OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 20.05.2003 - 11 LB 35/03 - asyl.net: M3857
https://www.asyl.net/rsdb/M3857
Leitsatz:

Altfallregelung von 1990 erfasst keine vermeintlich staatenlosen Kurden aus dem Libanon, die tatsächlich die türkische Staatsangehörigkeit besitzen.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Libanon, Kurden, Staatsangehörigkeit ungeklärt, Staatsangehörigkeit, Türkei, Türken, Aufenthaltsbefugnis, Bleiberechtsregelung 1990, Auslegung, Verlängerung, Aufenthaltsbefugnis, Humanitäre Gründe, Ausweisung, Erschleichen einer Aufenthaltsgenehmigung, Sozialhilfebezug
Normen: AuslG § 99 Abs. 1; AuslG § 30 Abs. 2; AuslG § 45; AuslG § 46 Nr. 6; AuslG § 92 Abs. 2 Nr. 2
Auszüge:

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis.

Eine weitere Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis auf der Grundlage des Bleiberechtserlasses 1990 setzt voraus, dass die Kläger zu dem vom Erlass begünstigten Personenkreis gehören. Das ist nicht der Fall. Der Bleiberechtserlass 1990 bestimmt u.a.:

Flüchtlinge, die sich am 1.8.1990 legal in Niedersachsen aufgehalten haben, erhalten auf Antrag eine Aufenthaltserlaubnis, wenn sie Staatsangehörige der Staaten Afghanistan, Albanien, Irak, Iran, Libanon oder Sri Lanka, Palästinenser oder Kurden aus dem Libanon, Christen oder Yeziden aus der Türkei sind...". .

Der Senat lässt offen, ob die Kläger einem kurdischen oder arabischen Stamm angehören; denn sie fallen schon deswegen nicht unter den Erlass, weil sie die türkische Staatsangehörigkeit besitzen.

Der Bleiberechtserlass 1990 erfasst nur staatenlose Kurden bzw. Kurden mit unaufklärbarer Staatsangehörigkeit aus dem Libanon.

Der Wortlaut des Erlasses 1990 ist allerdings nicht eindeutig. In ihm wird einerseits von "Staatsangehörigen des Staates Libanon" gesprochen, andererseits von "Palästinensern oder Kurden aus dem Libanon, Christen oder Yeziden aus der Türkei". Da der Erlass zunächst ausdrücklich die "Staatsangehörigen" erwähnt, könnte das dafür sprechen, dass hinsichtlich der Kurden, Palästinenser etc. nur Staatenlose gemeint sein sollen. Ebenso kann man aber auch argumentieren, da bei Kurden, Palästinensern etc. keinerlei Aussagen zur Staatsangehörigkeit /Staatenlosigkeit gemacht werden, sei dieses Merkmal für diese Gruppe unerheblich.

Die Handhabung des Erlasses durch untergeordnete Stellen ist ebenfalls nicht eindeutig.

Auch die weiteren im Zusammenhang mit der Bleiberechtsregelung 1990 ergangenen Regelungen lassen keine klaren Rückschlüsse zu.

Zum Verständnis des Erlasses ist daher maßgeblich auf die dem Erlass selbst zugrunde liegenden Umstände sowie auf seinen Sinn und Zweck abzustellen. Hier verweist der Beklagte zutreffend darauf, dass maßgeblich für die Bleiberechtsregelung der Umstand war, dass die betreffenden Personengruppen aus rechtlichen, tatsächlichen oder humanitären Gründen nicht abzuschieben waren (vgl. Ziff. 1 des Erlasses). Im Vordergrund stand somit die Überlegung, dass für die betreffenden Personen eine Rückkehr in ihren Heimatstaat nicht möglich war. Es spricht Überwiegendes dafür, dass bei Bekanntgabe des Erlasses allgemein für Kurden aus dem Libanon von einer Rückkehrmöglichkeit in (irgend) einen Heimatstaat nicht ausgegangen wurde. Schon 1990 war nämlich - wie sich aus den vorliegenden Unterlagen (vgl. Beiakte N, Anl. 3-5, sowie die Stellungnahme von Henninger in Beiakte M) ergibt, bekannt, dass sich seit den zwanziger Jahren Kurden insbesondere aus der Gegend von Mardin im Libanon angesiedelt haben. Sie waren illegal in den Libanon eingereist. Anfang der siebziger Jahre sind dann nochmals zahlreiche Arbeitsimmigranten hauptsächlich aus der Türkei und dem Irak nach Libanon gekommen. Es ist daher naheliegend, dass bei Erlass der Bleiberechtsregelung 1990 die Überlegung im Vordergrund stand, da die Kurden schon seit Jahrzehnten, zum Teil seit mehreren Generationen im Libanon wohnten, würden sie entweder nicht mehr über die Staatsangehörigkeit ihres ursprünglichen Herkunftsstaates verfügen oder diese Staatsangehörigkeit wäre zumindest von deutschen Behörden nicht mehr aufzuklären. Dafür, dass nach allgemeiner 1990 vorherrschender Auffassung von dem Bleiberechtserlass nur staatenlose Kurden oder zumindest nur Kurden mit unaufklärbarer Staatsangehörigkeit erfasst sein sollten, spricht ein vor Bekanntgabe des Erlasses 1990 ergangenes Rundschreiben der mit der Materie damals befassten Rechtsanwälte (u.a. auch des Prozessbevollmächtigten des vorliegenden Verfahrens) vom Oktober 1990, in dem gerade auf die Voraussetzungen der Staatenlosigkeit hingewiesen wird; denn es heißt dort u.a.:

