VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 31.03.2003 - 13 S 516/02 - asyl.net: M3869
https://www.asyl.net/rsdb/M3869
Leitsatz:

1. Die Erfüllung mehrerer Ausweisungsschutztatbestände (hier: § 48 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 und 5 AuslG) führt nicht gleichsam automatisch zur Bejahung eines Ausnahmefalls und damit zur (weiteren) Herabstufung der Regel- zur Ermessensausweisung.

2. Maßgeblich für die Verneinung eines Regelfalls ist auch bei Erfüllung mehrerer Privilegierungstatbestände gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG stets, ob darüber hinaus einzelfallbezogen Tatbegehungs- oder persönliche Lebensumstände vorliegen, die einen atypischen Fall begründen. (Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Äthiopier, Asylberechtigte, Unbefristete Aufenthaltserlaubnis, Ausweisung, Straftäter, Verkehrsdelikte, Diebstahl, Drogendelikte, Ist-Ausweisung, Regelausweisung, Besonderer Ausweisungsschutz, Schwerwiegende Gründe, Spezialprävention, Wiederholungsgefahr, Atypischer Ausnahmefall, Ermessensausweisung, Anhörung
Normen: AuslG § 47 Abs. 3 S. 1; AuslG § 47 Abs. 1 Nr. 2; AuslG § 48 Abs. 1 Nr. 5; AuslG § 48 Abs. 1 Nr. 2; VwVfG § 28 Abs. 1; VwVfG § 46
Auszüge:

Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 und 5 AuslG bewirkt des Weiteren die Herabstufung des verwirklichten Ist-Ausweisungstatbestandes zu einem Regelausweisungstatbestand (§ 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG). Gründe dafür, dass die Ausländerbehörde von der Regelausweisung absehen musste, sind hier nicht gegeben.

Regelfälle im Sinn dieser Vorschrift sind solche, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleichliegender Fälle unterscheiden. Ausnahmefälle sind demgegenüber durch atypische Umstände gekennzeichnet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigen. Ein Ausnahmefall liegt ferner vor, wenn der Ausweisung unter Berücksichtigung des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 48 Abs. 1 AuslG höherrangiges Recht entgegensteht, diese insbesondere mit Verfassungsrecht (z.B. mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder dem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG) nicht vereinbar ist. Ob ein Ausnahmefall gegeben ist, unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung, bei der alle Umstände der strafgerichtlichen Verurteilung und die sonstigen Verhältnisse des Betroffenen, namentlich auch die in § 45 Abs. 2 AuslG an sich für Ermessensentscheidungen der Ausländerbehörden umschriebenen, zu berücksichtigen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.2.2002, a.a.O. S. 64 m.w.N.).

Im Hinblick auf die begangene Straftat ist ein atypischer Geschehensablauf nicht erkennbar. Eine Atypik ist nicht darin zu sehen, dass der Kläger nur eine relativ geringe Menge Haschisch veräußerte und es sich hierbei um eine "weiche" und damit weniger gefährliche Droge handelte, die zudem von der Polizei sichergestellt werden konnte. Ein atypischer Geschehensablauf könnte in Betracht gezogen werden, wenn die Sanktion des Erwerbs "weicher" Drogen zum Eigenkonsum in Rede stünde. Dem Kläger fällt indessen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (das zu insgesamt drei strafrechtlichen Verurteilungen führte) und damit eine der gefährlicheren und gemeinschädlicheren Begehungsweisen des § 29 Abs. 1 BtMG zur Last. Der Annahme eines atypischen Falls steht des weiteren - wie oben bereits ausgeführt wurde - entgegen, dass der Kläger mehrfach einschlägig vorbestraft und doppelt bewährungsbrüchig ist, sich weder durch die ausländerrechtlichen Verwarnungen noch durch die erlittene Strafhaft von der Begehung weiterer Straftaten abhalten ließ und zudem die Betäubungsmittelstraftaten aus rein wirtschaftlichen Erwägungen begangen hat. Dies alles lässt eine beträchtliche kriminelle Energie und nicht lediglich eine Gleichgültigkeit gegenüber der Rechtsordnung erkennen. Zu Recht hat deshalb das Landgericht festgestellt, dass der Kläger dazu neige, sich immer wieder über die Rechtsordnung hinwegzusetzen. Angesichts dieser Tatsache ist auch für eine atypisch geringe Wiederholungsgefahr nichts ersichtlich.

Ebenso wenig begründen die Lebensumstände des Klägers eine Atypik.

