VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 19.05.2003 - 25 K 7112/01 - asyl.net: M3877
https://www.asyl.net/rsdb/M3877
Leitsatz:

§ 51 Abs. 1 AuslG für Tschetschenen, der von russischen Soldaten als Geisel zum Zweck der Erpressung genommen worden ist; § 51 Abs. 1 AuslG wegen Gefährdung als ehemaliger Angehöriger der Rebellen; regelmäßig keine inländische Fluchtalternative für Tschetschenen; kein Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung gem. § 51 Abs. 3 AuslG wegen Teilnahme am Bürgerkrieg in Tschetschenien.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Russland, Tschetschenen, Rebellen, Kämpfer, SOON, Mitglieder, Haft, Geiselnahme, Lösegelderpressung, Glaubwürdigkeit, Amtswalterexzesse, Interne Fluchtalternative, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum, Registrierung, Zuzugsbeschränkungen, Terrorismusbekämpfung, Abschiebungsschutz, Ausschluss
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 51 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

Der Kläger hat Anspruch auf die Feststellung, dass Abschiebungshindernisse nach § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Russischen Föderation vorliegen.

Der Kläger ist vorverfolgt aus der Russischen Föderation ausgereist. Der Beigeladene ist tschetschenischer Volkszugehöriger, wie sich aus seinen überzeugenden Einlassungen in der mündlichen Verhandlung ergibt.

Der Kläger hat auch die erlittene Verfolgung widerspruchsfrei, in sich geschlossen und glaubhaft dargelegt. Er hat geschildert, wie er als Passagier eines Busses von russischen Soldaten festgenommen wurde, ohne dass er dazu Veranlassung gegeben hatte. Er konnte dieses Ereignis ebenso wie die Umstände seiner anschließenden Haft lebhaft und anschaulich sowie ohne Widersprüche zu seinen vorherigen Darlegungen beim Bundesamt schildern. Auch konnte er alle Nachfragen mühelos und ohne Zögern beantworten. Die Festnahme des Klägers stellt auch eine zielgerichtete politische Verfolgung dar. Die Maßnahme erfolgte nicht aus polizeilichen Gründen, etwa einer Überprüfung seiner Personalien. Das Ziel der Festnahme bestand offenbar allein in der Möglichkeit, für den Kläger ein Lösegeld erpressen zu können. Davon geht auch der Kläger aus. Er hat berichtet, dass ihm kein konkreter Vorwurf gemacht wurde und dass auch offenbar kein konkreter Verdacht gegen ihn vorlag. Wenn jemand einer Straftat verdächtigt worden sei, hätten die Russen den Verdächtigen nämlich gefoltert, das sei ihm aber nicht passiert. Damit scheidet auch aus, dass die Verhaftung auf Grund der Tatsache geschah, dass der Kläger - wie er in der mündlichen Verhandlung dargelegt hat - für die tschetschenischen Einheiten als Fahrer gearbeitet hat. Die Verhaftung sollte nicht der Ausübung legaler hoheitlicher Interessen dienen, sondern stellt eine Geiselnahme dar, sie diente nur der kriminellen Beschaffung von Einkünften für die russischen Soldaten.

Die Geiselnahme ist auch eine gezielte Rechtsverletzung, die vom russischen Staat ausgeht und an asylrechtsrelevanten Merkmalen des Klägers anknüpft. Der Kläger hat dargelegt, dass die Geiselnahme durch russische Soldaten erfolgte und in einer russischen Einrichtung, der Lager PAP-1 durchgeführt wurde. Es liegen auch keine Amtswalterexzesse vor, die dem russischen Staat nicht zurechenbar wären. Vielmehr sind die Taten im Rahmen der Verfolgungshandlungen zu sehen, die russische Soldaten und Sicherheitskräfte seit dem Ausbruch der erneuten Auseinandersetzungen mit tschetschenischen Rebellen auch an unbeteiligten Zivilisten in der Russischen Föderation begangen haben.

Der Übergriff war auch asylerheblich. Der Kläger ist massiv bedroht und in seiner Freiheit beraubt worden, um von seinen Angehörigen Geld zu erpressen. Die Freiheitsberaubung allein aus kriminellen Motiven stellt eine bewusst zugefügte asylerhebliche Verletzung dar.