"Nach den vorliegenden Informationen wird das Land Niedersachsen all jenen Flüchtlingen auf deren Antrag hin eine Aufenthaltserlaubnis erteilen, die entweder sich seit mindestens dem 1.1.1996 rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben und zum 1.8.1990 legal in Niedersachsen waren, oder aber allen Staatsangehörigen aus Afghanistan, ... Libanon (einschließlich der Staatenlosen (Anm.: Unterstreichung durch den Senat) Sri Lanka, Iran sowie Christen und Yeziden aus der Türkei, die bis zum 1.8.1990 legal in Niedersachsen waren..."

Die jetzt aufgetretene Fallkonstellation, dass Ausländerbehörden durch intensive Nachforschungen die Staatsangehörigkeit von Kurden aus dem Libanon nachträglich ermitteln können, hatte man mithin nach Einschätzung des Senats damals gar nicht konkret vor Augen. Da die dem Erlass zugrunde liegende Vorgabe - keine Abschiebungsmöglichkeit, sondern Verbleib im Bundesgebiet aus rechtlichen, tatsächlichen oder humanitären Gründen - für diese Fälle nicht zutrifft - die Kläger konnten/können in die Türkei abgeschoben werden -, unterfallen Konstellationen der vorliegenden Art nicht dem Erlass.

Der Vortrag der Kläger, ursprünglich sei die Bleiberechtsregelung vom Oktober 1990 in der Praxis weit ausgelegt und auf alle aus dem Libanon kommenden Kurden (die dort eine gewisse Zeit gelebt haben) angewandt worden, der Anwendungsbereich der Regelung sei erst zu dem Zeitpunkt überdacht worden, als sich abgezeichnet habe, dass ein Großteil dieser aus dem Libanon kommenden Kurden doch eine Staatsangehörigkeit (nämlich die türkische) besitze, mag zutreffen, kann aber nicht entscheidend für die Auslegung des Erlasses sein. Allerdings war es so, dass etwa erst seit Mitte der 90er Jahre sehr arbeitsintensive Nachforschungen einzelner Ausländerbehörden zu der Feststellung führten, dass ein Großteil der "Kurden aus dem Libanon" (in der Regel Großfamilien) noch in türkischen Registern geführt werden und daher als türkische Staatsangehörige anzusehen sind, so dass überhaupt erst seit dieser Zeit verstärkt die Frage auftrat, wie die Bleiberechtsregelung zu verstehen ist. Allein dass die Fallkonstellation - Nachweismöglichkeit der türkischen Staatsangehörigkeit von aus dem Libanon kommenden Kurden - bei Erlass der Bleiberechtsregelung und in den nachfolgenden Jahren zunächst nicht aktuell vor Augen stand, reicht jedoch nicht aus, um der Frage nach der Staatsangehörigkeit bei Anwendung der Bleiberechtsregelung keinerlei Bedeutung beizumessen. Zu fragen ist vielmehr, wie die Bleiberechtsregelung erfolgt wäre, wenn man schon Ende 1990 positiv davon ausgegangen wäre, dass ggf. die türkische Staatsangehörigkeit von Kurden aus dem Libanon nachzuweisen ist. Da diese Personen über einen Herkunftsstaat verfügen, in den sie hätten zurückkehren können, hätten der Beendigung des Aufenthalts keine rechtlichen, tatsächlichen oder humanitären Gründe entgegengestanden und es ist nicht ersichtlich, weshalb der Nds. MI dieser Gruppe gleichwohl ein auf Dauer angelegtes Bleiberecht hätte geben sollen.

Die Kläger sind nicht staatenlos, sondern besitzen die türkische Staatsangehörigkeit.

Es ist auch davon auszugehen, dass zumindest der Klägerin zu 1) die türkische

Staatsangehörigkeit, wenigstens aber die Möglichkeit des Bestehens einer türkischen Staatsangehörigkeit, von Anfang an bewusst war. Die Kinder, die Kläger zu 2) bis 6), müssen sich die Kenntnis ihrer Mutter zurechnen lassen.