Der Tatsache, dass der Kläger bereits als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist und seit über zehn Jahren im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis ist, sowie dem Umstand, dass er als Asylberechtigter anerkannt ist und deshalb aus rechtlichen Gründen nicht in sein Heimatland abgeschoben werden darf, ist durch die Anwendung der Ausweisungsschutzvorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 und 5 AuslG bereits Rechnung getragen. Die Erfüllung mehrerer Ausweisungsschutztatbestände führt entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht gleichsam automatisch zur Bejahung eines Ausnahmefalles und damit zu einer weiteren Herabstufung der Regel- zur Ermessensausweisung. Maßgeblich für die Verneinung eines Regelfalls ist auch bei Erfüllung mehrerer Privilegierungstatbestände gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG vielmehr stets, ob darüber hinaus einzelfallbezogen Tatbegehungs- oder persönliche Lebensumstände vorliegen, die einen atypischen Fall begründen (vgl. hierzu und zum Folgenden bereits VGH Baden- Württemberg, Urteil vom 21.11.2002 - 14 S 2212/02 -). Denn der besondere Ausweisungsschutz steht dem Ausländer ungeachtet der jeweils einschlägigen tatbestandlichen Voraussetzungen jeweils nur einheitlich zur Seite. § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG unterscheidet nicht zwischen unterschiedlich begründeten Arten des Ausweisungsschutzes; die Vorschrift geht weiterhin davon aus, dass die in § 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG genannten Umstände (nur) die Herabstufung der Ist-Ausweisung zur Regelausweisung rechtfertigen. Die Annahme, dass die mehrfache Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG eine Ausweisung nur nach Ermessen zulasse, hätte demgegenüber einer ausdrücklichen Regelung bedurft. Ein solches Verständnis liefe zudem dem ausdrücklichen gesetzgeberischen Ziel, mit § 48 Abs. 1 AuslG die Privilegierungstatbestände auf der höchsten Stufe des Ausweisungsschutzes zusammenzufassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.6.1996 - 1 C 24.94 -, BVerwGE 101, 247 262 f.>) zuwider; denn bei einer zwar identischen Regelung über den Ausweisungsanlass - die schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung - würden mit den weiteren Rechtsfolgen - gleichsam automatische Herabstufung der Ist-Ausweisung zur Ermessensausweisung - in besonderer Weise herausgehobene Privilegierungstatbestände geschaffen. Demnach können selbst in außergewöhnlicher Weise verfestigte und tiefgreifende Bindungen im Inland, wie sie bei mehrfacher Erfüllung der in § 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG aufgeführten Privilegierungstatbestände vorliegen mögen, sich lediglich im Rahmen der nach § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG gebotenen Gesamtwürdigung der persönlichen Verhältnisse zu Gunsten des Ausländers auswirken (vgl. dazu bereits Senatsbeschluss vom 31.7.1996 - 13 S 466/96 -, InfAuslR 1996, 333 334, 336>).

Die danach gebotene Gesamtwürdigung der Lebensumstände des Klägers begründet keine Atypik. Anhaltspunkte für eine besondere Integration im Bundesgebiet sind nicht gegeben. Der Kläger, der über keinen Schulabschluss verfügt und die deutsche Sprache nur unzureichend beherrscht, war zwar erwerbstätig, jedoch unterbrochen von wiederholter Arbeitslosigkeit. Er ist ledig und hat keine Kinder. Es ist nicht erkennbar, dass er soziale Bindungen von besonderem Gewicht in Deutschland hat aufbauen können. Die große Anzahl von strafrechtlichen Verfehlungen während eines Zeitraums von 14 Jahren offenbart seine Unfähigkeit zu einem straffreien Leben in Deutschland.

Im übrigen ist zu berücksichtigen, dass hier angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falls der Erfüllung des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG schon deshalb kein besonderes eigenständiges Gewicht, das eine Atypik begründen könnte, beizumessen wäre, weil sie allein auf der aus der Anerkennung als Asylberechtigter resultierenden Einräumung eines Aufenthaltsrechts beruht. Gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG wird nämlich dem unanfechtbar als Asylberechtigter Anerkannten eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, ohne dass weitere Anforderungen erfüllt sein müssten. Der Erwerb der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis auf diesem Wege entspricht an sich nicht dem Leitbild des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG, der eine besondere Integration des Begünstigten vermutet. Der Vorschrift liegt zugrunde, dass eine tatsächliche Integration in die deutschen Lebensverhältnisse und eine damit verbundene Entfremdung vom Heimatland bei dem von ihr begünstigten Personenkreis typischerweise anzunehmen ist (vgl. Hailbronner, AuslR, § 48 AuslG RdNr. 7). Der Gesetzgeber verfolgte den Zweck, die Ausländer der 2. und folgenden Generationen den Aufenthaltsberechtigten gleichzustellen (vgl. BT -Drs. 11/6321 S. 73 zu § 48 Abs. 1 Satz 1; GK-AuslR II § 48 AuslG RdNr. 13). Es ist nicht ersichtlich, dass dem im Alter von 17 Jahren ins Bundesgebiet eingereisten Kläger ohne die Anerkennung als Asylberechtigter die in § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG geforderte unbefristete Aufenthaltserlaubnis hätte erteilt werden können. Demnach kann hier keine Rede davon sein, dass sich der besondere Ausweisungsschutz des § 48 Abs. 1 AuslG aus zwei unabhängig voneinander vorliegenden Tatbeständen ergibt.

Schließlich führt die unterbliebene Anhörung vor Erlass der Ausweisungsverfügung nicht zu deren Rechtswidrigkeit. Zwar dürfte das Regierungspräsidium Stuttgart gegen § 28 Abs. 1 VwVfG verstoßen haben, indem es den Kläger nicht zur beabsichtigten Ausweisung angehört hat.

Die Verletzung der Anhörungspflicht ist im Prozess grundsätzlich auch dann zu berücksichtigen, wenn der Betroffene sich nicht darauf beruft (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Aufl., § 28 RdNr. 78 m.w.N.). Allerdings handelt es sich um einen relativen Verfahrensfehler, der nach § 46 VwVfG nur dann zur Aufhebung des Verwaltungsakts führen könnte, wenn er sich auf das Ergebnis ausgewirkt haben kann (vgl. Kopp/Ramsauer, a.a.O. und § 46 RdNr. 26 f. m.w.N.). Daran fehlt es hier, da die Ausweisung des Klägers, wie oben dargelegt wurde, wegen Vorliegens eines Regelfalls rechtlich zwingend war und die Ausländerbehörde insoweit kein Ermessen auszuüben hatte.