OVG Saarland

Merkliste
Zitieren als:
OVG Saarland, Beschluss vom 24.01.2003 - 9 W 50/02 - asyl.net: M3659
https://www.asyl.net/rsdb/M3659
Leitsatz:

Verpflichtung zur Rückholung von Ausländern nach rechtswidriger Abschiebung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren; Verletzung des Schutzes von Ehe und Familie durch Abschiebung eines Teils der Familienmitglieder, wenn mangels Reisedokumenten eine Abschiebung oder freiwillige Ausreise des Rests der Familie auf längere Zeit ausgeschlossen ist.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Türken, Syrer, Abschiebung, Vollzug, Rechtswidrigkeit der Abschiebung, Schutz von Ehe und Familie, Familieneinheit, Eltern, Kinder, Beistandsgemeinschaft, Duldung, Rechtliche Unmöglichkeit, Passbeschaffung, Mitwirkungspflichten, Folgenbeseitigungsanspruch, Wiedereinreise, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Einstweilige Anordnung, Vorwegnahme der Hauptsache, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: VwGO § 123; VwGO § 80 Abs. 7; AuslG § 55 Abs. 4 S. 1; AuslG § 8 Abs. 1 S. 1; GG Art. 6
Auszüge:

Unter Abänderung Beschlüsse des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 4. April 2002 - 5.F 6/02 - und vom 3. Dezember 2002 - 5 F92/02 - und des Senats vom 29.5.2002 - 9 W 11/02 - wird der Antragsgegner verpflichtet,

- den Antragstellern vorläufig das Betreten der Bundesrepublik, Deutschland vorübergehend zu erlauben,

- die von der Bundesrepuplik Deutschland her möglichen Voraussetzungen für eine Rückschaffung der Antragsteller unter Übernahme der Reisekosten ab dem ersten Ort der Wiederaufnahme ihres Aufenthaltes in der Türkei binnen drei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses zu schaffen und

- den Antragstellern über ihren Prozeßbevollmächtigten unverzüglich nach Herstellung der Rückschaffungsvoraussetzungen unter Fristsetzung Gelegenheit zur Wiedereinreise das Bundesgebiet einzuräumen.

Der Vollzug der Abschiebung hat keine Erledigung des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens bewirkt. Zwar war der ursprüngliche Antrag nach § 123 VwGO auf Untersagung der Abschiebung der unanfechtbar (rechtskräftig im Sinne von § 55 IV 1 AuslG) ausreisepflichtigen Antragsteller "am heutigen Tag, dem 3.12.2002" gerichtet und ist die Abschiebung, die sich hier - eine ausdrückliche Abschiebungsanordnung ist nicht ergangen - als Realakt darstellt, (vgl. dazu GK-AuslR, Oktober 1996, II - § 49 Rdn. 71 f. ) an diesem Tag durch Verbringung der Antragsteller mit dem Flugzeug in die Türkei vollzogen worden; daraus kann aber nicht abgeleitet werden, daß das Rechtsschutzziel des Anordnungsverfahrens, den erstinstanzlich geltend gemachten grundgesetzlich garantierten Schutz der Familie aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK zu gewährleisten, überhaupt nicht mehr zu erreichen wäre (vgl. zum Eintritt der Erledigung: Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Auflage 1998, Rdn. 389).

Maßgebend ist vorliegend, daß die Abschiebung zur Folge hat, daß die Familie der Antragsteller in grundgesetzwidriger Weise auseinandergerissen worden ist. Der Schutz der Familie aus Art. 6 GG ist mit ihrem Vollzug vom Antragsgegner mißachtet worden. Dies gilt insbesondere für die Trennung der zur Familie gehörenden Kinder, der Antragsteller zu 2. bis 5., von ihrer Mutter. Das Bundesverfassungsgericht hat etwa in seinem Beschluß vom 31.8.1999 - 2 BvR 1523/99 -, NVwZ 2000, 59 f, eindeutig klargestellt, daß Art. 6 I GG die Ausländerbehörde verpflichtet, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen bestehende familiäre Bindungen zu berücksichtigen und daß sich eine ausländerbehördlich bewirkte längere Trennung, insbesondere kleiner Kinder von auch nur einem Elternteil im Sinne von Art. 6 II GG als unzumutbar und unverhältnismäßig erweisen kann (vgl. dazu auch den Beschluß des OVG Saarland vom 24.1.2000 1 V 1/OO - 1 W 4/00 - ).