Aber selbst wenn man zugunsten der Kläger unterstellt, dass ihnen ihre türkische Staatsangehörigkeit oder die Möglichkeit einer türkischen Staatsangehörigkeit erst im Laufe des Verfahrens bekannt geworden ist, können sie die begehrte Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis nicht auf den Bleiberechtserlass 1990 (oder den Ergänzungserlass 1991) stützen; denn Kurden aus dem Libanon mit aufklärbarer Staatsangehörigkeit fallen - wie oben dargelegt - nicht unter den Erlass. Die Kläger können sich bei dieser Fallkonstellation auch nicht etwa auf Nr. 10 des Bleiberechtserlasses 1990 (bestätigt durch Ergänzungserlass 1991) berufen. In Nr. 10 ist u.a. bestimmt:

"Mit Inkrafttreten des neuen Ausländergesetzes vom 1.1.1991 gelten nach dieser Regelung erteilte befristete Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 94 Abs. 3 Nr. 3 i.V.m. § 99 AuslG n.F. als Aufenthaltsbefugnisse fort, die gemäß § 99 Abs. 1 AuslG abweichend von § 34 Abs. 2 AuslG n.F. zu verlängern sind."

Der dortige Hinweis auf § 99 Abs. 1 AuslG einerseits und § 34 Abs. 2 AuslG andererseits macht deutlich, dass das in § 99 Abs. 1 AuslG generell für die Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis eröffnete Ermessen ausnahmsweise gebunden ist, soweit es die Vorschrift des § 34 Abs. 2 AuslG betrifft. Es ist mithin bei Verlängerung einer Aufenthaltsbefugnis unerheblich, ob die Voraussetzungen des § 34 Abs. 2 AuslG vorliegen. Unerheblich ist bezogen auf das vorliegende Verfahren also, ob eine Rückkehr in den Libanon unter humanitären, völkerrechtlichen oder politischen Aspekten nunmehr möglich ist. Eine weitergehende Bindung ist dem Erlass von 1990 bzw. dem Ergänzungserlass vom 14. Februar 1991 entgegen der Auffassung der Kläger dagegen nicht zu entnehmen. Eine Verpflichtung zur ständigen Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis nur weil einmal die Erlassvoraussetzungen bejaht wurden, enthält der Erlass nicht. Insbesondere kann jederzeit neu überprüft werden, ob überhaupt die Grundvorgaben des Erlasses - hier also Staatenlosigkeit oder unaufklärbare Staatsangehörigkeit bei Kurden aus dem Libanon - vorliegen.

Eine Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis nach § 30 AuslG kommt nicht in Betracht. Da die Kläger in der Vergangenheit über eine Aufenthaltsbefugnis verfügten, sich also rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, käme als Anspruchsgrundlage § 30 Abs. 2 AuslG in Betracht. Dringende humanitäre Gründe für einen Verbleib im Bundesgebiet sowie eine außergewöhnliche Härte bei einer Ausreise in die Türkei vermag der Senat aber nicht zu erkennen. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass die Kläger weder wirtschaftlich noch gesellschaftspolitisch integriert sind. Sie sind vielmehr nach wie vor von Sozialhilfe abhängig bzw. dem türkischen bzw. arabischen Kulturkreis verhaftet, wie etwa die von der Klägerin zu 6) in der mündlichen Verhandlung erwähnte Heirat ihrer Schwester, der Klägerin zu 2) nach islamischen Recht belegt. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass - wie oben ausgeführt - Mitglieder der Familie der Kläger bereits in die Türkei abgeschoben wurden, so dass die Kläger bei Rückkehr in die Türkei nicht auf sich allein gestellt sind.

Die Ausweisungsentscheidung des Beklagten begegnet ebenfalls keinen Bedenken. Maßgeblich für die rechtliche Überprüfung ist insoweit die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung. Gemäß §§ 45, 46 Nr. 6 AuslG kann insbesondere ausgewiesen werden, wer für sich und seine Familie Sozialhilfe in Anspruch nimmt. Das war und ist bei den Klägern der Fall. Ermessensfehler sind nicht ersichtlich. Insbesondere aufgrund des langjährigen Bezugs von Sozialhilfe und der Tatsache, dass eine wesentliche Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse nicht erkennbar ist, konnte der Beklagte ohne Ermessensfehler trotz des schon sehr langen Aufenthalts der Kläger im Bundesgebiet die Ausweisung verfügen.

Darüber hinaus und selbständig tragend hat der Beklagte die Ausweisungsverfügung ermessensfehlerfrei zudem auf §§ 45,46 Nr.2 i.V.m. 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG gestützt; denn die Kläger haben unrichtige oder unvollständige Angaben über ihre Beziehungen zur Türkei gemacht und diese Angaben auch lange aufrecht erhalten. So war das gesamte erstinstanzliche Verfahren wesentlich von dem Vortrag der Kläger geprägt, sie seien keine türkischen Staatsangehörigen, hätten also keine Berührungspunkte mit der Türkei, was ausweislich der oben dargelegten Beziehung zu Verwandten, die z.T. über einen türkischen Reisepass verfügten, nicht zutraf.