Selbst wenn man diesen Übergriff noch nicht als asylrechtsrelevant ansehen würde, ist der Kläger jedenfalls vor unmittelbar drohenden Verfolgungen durch russische Soldaten aus Tschetschenien geflohen. In Tschetschenien stellte sich 2001 die Lage wie folgt dar: Im Oktober 1999 brachen erneut bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen russischen Streitkräften, Verbänden des Innenministeriums und den nach Unabhängigkeit der russischen Teilrepublik Tschetschenien strebenden bewaffneten Gruppen aus. Die russische Seite setzte in großem Umfang Bodentruppen, Artillerie und Luftstreitkräfte ein. Der massive großflächige Kriegseinsatz wurde durch einen mit großer Härte geführten Partisanenkrieg abgelöst, durch den vor allem die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen wird. Die tschetschenische Seite führte weiterhin landesweit Feuerüberfälle, sowie Minen- und Bombenattentate gegen föderale Einrichtungen und mit der russischen Seite kooperierende Tschetschenen durch (Auswärtiges Amt, ad-hoc-Lagebericht vom 24.04.2001, Az.: 514-516.80/3 RUS). Bei dem Militäreinsatz, den die russischen Truppen hiergegen führen, berichten russische und internationale Menschenrechtsorganisationen und -gruppen über massive Menschenrechtsverletzungen durch die russischen Streitkräfte. Sie gehen mit zum Teil massivem Gewalteinsatz vor.

Hinzu kommt, dass die russischen Behörden gegen Menschenrechtsverletzungen aus den eigenen Reihen nicht oder allenfalls in geringem Umfang nachgingen, sodass die Opfer den Soldaten schutzlos ausgeliefert waren (vgl. dpa-Meldung vom 25. Januar 2001 "Europarat: Menschenrechtslage in Tschetschenien kaum besser"; Neue Zürcher Zeitung vom 23. Mai 2001, "Ahndung der Gräueltaten in Tschetschenien"; dpa-Meldung vom 27. Juni 2001, "Europarat kritisiert russisches Vorgehen in Tschetschenien"). Es ist daher davon auszugehen, dass es im Hinblick auf die dargestellte Lage allein Glück oder Zufall zu verdanken ist, dass dem Kläger vor seiner Ausreise nicht mehr passiert ist.

Der Kläger musste zudem befürchten, wegen der von ihm verübten Unterstützung tschetschenischer Rebellen erneut verhaftet und misshandelt zu werden. Der Kläger hat überzeugend dargelegt, dass die russischen Streitkräfte sich trotz der nach dem ersten Tschetschenienkrieg verkündeten Amnestie für die Teilnehmer des Bürgerkrieges offenbar darum bemühen, der ehemaligen Kämpfer habhaft zu werden.

Der Kläger hat auch keine inländische Fluchtalternative - wie die Beklagte meint -, weder im Zeitpunkt seiner Ausreise noch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung. Dem Kläger stand zum Zeitpunkt seiner Ausreise keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.

Im vorliegenden Fall sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass der russische Staat dem Kläger in anderen Landesteilen Schutz gewährt hätte.

Aber auch wenn man von dem besonderen Risiko für den Kläger wegen seiner Beteiligung an dem Kriegsgeschehen absieht, bestand für ihn in der russischen Föderation keine inländische Fluchtalternative. Auch der Einzelentscheider benennt in dem angefochtenen Bescheid konkret keine Regionen, in die der Kläger hätte Zuflucht nehmen können. Er äußert vielmehr pauschal, es sei den Flüchtlingen zumutbar, in den wirtschaftlich weniger interessanten Regionen Zuflucht zu nehmen, ohne im Hinblick auf die oben zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Ausnahmen konkret zu benennen, anhand derer auf eine inländische Fluchtalternative hätte geschlossen werden können. Nach der hier vorliegenden Auskunftslage gab es im Sommer 2001 jedoch keine Regionen in Russland, die bereit oder in der Lage gewesen wären, tschetschenische Flüchtlinge aufzunehmen und die ihnen Schutz geboten hätten.