Zwar hat das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung an Hand des Falles, daß ein Kind oder ein Elternteil ein dauerhaft gesichertes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet besitzt, entwickelt. Die herausgearbeiteten Belange aus dem Anspruch "jedes Kindes auf Umgang mit beiden Elternteilen und der Hinweis auf die besondere Situation kleiner Kinder, bei denen von einer schnell voranschreitenden Persönlichkeitsentwicklung auszugehen ist, die bereits durch eine mehr als nur kurzfristige Trennung negativ beeinträchtigt werden kann, belegen, daß diese Rechtsprechung im Grundsatz in jedwedem Fall der Trennung von jedenfalls kleinen Kindern von einem Elternteil durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen einschlägig ist, wenn feststeht, daß die Zeitdauer der Trennung von Eltern bzw. von einem Elternteil, mit denen bzw. dem zusammen eine Beistandsgemeinschaft besteht und einem Kind nach Maßgabe des Einzelfalles als unzumutbar lange anzusehen ist. Daraus folgt, daß die Ausländerbehörden bei bevorstehenden Abschiebungen diesen Gesichtspunkt in die Prüfung, ob der Abschiebung Hindernisse im Sinne von § 55 AuslG entgegenstehen, dann zu berücksichtigen und sorgfältig zu erwägen haben, wenn dahingehende Anhaltspunkte vorliegen.

Liegen diese Voraussetzungen vor, läßt sich das ursprüngliche Rechtsschutzziel der Antragsteller auch noch nach Vollzug der Abschiebung ohne weiteres dadurch erreichen, daß die Abschiebung und ihre Folgen aus § 8 II 1 AuslG rückgängig gemacht werden, indem der Antragsgegner deren Wiedereinreise in das Bundesgebiet zustimmt und den Antragstellern die Möglichkeit eröffnet,

diese auch tatsächlich durchzuführen (vgl. dazu VG Frankfurt/M., NJW 1972, 2199 f.).

Ausgangspunkt des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens ist nämlich die Abschiebung als Vollstreckungsmaßnahme (hier) ohne Verwaltungsaktscharakter. Gegen diese und die von ihr ausgehenden Rechtswirkungen kann sich der betroffene Ausländer jedenfalls im Falle rechtskräftiger Abschiebungsandrohung, wie dies vorliegend der Fall ist, nur unter Berufung auf Gründe des § 55 IV 1 AuslG wehren. Über diese hat die Ausländerbehörde nach Maßgabe pflichtgemäßen Ermessens zu entscheiden, ohne daß dem Ausländer ein Anspruch zusteht.

Rechtsschutz ist im Wege einer Feststellungs- oder Unterlassungsklage gegen die Abschiebung bzw. entsprechenden Eilrechtsschutzes nach § 123 VwGO zu gewähren (Renner, AuslR, 7. Auflage 1999, § 55 AuslG 9 ff; GK-AuslR, Oktober 1996, § 49 Rdn. 38, 40, 72; Kopp/Schenke, a.a.O., § 43 Rdn. 11), wobei eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren regelmäßig zu spät kommen dürfte und nach Vollzug der Abschiebung effektiver Rechtsschutz gegen die Abschiebung selbst nicht mehr zu erreichen ist. Für Vollstreckungsmaßnahmen, die vollzogen worden sind, ergibt sich aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit und Rechtmäßigkeit der Verwaltung gemäß Art. 20 III GG ein Folgenbeseitigungsanspruch, wenn durch den hoheitlichen Eingriff ein subjektives Recht des Betroffenen verletzt wird, in dessen Folge ein andauernder rechtswidriger Zustand entstanden ist (vgl. Sadler, VwVG - VwZG, 5. Auflage 2002, § 15 VwVG Rdn. 20 m.w.N.).

Dieser Anspruch kann zur Hauptsache mit einer auf Folgenbeseitigung gerichteten Klage geltend gemacht und vorläufig über § 123 VwGO, der die Klageerhebung nicht voraussetzt (vgl. § 123 I 1 VwGO), gesichert werden. Diesem Rechtsschutzziel haben die Antragsteller, deren ursprüngliches Beschwerdebegehren bei verständiger Würdigung auf einstweilige Untersagung der Abschiebung gerichtet war, durch den Antrag vom 13.12.2002, den Antragsgegner zu verpflichten, der Wiedereinreise der Antragsteller zuzustimmen, Rechnung getragen.

