeststellung und der notwendigen Dauer zum Gegenstand - mutmaßlich weniger Zeit in Anspruch nehmen würde, als mutmaßlich die Identifizierung. Dies erfordert eine zweifache Prognoseentscheidung der behandelnden Beamten (BVerfG a.a.O.). Auch hierzu hat das Landgericht keine Tatsachenfeststellungen getroffen.

Für die Zeit nach 4.00 Uhr am 27.08.2002 hat das Landgericht rechtsfehlerhaft nicht hinreichend begründet, daß die Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung, die insoweit nach §§ 204 Abs. 6, 181 Abs. 4 LVwG geboten war, erst gegen Mittag am 27.08.2002 die Voraussetzung der Unverzüglichkeit erfüllt. Auch insoweit war zu prüfen, ob die mutmaßliche Dauer der behördlichen Verwahrung bis zur Vorführung des Betroffenen im Zusammenhang mit dem Antrag auf Abschiebungshaft nach § 57 AuslG einschließlich der richterlichen Anordnung die mutmaßliche Dauer, eine richterliche Entscheidung zunächst über den Gewahrsam nach § 204 Abs. 1 Nr. 2 L VwG S-H zu erlangen, überschreitet. Sollte dies nach der anzustellenden Prognose der Fall sein, hätte früher eine richterliche Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer der behördlichen Freiheitsentziehung im Sinne der §§ 203 Abs. 6; 181 Abs. 4 LverwG herbeigeführt werden müssen.