Da der Kläger vorverfolgt ausgereist ist, kann ihm die Rückkehr in die Russische Föderation nur zugemutet werden, wenn eine erneute politische Verfolgung mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist. Das ist nicht der Fall. Es kann nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass der Kläger Übergriffe abwehren und körperlichen Eingriffen in Leib oder Leben entgehen kann. Dies gilt nicht nur für Tschetschenien selbst, sondern auch für das gesamte Gebiet der Russischen Föderation.

In Tschetschenien selbst stellt sich die Situation heute ähnlich wie im Zeitpunkt der Flucht dar. Eine Änderung hin zum Frieden oder ein Abflauen der Kämpfe ist nicht eingetreten (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. November 2002 - Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien)).

Dem Kläger steht auch heute bei einer Rückkehr keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Die Verhältnisse haben sich seit dem Sommer 2001, für den dies bereits festgestellt wurde, nicht wesentlich geändert. Auf Grund von Berichten der Menschenrechtsorganisationen muss weiterhin davon ausgegangen werden, dass in Moskau und anderen Teil der Russischen Föderation Tschetschenen willkürlich festgenommen, gefoltert und misshandelt werden.

Die erst mit Wirkung vom 1. Januar 2002 in Kraft getretene (vgl. Art. 22 Abs. 1 des Terrorismusbekämpfungsgesetzes) Ergänzung des § 51 Abs. 3 AuslG um Satz 2 findet vorliegend Anwendung. Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist in Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen.

Dabei kann dahinstehen, ob die Teilnahme an einem Bürgerkrieg, wie ihn der erste Tschetschenienkrieg darstellt, unter diese Vorschriften fällt. Auch muss nicht entschieden werden, ob nicht schon die von der Russischen Föderation in diesem Zusammenhang gewährten Amnestien (Amnestieverordnung vom 12. März 1997 und Folgeverordnungen) für tschetschenische Kämpfer einer Anwendung der Vorschrift des § 51 Abs. 3 Satz 2 AuslG ausschließen. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger als einfacher Kämpfer im ersten Krieg nicht unter die in diesem Zusammenhang verkündeten Amnestien der Russischen Föderation fallen würde, liegen nicht vor. Es besteht kein völkerrechtlicher Anlass, die Taten des Klägers im Rahmen des ersten Bürgerkrieges bei der Entscheidung über seine Aufnahme als Flüchtling strenger zu beurteilen als die durch die Taten betroffene Nation.

Ebenso kann dahinstehen, ob der Kläger durch seine Teilnahme an dem zweiten Tschetschenienkrieg, in dem er offenbar wegen der im ersten Krieg erlittenen Verletzungen nur als Fahrer eingesetzt wurde, die Ausschlusstatbestände des § 51 Abs. 3 Satz 2, 2. und 3. Alternative erfüllt. Zwar sieht die Russische Föderation die tschetschenischen Kämpfer als Terroristen an, wobei sie andererseits das eigene Engagement ungeachtet der planmäßig vorgenommen Menschenrechtsverletzungen durch russische Behörden und Armeeangehörige keiner rechtlichen Würdigung unterzieht. Wertet man die Tätigkeiten tschetschenischer Truppen hingegen als Bürgerkriegshandlungen in einem inzwischen keiner geordneten Staatsmacht mehr unterliegenden Raum, könnte ein strafbarer Terrorismus wohl nur angenommen werden, wenn kriegerische Handlungen in den noch nicht mit dem Krieg überzogenen Gebieten Russlands vorgenommen werden (vgl. zu den Voraussetzungen der Ausschlusstatbestände des § 51 Abs. 3 Satz 2, 2. und 3. Alternative: OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 6. Dezember 2002 - 10 A 10089/02 -, JURIS-Dokument Nr. MWRE 105980300).

Selbst wenn man aber davon ausginge, dass das Engagement des Klägers im Tschetschenienkrieg unter die Ausschlusstatbestände des § 53 Abs. 3 Satz 2, 2. und 3. Alt. fiele, vermöchte dies noch nicht die Ausschlusswirkung dieser Tatbestände auszulösen.