Im Hinblick auf die bereits dargestellte Beeinträchtigung des Grundrechtes der Antragsteller aus Art. 6 GG vertritt der Senat die Auffassung, daß das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache vorliegend zurückzutreten hat. Zum Zeitpunkt der Abschiebung der Antragsteller mußte der Antragsgegner mit Blick auf die von ihm mit dem Schreiben vom 15.11.2002 an die Deutsche Botschaft in Damaskus aufgenommenen Ermittlungen davon ausgehen, daß sie bei einer Abschiebung der abschiebungsfähigen Familienmitglieder diese von ihrer Ehefrau bzw. Mutter für möglicherweise mehr als sechs Monate trennen würde. Angesichts der zu erwartenden Schwierigkeiten derartiger Nachforschungen in Syrien mußte sie von der erfahrungsgemäß längsten Bearbeitungsdauer ausgehen und berücksichtigen, daß - den Erfolg der eingeleiteten Nachforschungen vorausgesetzt - danach weitere Maßnahmen zur Beschaffung von Paßersatzpapieren und einem Visum für die Türkei in die Wege zu leiten sind, die ihrerseits einige Zeit - für die Visumserteilung, wie dargelegt, vier Wochen, für die Beschaffung von Ersatzpapieren voraussichtlich längere Zeit - in Anspruch nehmen werden. Daraus wird deutlich, daß der Antragsgegner mit der Abschiebung der Antragsteller eine Trennung der Familie von einer Dauer bewirkt hat, die nicht mehr als kurzfristige Trennung anzusehen ist.

Offen bleiben kann danach, ob der Umstand der Aufhebung der Zielstaatsbestimmung durch die abschließende Entscheidung des Verwaltungsgerichts in dem von der Ehefrau und Mutter der Antragsteller betriebenen Asylverfahren, die offensichtlich zwischenzeitlich nicht durch eine neue Zielstaatsbestimmung ersetzt worden ist, zu einer weiteren Verzögerung von deren Aufenthaltsbeendigung führt. Diesbezüglich hat das Verwaltungsgericht in seinem zwischen den Beteiligten ergangenen Beschluß vom 4.4.2002 - 5 F 6/02 -, den es in dem vorliegend zugrundeliegenden Beschluß in Bezug genommen hat, im übrigen zutreffend darauf hingewiesen, daß es der Familie der Antragsteller nach Erhalt des von der Ehefrau bzw. Mutter der Antragsteller beantragten Visums für die Türkei zumutbar sei, gemeinsam auszureisen und so eine Trennung zu vermeiden. Dies würde allerdings den Besitz der Papiere voraussetzen. Bis dahin sind weder die Antragsteller noch die Ehefrau bzw.Mutter in der Lage, den Zustand der Trennung ohne weiteres aus eigener Kraft zu beseitigen. Dem Antragsgegner ist zwar darin zuzustimmen, daß es dem Antragsteller zu 1. unbenommen bleibt, sich bei den jeweiligen Behörden bzw. konsularischen Vertretungen in der Türkei um den Erhalt von Personaldokumenten bzw. eines Einreisevisums für seine Ehefrau zu bemühen. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür, daß dadurch eine Abkürzung der Trennungszeit für die Familie bewirkt werden könnte, sind jedoch nicht ersichtlich, zumal in der Regel bei der Beschaffung derartiger - hier auch syrischer - Papiere vom Erfordernis der persönlichen Vorsprache der sie beantragenden Person auszugehen sein dürfte, wie dies beispielsweise auch für den im November 2002 gestellten Visumsantrag beim Türkischen Generalkonsulat durch die Ehefrau bzw. Mutter der Antragsteller nötig war.

Mußte der Antragsgegner mithin zum Zeitpunkt der Abschiebung der Antragsteller ohne die Ehefrau bzw. Mutter von einer aller Voraussicht nach deutlich über sechsmonatigen Trennungszeit ausgehen, hat er mit der Abschiebung gegen Art. 6 I GG verstoßen. Wie der bereits dargelegten, Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (a.a.O.) zu entnehmen ist, genießt eine funktionierende familiäre Lebensgemeinschaft von Eheleuten mit minderjährigen Kindern im Sinne einer Beistandsgemeinschaft, wie dies bei der Familie der Antragsteller der Fall ist, den verfassungsrechtlichen Schutz nach Art. 6 I und II GG. Besonderen Schutz genießt dabei regelmäßig der Anspruch eines Kindes auf ungestörte Gemeinschaft mit beiden Elternteilen. Davon ausgehend stellt sich eine vorübergehende Trennung eines Elternteiles von den Kindern zwar noch nicht als unverhältnismäßig und damit unzumutbar dar; bei der Bewertung einer durch Aufenthaltsbeendigung bewirkten Trennungszeit als vorübergehend ist aber zu beachten, daß gerade bei kleinen Kindern die persönliche Entwicklung sehr schnell voranschreitet, so daß bereits eine kurze Trennungszeit im Hinblick auf Art. 6 II GG unzumutbar lang sein kann.

Als unverhältnismäßig in diesem Sinne sieht der Senat das hier vom Antragsgegner bewirkte Auseinanderreißen der Familie für einen zwar vorübergehenden, aber längerfristigen Zeitraum an. Entscheidend hierfür ist, daß Art. 6 GG in der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht den Zusammenhalt von vorhandenen Eltern zu ihren noch beistandsbedürftigen Kindern und damit den Zusammenhalt der Familie insgesamt als Lebens-, Erziehungs- und Beistandsgemeinschaft, die die kindliche Entwicklung entscheidend prägt und daher einen existenziellen Belang jeder Familie darstellt, vor staatlichen Eingriffen, die sich nicht durch ein überwiegendes Interesse rechtfertigen lassen, schützt. Wird eine derartige Gemeinschaft durch eine längerfristig zu erwartende Trennung auch nur vorübergehend gestört, drohen durchaus sich als irreparabel darstellende, nicht oder nur schwer aus ausgleichbare Nachteile für die Erziehung und Entwicklung der Kinder. Besonders schwerwiegend ist der Eingriff hier durch die Trennung insbesondere des Antragstellers zu 4., der sechs Jahre alt und des Antragstellers zu 5., der knapp 4 Jahre alt ist, von ihrer Mutter.

Dabei kommt es nicht darauf an, daß der gesetzlich geschützte Anspruch auf die Betreuung durch beide Eltern nicht von allen Familien jederzeit gewährleistet wird oder werden kann. Entscheidend ist vielmehr, daß die grundgesetzliche Regelung die jeweils bestehende Beistandsgemeinschaft von Eltern und Kindern vor staatlichen Eingriffen schützt, wenn nicht ausnahmsweise überwiegende staatliche Belange einen derartigen Eingriff, hier das Auseinanderreißen der Familie der Antragsteller, rechtfertigen. Für den letztgenannten Gesichtspunkt spricht hier nichts.

Der Antragsgegner kann sich vielmehr alleine auf seine Verpflichtung zur Aufenthaltsbeendigung ausreisepflichtiger Ausländer berufen, ohne daß darüber hinausgehende dringliche oder sonst erhebliche Gründe für die Abschiebung von Mitgliedern der Familie der Antragsteller zu unterschiedlichen Zeitpunkten ersichtlich sind. Der Bezug von staatlichen Leistungen ist im Hinblick auf die vorrangige Verwirklichung der Grundrechte der Antragsteller nicht geeignet, einen derartigen überwiegenden staatlichen Belang zu begründen. Im übrigen ist zu sehen, daß der Antragsgegner bereits seit geraumer Zeit von der bestehenden Ausreisepflicht der Antragsteller ausgehen mußte, ohne nachhaltige Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung ergreifen. Dies gilt auch angesichts der jedenfalls für die Vergangenheit festzustellenden fehlenden Anstrengungen der Antragsteller, ihrer Ausreiseverpflichtung durch mitwirkendes Bemühen nachzukommen. Verstöße gegen die aus § 70 I AuslG folgenden Mitwirkungspflichten der Ausländer vermögen überwiegende Belange in diesem Sinne nicht zu begründen, zumal die Ausländerbehörden in der Lage sind, erforderliche Mitwirkungshandlungen zu erzwingen, (§ 70 IV AuslG) und ihrerseits die Beschaffung von erforderlichen Dokumenten in die Wege zu leiten.

Nach allem ist festzustellen, daß der Abschiebung im Hinblick auf § 55 IV 1 AuslG zwingende Gründe aus Art. 6 GG im Sinne einer rechtlichen Unmöglichkeit entgegenstanden, die alleine die Entscheidung zum Absehen von der Abschiebung Antragsteller auf der Grundlage einer Ermessensreduzierung auf Null als geboten erscheinen ließen.